Read the book: «Die Welten des Jörg Weigand», page 4

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Vater der Zukunft (1980)
Vorbemerkung des Herausgebers

Vieles aus der frühzivilisatorischen Geschichte der Menschheit, insbesondere vor Einführung der neuen Datierung (n. D.) im Gefolge der Gründung des »Verbundes Besiedelter Welten« vor nunmehr fast 1079 Jahren, liegt im Dunkeln. Zahlreiche Unterlagen: Dokumente, Register, Statistiken, Filme und Fotos sind selbst aus den zentralen Archiven verschwunden, in den Kriegswirren während der Einigungsbestrebungen zerstört oder durch Unachtsamkeit dem Verderb anheimgegeben worden. Dies ist bekannt und oftmals nicht nur in wissenschaftlichen Fachblättern wie der »Neuen Historiographischen Zeitschrift« oder der »Acta Omnium Planetarum Historica«, sondern auch in populären Journalen und Tageszeitungen beklagt worden.

Im Gesamtzusammenhang der uns berührenden Geschichte ist es freilich ebenso wichtig, aus der Frühzeit der Fremdrassen, auf die menschlicher Forschungsgeist bisher gestoßen ist, nähere Kenntnisse zu erlangen. Der Weg dahin erweist sich in der Regel als noch schwieriger als das Aufspüren von Einzelheiten der frühen Menschheitshistorie, deren Probleme gerade kurz angerissen wurden.

Zahlreiche Fremdrassen nämlich halten es geradezu für ihre Pflicht, dem Menschen selbst grobe Züge der Entstehung ihrer Kultur oder ihres Staatswesens vorzuenthalten. Uneinsichtigkeit, Ignoranz oder ganz einfach sture Abwehrhaltung erschweren derartige Forschung ungemein. Umso betrüblicher muss daher die Tatsache bewertet werden, dass Dokumente über die Entwicklung auf anderen Welten uns nach Erhalt wieder verloren gehen. Erfreulich aber auch, wenn eine glückliche Fügung solche Unterlagen wieder verfügbar macht.

Eine solche Wiederentdeckung ist dem Unterzeichner dieser Vorbemerkung bei der Durchsicht abgelegter, zur Verbrennung bestimmter Akten gelungen. Wie die wichtigen Unterlagen zwischen die vergilbten Verwaltungsanordnungen gelangen konnten, ist unbekannt. Das wiedergefundene Dokument, einschließlich Begleitpapier, soll hier mit vollem entzifferbaren Wortlaut abgedruckt werden.

Bei der geschichtlichen Quelle handelt es sich um ein Fragment der Stammesgeschichte einer intelligenten Spezies, die sich selbst »Maa« nannte. Die Papiere – es handelt sich um fünf handbeschriebene Blätter in der Rundbogenschrift der Maa, die teils stark verblichen sind – sowie deren Übersetzung wurden im Jahre 723 n. D. von dem Xenobiologen Heribert Polachewski an das damalige Zentralarchiv von Terra-City gesandt. Polachewski stand, wie in den Personalstammakten jener Zeit nachzulesen, in den Jahren 718 bis 731 im Dienst der irdischen Explorerflotte. Über die Art seiner Dienstverpflichtung, seinen Dienstgrad sowie sein weiteres Verbleiben nach 731 konnte nichts Genaueres in Erfahrung gebracht werden.

Das Dokument der Maa besteht aus zwei Teilen, die sicherlich im Zusammenhang stehen und das gleiche Ereignis – wenn auch zeitlich verschoben – beschreiben. Polachewski hat mit der Eingabe der Dokumentenblätter und deren Übersetzung zugleich in einem Begleitschreiben die Umstände der Auffindung aufgezeigt, darüber hinaus einige notwendige Anmerkungen zum Planeten Maa-do und zur Rasse der Maa gegeben.

Im Folgenden soll zunächst dieses Begleitschreiben Polachewskis vorgelegt werden, da erst nach dessen Lektüre einige Einzelheiten des Maa-Dokuments begreiflich erscheinen. Danach folgen die beiden Teile des Dokuments in der Übersetzung Polachewskis, die der Schreiber dieser Zeilen nur an einigen wenigen Stellen stilistisch etwas geglättet und modernisiert hat. In einer abschließenden Bemerkung sollen dann noch die kargen Ergebnisse eigener Recherchen über den heutigen Stand auf Maa-do aufgezeigt werden.

