Read the book: «Die Welten des Jörg Weigand», page 2

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Mandragora (1975)

Die Suche nach der magischen Untermauerung menschlichen Seins ist so alt wie die Menschheit selbst. Eine lange Tradition also. Doch wer diesem Drang nachgibt …

Zum wiederholten Mal hatte ich mir das rechte Knie an einem vorstehenden Felsbrocken blutig gestoßen, und mein Anzug war sicherlich auch bereits von oben bis unten voller Dreck. Da kroch ich in einer stockfinsteren Nacht auf allen vieren auf dem Erdboden herum und versuchte, diese verdammte Wurzel zu finden, die ich so dringend brauchte.

Mandragora nennt sie der Lateiner; im Volksmund kennt man sie eher unter dem Namen Alraune, ein geheimnisvolles, sehr seltenes Gewächs, das gewiss in absehbarer Zeit ausgerottet sein wird. Denn wo werden heute noch zum Tode Verurteilte gehenkt? Zwar ist noch nicht überall die Todesstrafe abgeschafft, doch dort, wo sie weiter ausgeführt wird, greift man eher zur Giftspritze oder jagt Stromstöße durch den Körper des Verurteilten; in Militärdiktaturen bevorzugen die Machthaber nach wie vor das Erschießungskommando.

Aber Hängen? Der Galgen mit seiner eindrucksvollen Silhouette gegen den grauen Morgenhimmel ist eine aussterbende Errungenschaft der menschlichen Kultur. Und mit ihr wird die Alraune aussterben; sie hat keine Überlebenschance mehr.

Denn nur an solchen Richtstätten, direkt unter dem Galgen, wächst das rare Kraut. Es heißt, die Alraune benötige kein Wasser und keinen Sonnenschein; lediglich ein wenig Sperma, das dem Gehenkten bei seinen letzten Todeszuckungen aus den Lenden tropft. Wo der Tropfen im Boden versickert, entwickelt sich noch in der gleichen Nacht die Mandragora, jene Pflanzenwurzel in Menschengestalt, die den magischen Künsten so heilig ist und für alle Alchimistenküchen des Mittelalters fast noch wichtiger war als der »Stein der Weisen«.

Es hatte sich als sehr schwierig erwiesen, in Europa einen Richtplatz zu finden, der noch genutzt wurde. Schließlich hatte mich die erfreuliche Nachricht aus dem serbischen Hochland erreicht. Dort nämlich, fernab jeder Zivilisation, hat sich der Brauch erhalten, unliebsames Gesindel nach einigen Tagen Haft ohne weitere Umstände aufzuhängen. Nach Eintreffen der Neuigkeit hatte ich mich sofort auf die Reise begeben und war auch wirklich zur rechten Zeit angelangt.

Nun kroch ich also in dieser Neumondnacht in einer mir unbekannten Gegend auf dem Boden herum und versuchte herauszubekommen, an welcher Stelle genau die Alraune aus dem Urgrund der Mutter Erde hervorschießen würde. Da Gehenkte oftmals noch ein wenig hin und her pendeln, war ein großer Radius abzusuchen.

Vom geduckten Kriechen schmerzte der Rücken, ich richtete mich auf, stieß aber sofort an die leicht schaukelnden Beine des unbekleideten Leichnams. Die alte Eiche, die zu seinem Galgen bestimmt worden war, hatte sehr niedrige Äste, sodass der Gehängte mit den Füßen fast den Erdboden berührte.

Seufzend bückte ich mich wieder, um meine beschwerliche Suche fortzusetzen. Gewisse Rituale sind nun einmal einzuhalten, will man die Zauberwurzel aufspüren; dazu gehört, dass Neumond herrschen muss und dass keinerlei künstliche Lichtquellen benutzt werden dürfen.

Ich wollte das blinde Herumtasten schon fast aufgeben, als ich mit den ausgestreckten Fingerspitzen der linken Hand an ein Büschel Blätter stieß, das mir in der Berührung irgendwie eigenartig vorkam. Vorsichtig tastete ich Blatt für Blatt ab. Richtig: Auf ihnen lagen kleine Erdkrümel. Sie waren darauf haften geblieben, als die Pflanze sich aus der feuchten Erde gebohrt hatte.

Das war sie. Mandragora!

Jetzt bedurfte es nur noch einer geringen Anstrengung, die kostbare Wurzel mit aller gebotenen Sorgfalt auszugraben. Keine der verästelten Nebenwurzeln durfte nennenswert beschädigt werden, wollte ich der Wurzel nicht einen erheblichen Teil ihrer magischen Kräfte rauben.

Der Rückweg in die bescheidene Landgaststätte, in der ich ein einfaches Zimmer bezogen hatte, war für mich eine Strecke des stillen Triumphes. Jetzt konnte ich, endlich, meine Experimente fortsetzen und, wenn alles gut ging, zu einem erfolgreichen Ende bringen.

»Jetzt bist du ein gemachter Mann«, sagte ich zu mir, denn der Fund beschäftigte mich sehr, und ich musste einfach einige Gedanken loswerden. »Du wirst in die Geschichte der Menschheit eingehen als