Eine Einordnung in den geschichtlichen Gesamtzusammenhang ist auf Grund dieser doch sehr spärlichen Unterlagen selbstverständlich nicht möglich, doch kann vorsichtig formuliert werden, dass das Maa-Dokument trotz aller Vorbehalte bereits wertvolle Einblicke in die psychologische Konstitution einer Fremdrasse gewährt. Bleibt zu hoffen, dass eventuelle weitere Funde, so unwahrscheinlich sie im Augenblick auch erscheinen mögen, hier irgendwann für zusätzliche Aufhellung sorgen werden.

Lund Samwall, Oberarchivar

Zentralstelle für Dokumentation von Fremdrassen

Terra-City, 19. Tag im 3. Monat d. J. 1078 n. D.

Polachewskis Begleitbrief

Maa-do, im siebenten Monat d. J. 723 n. D.

An Zentralarchiv

Dokumentation Fremdrassen

Terra-City, VBW

In Erfüllung von § 5 meines Arbeitsvertrages mit der Explorerflotte, der mir das Sammeln von Dokumenten über Fremdrassen und deren Weitergabe an das Zentralarchiv zur Aufgabe macht, reiche ich in Anlage die Fragmente eines Berichtes ein, der auf dem Planeten Maa-do (d. i. »Welt der Maa«) entstanden ist.

Maa-do ist der fünfte Planet der Sonne Mi-ra (d. i. »Gott des Lichts«), etwa 860 Lichtjahre von unserem eigenen Sonnensystem entfernt. Vor rund zwei Jahrzehnten erkundete ein Scoutschiff der Explorerflotte zum ersten Mal das Mi-ra-System und katalogisierte in groben Zügen den fünften Planeten, der sich als einziger als bewohnbar und bewohnt erwies. Vor zwei Jahren wurde ich als Xenobiologe auf Maa-do abgesetzt, um mittels einer Feldstudie das Verhalten der Eingeborenen, der Maa (d. i. »Geschöpfe«), zu untersuchen.

Die Maa gehören zu den Hominiden; sie messen zwischen 90 und 120 Zentimetern Körpergröße, gehen aufrecht und haben sechs Finger an jeder Hand und sechs Zehen an den Füßen. Sie verfügen über unwesentlich mehr Haarwuchs als wir Menschen. Die Sprache der Maa ist reich an Worteinheiten und erinnert in der Sprachstruktur ein wenig an das irdische klassische Chinesisch, das heißt, die Sprache kennt so gut wie keine Grammatik; lediglich über die Syntax wird dem einzelnen Wort der genaue Bedeutungsinhalt und seine Funktion im Satzzusammenhang zugewiesen.

Maa-do, der Planet, besitzt eine Achsneigung ähnlich Terra, der breite Mittelgürtel quer zur Polachse verfügt durchschnittlich über ein fast mediterranes Klima; gegen die beiden Pole hin allerdings nimmt die Wärme rasch ab bis hin zu erbitterter, ewiger Kälte. Die Maa, einzige intelligente Spezies dieser Welt, leben in jenem Mittelstreifen. Technische Errungenschaften sind ihnen fremd, selbst das Rad ist noch nicht erfunden. Dennoch verfügen sie über eine – auf mehr geistiger Ebene basierende – Zivilisation. Sie führen ein ruhiges Leben als Bauern und sporadische Jäger.

Dieses eben Geschriebene basiert weitgehend auf Vermutungen bzw. auf den Beobachtungen einer einzigen Großfamilie von genau siebzehn Individuen. Es ist mir in den zwei Jahren meines Aufenthalts auf Maa-do nicht gelungen, weitere Maa-Leute aufzustöbern, obwohl ich mit dem Schweber weite Vorstöße in alle Himmelsrichtungen unternommen habe.

Die Maa leben dem Jahresrhythmus angepasst, der ihnen drei Ernten schenkt. Nahrungsmangel scheint demnach nicht die auslösende Ursache für die gravierende Dezimierung an Individuen zu sein. Ich vermute, dass das beigelegte Dokument dem Kundigen einen Schlüssel zum Verständnis des Maa-Schicksals bietet.

Ich erhielt die fünf Blätter während einer der drei jährlichen Erntedankfeste, die dem Gott Mi-ra, also der Sonne dieses Planeten, gelten. Zuvor schon hatte ich ab und an vom »Vater der Zukunft« gehört, wenn ich bei abendlichen Gesprächen oder auch während der täglichen Feldarbeit versuchte, Einzelheiten der Vergangenheit zu ergründen. Der »Vater der Zukunft« scheint im Denken der Maa, zumindest aber dieser Großfamilie, eine tragende Rolle zu spielen. Einzelheiten aus dem Dokument, das die Flucht in den Norden anlässlich einer Seuche beschreibt, vermögen Aufschlüsse über den Mann zu geben, der später mit dem Ehrennamen »Vater der Zukunft« bedacht wurde.

Die fünf Blätter des Dokuments, in der Rundbogenschrift der Maa abgefasst, sind vor und während des Marsches in den Norden beschrieben worden. Der Mittelteil des Berichts fehlt leider, er scheint verloren gegangen zu sein. Wenigstens förderte eine auf meinen Wunsch durchgeführte Suche keine weiteren Blätter zutage.

Die dem Maa-Dokument beigegebene Übersetzung habe ich zusammen mit meinem alten Freund Lu-a, dem Oberhaupt der Großfamilie, angefertigt. In strittigen Fragen habe ich seinen Anregungen und Interpretationen Folge geleistet. Im Übrigen wurde darauf geachtet, den Inhalt der Papiere mit der gebührenden Sorgfalt wiederzugeben.

In Erwartung des Schiffes, das mich ins Plaje-System zu einem neuen Einsatz befördern soll,

Heribert Polachewski

Das Maa-Dokument, erster Teil

»… schlechte Kunde aus allen Himmelsrichtungen: Es scheint, als sei die Rote Seuche wieder ausgebrochen. Die Stammesältesten haben sich bereits gestern zu einer Beratung zurückgezogen, die – wie üblich – mehrere Tage beanspruchen wird. Bo-o, unser noch junger Anführer, wird sich bei diesen Beratungen zum ersten Mal richtig bewähren müssen. Wer aber kann sagen, was wird, wenn die Rote Seuche nicht zum Stillstand kommt?

(Einige Zeilen im Original nicht mehr zu entziffern. H. P.)

Wir opfern jeden Tag mehrmals; Mi-ra möge uns gnädiger gestimmt werden! Seit Tagen regnet es, die Ernte verfault auf den Feldern. Unser Gott zürnt mit seinem Volk. Die Weise Urfrau möge uns helfen, einen Weg zur Besänftigung des zürnenden Mi-ra zu finden.

Die Ältesten haben ihre Beratungen beendet. Bo-o konnte sich mit seinem Vorschlag nicht durchsetzen. Seine Idee war, vor der Roten Seuche nach Norden auszuweichen. Er verweist auf die Heilige Überlieferung, die davon spricht, dass in den Nordgebieten das Heilmittel zu finden sei, falls einmal die Große Krankheit ausbrechen sollte. Doch weiß man, ob mit dem Begriff ›Große Krankheit‹ die Rote Seuche gemeint ist? Darauf hat Ta-u, der Rivale Bo-os nicht nur im Rat der Stammesältesten, sondern auch um die Gunst von Ba-i, der Tochter von Sa-a, dem Breitkornanbauer, zu Recht hingewiesen. Die Heilige Überlieferung sei nur eine Sage, und im hohen Norden gebe es keine Möglichkeit zu überleben. Ich warte, dass … (Unleserlich. H. P.)

Sa-a ist gerade aus dem Nachbardorf gekommen. Dort sind alle tot. Sa-a hat geschworen, dass er nichts und niemanden berührt hat, aber alle hier haben Angst. Wir haben ihn gezwungen, wegzugehen. Ba-i, seine schöne Tochter; hat sich ihm angeschlossen, nachdem es ihr nicht gelungen war, das Dorf umzustimmen. In der Angst waren sich alle einig. Am ärgsten hat sich Ta-u, der immer um Ba-is Gunst buhlte, gegen das Verbleiben ihres Vaters im Dorf ausgesprochen.

Doch vielleicht ist es schon zu spät, und Sa-a hat die Ansteckung bereits eingeschleppt. Möglicherweise hat Bo-o mit seinem Vorschlag doch recht, auf jeden Fall wird sich der Rat der Ältesten noch einmal damit befassen.

Seit gut zehn Wochen sind wir auf der Wanderung. Bo-o führt uns in die Gebiete des Nordens, nachdem der Ältestenrat nach nur eintägiger Beratung beschlossen hat, seinem Vorschlag zu folgen. In den letzten Wochen war wenig Gelegenheit auszuruhen, daher musste diese Niederschrift warten. Heute haben wir eine etwas längere Rast eingelegt, denn wir haben die ersten Ausfälle. Für viele Maa sind die Anstrengungen zu groß, sie bleiben zurück, denn tragen können wir sie nicht. Wir haben die Rote Seuche hinter uns gelassen, doch die Angst begleitet uns und treibt uns weiter vorwärts.

Es ist kalt geworden. Wir haben festgestellt, dass wir nicht genügend Kleidung mitgenommen haben, um uns zu wärmen. Wir Männer sind da noch in einer besseren Lage, wir sorgen uns um die Jagd und sind daher immer in angestrengter Bewegung, doch Frauen und Kinder leiden stark an der Kälte.

Auch Bo-o weiß keinen Ausweg; so weit im Norden war noch keiner von uns. Ta-u triumphiert wieder einmal. Zwar hatte er sich bei der letzten Ratssitzung der Stammesältesten nicht durchsetzen können, doch nun scheint es, als behielte er recht.

Die Nahrung wird immer knapper, das wilde Breitkorn ist kaum noch zu finden. Wovon sollen unsere Frauen in Zukunft die Fladen zubereiten? Doch schlimmer noch: Auch mit der Jagd geht es nicht mehr wie zu Beginn. Seit Tagen haben wir keinen Wa-bo (d. i. eine Art Springbock, das Hauptjagdtier der Maa. H. P.) mehr erlegen können. Wir leben von den Vorräten, doch wir brauchen dringend frische Nahrung …«

Das Maa-Dokument, Zweiter Teil

»… haben sie Ta-u entseelt gebracht. Er ist in eine Felsspalte eingebrochen und tief gestürzt.

Ich weiß nicht, wie lange wir uns schon wieder gegen Süden schleppen. Es gibt Stimmen unter uns, die meinen, es wäre besser gewesen, im Norden umzukommen. Doch Bo-o treibt uns vorwärts. Es ist erstaunlich: Freimütig gibt unser Anführer zu, dass er sich geirrt hat, was die Überlebensmöglichkeiten hier im Norden angeht. Doch Ta-us Triumph hat nicht lange gedauert, nun ist er tot. Bo-o dagegen ergeht sich in Andeutungen; immer wieder betont er, im Süden warte die eigentliche Entscheidung auf uns, wichtiger als alles, was der Stamm bisher durchgemacht hat. Bo-o hat wieder einmal eine Idee, doch noch will er nichts davon verraten.

Wir sind nur noch insgesamt sechsundzwanzig Männer, Frauen und Kinder. Allmählich nähern wir uns wieder fruchtbaren Gefilden. Gestern gelang es unseren Jägern zum ersten Mal seit vielen Wochen, einen Wa-bo zu erlegen. Groß war die Freude, wir haben haltgemacht, um neue Kräfte zu sammeln. Das gibt Gelegenheit, diese Aufzeichnungen zu vervollständigen.

Es scheint, wir haben den kalten Norden überlebt, nur um hier auf den fruchtbaren Äckern unseres Heimatdorfes zu sterben. Es ist Bo-os Idee.

Kaum näherten wir uns wieder bekannten Tälern und Hügeln, da wuchs die Angst in uns vor der Roten Seuche. Je mehr Tage wir wieder zu Hause waren, umso größer wurde diese Angst. Apathisch saßen wir alle herum und warteten, dass die Krankheit uns packte. Es war Erntezeit, doch keiner dachte daran, die Früchte einzubringen oder für Mi-ra das Dankfest zu feiern.

Da trat Bo-o mit jenem Vorschlag unter uns, der uns entsetzte, der aber gleichzeitig uns allen in der Tat der einzige Ausweg zu sein scheint. Bo-o schlug vor, wir sollten uns freiwillig mit der Roten Seuche infizieren, denn ein solches Leben in Angst sei in Wahrheit kein Leben mehr. Und nur der könne in Zukunft ohne Furcht weiterleben, der die Krankheit überwunden habe. Was schade es, wenn ein großer Teil des Stammes an der Seuche sterbe, wenn nur einige wenige als Immune die Krankheit überlebten. Bo-o hat uns klar gemacht, dass auf diese Weise das Volk der Maa wieder eine Zukunft haben werde.

Und Bo-o hat recht. Denn schon mehren sich bei den restlichen Angehörigen des Stammes die Anzeichen des Wahnsinns, eines Wahnsinns, der seine Wurzeln in der erdrückenden Angst hat, die auf allen lastet. Natürlich gab es zuerst gegen Bo-os Idee Widerspruch, doch die meisten haben die Berechtigung seines Vorschlags rasch eingesehen. Die wenigen noch Entschlusskräftigen haben die Initiative ergriffen, morgen schicken wir drei unserer kräftigsten Jäger in die Nachbardörfer, um die Krankheit in unser Dorf zu schaffen …«

(Hier beginnt das letzte Blatt, in einer anderen Handschrift abgefasst. Hier wie auch auf den Blättern zuvor ist nicht vermerkt, wer diese chronikartigen Aufzeichnungen verfasst hat. H. P.)

»Bo-o ist tot. Heute Morgen erlag er der Roten Seuche. Zuletzt war sein Antlitz ganz mit jenen grässlichen Beulen übersät, die das Fleisch aushöhlen und zum Zusammenbruch führen. Bo-o starb, ein Lächeln auf den Lippen. Denn kurz zuvor haben wir ihn mit dem Ehrennamen ›Vater der Zukunft‹ geschmückt.

Es ist nicht nur so, dass er uns eine neue Verheißung geschenkt hat, Bo-os Voraussage ist eingetroffen: Zwei unter uns, Nu-o der Starke und De-a die Üppige, sind offensichtlich unempfindlich gegenüber der schrecklichen Krankheit. Beide machen sich zum Aufbruch fertig. Lange kann es nicht mehr dauern, bis auch der Letzte von uns Kranken tot ist. Auch ich spüre bereits die Kälte in meinem Blut, kaum vermögen meine Finger den Stift zu halten.

Nu-o und De-a mögen lange leben und ihre Nachkommenschaft ohne Furcht vor der Roten Seuche aufwachsen.

Gesegnet sei Bo-o, der ›Vater der Zukunft‹.«

Schlussbemerkung

Soweit die Dokumente, die ein glücklicher Zufall wieder der Wissenschaft zugänglich machte. So dürftig diese Unterlagen sind, sie ermöglichen dennoch einige Einblicke in die Psyche einer Rasse, über die keine Annalen weitere Informationen enthalten. Auch die eigentlichen Berichte des Xenobiologen Heribert Polachewski, die er alle drei Monate abzuliefern hatte, sind nicht mehr auffindbar.

Dass wir über jene wenigen Informationen verfügen, ist umso wichtiger, als eigene Recherchen des Herausgebers dieser Papiere ergeben haben, dass die Prophezeiung jenes Stammesführers mit Namen Bo-o, den die sterbenden Maa zum »Vater der Zukunft« ernannten, sich nicht erfüllt hat. Der Planet Maa-do ist entvölkert, von den Maa ist nichts mehr aufzufinden außer einigen Überresten ihrer nicht weit fortgeschrittenen Zivilisation.

Die Ursachen für das endgültige Aussterben dieser Rasse sind unbekannt. Mag sein, dass die Nachkommen der beiden ursprünglich Resistenten dann doch nicht gegen die Rote Seuche immun waren. Ebenso möglich ist, dass Auswirkungen des Inzestes zur Degeneration und damit zum Aussterben führten; ein einziges Paar ist eben doch eine allzu schmale Basis für die Gründung einer neuen Volksgemeinschaft. Es kann aber natürlich auch noch andere Gründe für das Aussterben der Maa geben; diese sind uns jedoch unbekannt.

Objekt der Verehrung (1981)

Als sich die Abenddämmerung allmählich über die ausgedörrte Steppe senkte, begannen die Schakale zu heulen und die Frauen des Stammes stampften die letzten Körner für den Fladenteig. Zwei erfahrene Jäger erhoben sich aus der kauernden Runde, die der vorzeremoniellen Meditation gewidmet war, und begaben sich auf Posten für die erste Wache. Um die Mitte der Nacht, wenn der Mond sich über den Berg der Blitze erhob, würden sie von zwei anderen Stammesangehörigen abgelöst werden.

Tarak, der Jungjäger, war für diese Nacht von der turnusmäßigen Wache befreit. Als Jüngster im Mannesalter, er zählte gerade sechzehn Sommer, wurde er zwar öfter als die Alterfahrenen zu Diensten und Pflichten herangezogen, doch hatte die Erfahrung den Stamm gelehrt, dass man selbst die Zähesten und Ausdauerndsten unter den Jungen nicht unbegrenzt belasten konnte. So waren auch Tarak fünf von zehn Nächten zum unbegrenzten Schlaf gestattet worden.

Tarak reckte seine breiten Schultern, griff hinter sich zum abgelegten Bogen und dem Köcher und erhob sich aus der gebückten Haltung. Bis zur Zeremonie war noch ein wenig Zeit. Seine Augen suchten Malia, die vierzehn Sommer zählte; ihre tiefbraunen, glutigen Augen und ihr schlanker Körper hatten es ihm angetan. Nach den Regeln des Stammes galt zwar die Verbindung von Mann und Frau innerhalb der Stammeseinheit als nicht erwünscht, doch handelte es sich dabei nicht um ein direktes Tabu – sodass Tarak fest entschlossen war, Malia nach allen Kräften zu umwerben, um sie im nächsten Sommer, wenn sie das heiratsfähige Alter erreichen würde, in seine Hütte zu führen.

Der Stamm der Hundskrieger lagerte seit Generationen am Rande der großen Ebene, die auch jetzt noch – nach so langer Zeit – von den Narben der Großen Katastrophe gezeichnet war. Diese Steppe dehnte sich über den ganzen nördlichen Teil Elopas aus; tundraartiger Bewuchs sorgte für nur wenig Abwechslung. Dennoch: die Steppe gab ihnen Nahrung, und in den Randgebieten gegen Süden hin ließ sich sogar während der Trockenzeit noch etwas Wasser finden. Und der hochstämmige Wald auf den Hängen der Berge, die den Südwesten der Ebene einfassten, bot den idealen Standort für die Behausungen der Hundskrieger.

Malia bewohnte mit ihren Eltern und sechs wesentlich jüngeren Geschwistern eine der größeren Laubhütten. Als noch Unberührbare durfte sie bei der allabendlichen Zeremonie natürlich nicht dabei sein; ebenso wenig war es ihr gestattet, der vorzeremoniellen Meditation beizuwohnen. Und da außerdem der Abend nun rasch kam, war Tarak sicher, das Mädchen in oder bei der elterlichen Behausung anzutreffen.

Betont unauffällig schlenderte der Jungjäger, den Federschmuck des ersten Jahres keck aus der Stirn geschoben und den Bogen geschultert, vom Feuer weg; den Köcher mit den langfiedrigen Giftpfeilen schleifte er lässig hinter sich her. Noch wollte er sein Interesse nicht zu deutlich zeigen; denn auch andere Jungjäger hatten Malias Liebreiz entdeckt. Tarak wollte weder Unghu noch Peta allzu früh darauf aufmerksam machen, dass er, Tarak, sich um die Tochter von Nabar, dem Bärentöter, bemühte.

Nach der Meditation musste Bernar, der vom Großen Rat der Stämme in der Elopa-Steppe eingesetzte Oberpriester, mit der Vorbereitung der Zeremonie beginnen. Die Regeln schrieben vor, dass der Ritus noch vor der Einnahme der abendlichen Mahlzeit, des einzigen gemeinsamen Essens am gesamten Tage, ausgeübt werden musste. Bernar seufzte. Es waren immer die gleichen Vorbereitungen zu treffen, die Handgriffe waren ewig dieselben, und ob der Große R dadurch gnädiger gestimmt würde und dadurch das verheißene glorreiche Zeitalter der Technik wiederkommen würde – der Oberpriester zuckte insgeheim mit den Achseln, erschrak aber gleichzeitig vor seiner eigenen Reaktion und seinen blasphemischen Gedanken.

Es durfte kein Zweifel aufkommen, dass der Große R gelebt hatte! Denn so stand es geschrieben. Und auch, dass er, zusammen mit seinen treuesten Jüngern und Chronisten, die Unsterblichkeit erlangt hatte.

Nie durfte er, der Oberpriester Bernar, am Wahrheitsgehalt der Hoffnung auf Wiederkehr des Großen R zweifeln! Und beschlichen ihn doch Zweifel, dann musste er sie gut verbergen, denn bei den Stammesangehörigen der Hundskrieger, wie bei den Angehörigen der übrigen Stämme in der Elopa-Steppe, musste der Glaube fest sein wie gewachsener Fels. Und dafür wollte er immer sorgen.

Und wehe, es wagte einer, gegen den Kult zu lästern, wie vor wenigen Sommern der Jungjäger Jew. Er hatte doch wirklich die Frechheit besessen, zu behaupten, möglicherweise habe der Große R – gelobt sei sein Name, der nur auf dem heiligen Artefakt gelesen, aber nie ausgesprochen werden durfte, und gepriesen seine fünf Chronisten – gar nie gelebt; die Zeremonie sei daher ohne Wert. Bernars ganzer Zorn hatte Jew getroffen, und er hatte den Jungjäger mit einem harten Bann belegt, sodass in der Folge niemand unter den Stammesangehörigen es wagte, ihn mit Nahrung oder Kleidung zu versorgen, ihm Unterschlupf zu gewähren oder auch nur das Wort an ihn zu richten.

Ja, so wacker verteidigte der Oberpriester Bernar seinen Gott, den Großen R, denn dass die Stammesangehörigen bereit waren, ihn jeden Tag aufs Neue mit allem Lebensnotwendigen zu versorgen, war abhängig davon, dass er ihnen den rechten Glauben erhielt und ihnen das »Objekt der Verehrung« präsentierte.

Das »Objekt der Verehrung«!

Bernar schlug sich an den Kopf. Er musste sich beeilen, die Zeremonie würde sogleich beginnen.

Schweißperlen auf der Stirn und der Nasenspitze, eilte der Oberpriester, so schnell ihn seine Füße trugen, zur Hütte der Verehrung, in der das Heiligste aufbewahrt wurde.

Und mit aller gebotenen Sorgfalt machte er sich daran, die Schachtel aus Eichenrinde mit dem wertvollen Inhalt, der den Hundskriegern vom Großen Rat der Stämme zugeteilt worden war, vor der Hütte aufzubauen.

Aus den anderen Hütten näherten sich schon die erwachsenen Männer und Frauen des Stammes. Alle machten feierliche, erwartungsvolle Gesichter.

»Von meinem nächsten erlegten Bock bringe ich dir eine Keule.« Mit diesem Versprechen trennte sich Tarak, der Jungjäger, von Malia. Gleich begann die Zeremonie. Bernar, der Oberpriester, wurde rasch unwirsch, wenn ein Angehöriger des Stammes zur abendlichen Kulthandlung zu spät kam. Entschuldigt waren nur die Jäger, die auf einem ausgedehnten Streifzug nach Wild außerhalb der Ansammlung von Hütten übernachten mussten.

Tarak beeilte sich, vor die Hütte der Verehrung zu gelangen, wo Bernar das »Objekt der Verehrung« bereits auf einem Gestell aus Weidenschößlingen zur Schau stellte, sodass auch alle es sehen konnten.

Als alle Angehörigen des Stammes der Hundskrieger, die berechtigt waren, an der Zeremonie teilzunehmen, versammelt waren, begann der Oberpriester mit der Kulthandlung.

»Großer R, wir danken dir!« Bernar rezitierte diese Eingangsworte mit erhobener Stimme.

»Wir danken dir für alles, worauf wir noch hoffen dürfen«, antwortete der Stamm im Chor.

»Ewiglebender Einiger der Menschheit, du wachst über uns mit deinen Jüngern und Chronisten.« Das war Bernar.

Und die Gemeinde: »Chronisten des Großen R, mit Namen Khascher, Cladatn, Kutma, Weweh und Kubran gerufen, nehmt euch des Stammes der Hundskrieger an.«

Und wieder Bernar: »Du bist der Erbe des Universums, wir warten auf dich!«

»Einige die Stämme der Steppe in Elopa, so wie du die Völker des Alls geeinigt hast, auf dass wir aufs Neue erobern fremde Welten.«

Deutlich konnte Tarak aus dem Chor die Stimme von Unghu, seinem möglichen Rivalen bei Malia, heraushören. Als er hinüberblickte, rezitierte dieser offensichtlich voller Inbrunst den vorgeschriebenen Text. Tarak verzog leicht das Gesicht.

Doch schon war da wieder Bernars eindringliches Rufen:

»Großer R, dessen Namen nicht ausgesprochen werden darf, hier vor dem ›Objekt der Verehrung‹ bringen wir dir unseren Glauben dar!«

»Denn wir glauben an dich, Großer R, und an deine Wiederkunft und an die von den fünf Chronisten niedergeschriebene Geschichte deines Lebens und Wirkens.«

Wie immer bei diesen Worten fühlte Tarak Ehrfurcht in sich aufsteigen. Glaubte man den heiligen Worten, dann war die Leistung, die der Große R vollbracht hatte, wahrhaft gigantisch. Abgesehen von allem anderen, konnte es sich Tarak einfach nicht vorstellen, dass ein Mensch sich vom Erdboden erhob und zum Mond flog, jenem nächtlichen Begleiter der Erde, von dem der Oberpriester Bernar manchmal behauptete, der Große R habe dort oben immer noch eine Hütte für sich und warte nur darauf, wieder zur Erde herabzusteigen und die Stämme der großen Ebene zu einigen.

Bei solchen Gelegenheiten der gemeinsamen Anrufung vergaß Tarak leicht seine Zweifel, die ihn manchmal befielen. Wenn er während der Jagd im Wald außerhalb des Dorfes übernachten musste, dann kamen ihm wohl skeptische Gedanken. Etwa, warum es denn zu der Großen Katastrophe gekommen sein mochte, wenn der Große R doch allmächtig und allwissend und dazu noch ewig lebend war.

Schon als Kind hatte er einmal während der »kleinen Unterweisung« solche Einwände vorgebracht, war aber von Bernar mit dem Hinweis zum Schweigen gebracht worden, der Große R habe die Menschen für begangene Fehler bestraft, und wenn Tarak jetzt nicht den Mund halte, werde der Große R auch ihn bestrafen.

Und dann hatte Tarak den Mund gehalten, doch die Zweifel meldeten sich immer wieder einmal, in letzter Zeit traten sie immer öfter auf. Das ging so weit, dass Tarak inzwischen bezweifelte, in jener geheimnisvollen Schachtel aus Eichenrinde könne wirklich etwas aus der Hinterlassenschaft des Großen R stecken.

Tarak schrak auf. Die Schlussformel. Seine Augen begegneten dem wütenden Blick des Oberpriesters, der offensichtlich Taraks Geistesabwesenheit bemerkt hatte. Während er die heiligen Worte sprach, überlegte Bernar, was gegenüber dem renitenten Jungjäger zu tun sei.

Er wollte ihm noch eine Chance geben. Aber nur eine.

Nach der Zeremonie versuchte Tarak, rasch zu verschwinden. Er wollte sich einen Platz neben Malia sichern, wenn es gleich ans gemeinsame Abendessen ging. Doch Bernar hatte ihn nicht aus den Augen verloren.

»Tarak!«

Der Ruf war ein Befehl, und eine winkende Hand bedeutete ihm, dem Oberpriester zu folgen.

Die Rindenschachtel vorsichtig tragend, betrat Bernar die Hütte der Verehrung. Tarak war draußen stehen geblieben, doch der Ältere zog ihn hinein, nachdem er die Schachtel vorsichtig auf dem Tisch im Innern abgestellt hatte.

»Tarak, ich mache mir Sorgen um dich«, begann der Oberpriester.

Tarak sah ihn nur stumm an; in seinen Augen glomm Auflehnung, die trotz des schummrigen Lichts, das von einer Kiefernfackel herrührte, erkennbar war.

Bernar ließ sich nicht beirren.

»Wenn ich dich so sehe, dann muss ich an den unglücklichen Jew denken …«

Tarak durchzuckte es wie ein Stich. Nein, wie Jew wollte er nicht enden. Er dachte an Malia, dann blickte er Bernar offen an.

»Was betrübt dich, Bernar?«

»Erzähl’ mir etwas über das Objekt der Verehrung«, forderte der Oberpriester den Jungjäger auf.

»Nun …« Tarak fühlte sich überrumpelt, darauf war er gewiss nicht vorbereitet. »Jahrhunderte nach der Katastrophe fanden Jäger des Stammes der Hundskrieger in einer Höhle eine Metallkassette. Darin waren Druckschriften, die über den Großen R erzählten. Bis dahin war den Stämmen der Ebene nichts von dem Großen R bekannt gewesen. Nun wurden die Fundstücke gesichtet und schließlich auf die einzelnen Stämme verteilt. Doch bei der Verteilung kam es zum Streit; seitdem gibt es zwar noch den Großen Rat, doch der ist nur noch für die religiösen Belange zuständig. Sonst herrscht Krieg auf der Steppe.«

Bernar nickte beifällig zu Taraks Darstellung: »Einiges hast du aus der ›kleinen Unterweisung‹ richtig behalten, aber natürlich ging das mit der Auswertung und der Verteilung nicht so schnell. Darüber allein vergingen etwa zwanzig Jahre, bis sich die Weisen der Stämme über den Wahrheitsgehalt der Papiere im Klaren waren.«

Der Oberpriester zeigte auf die Schachtel: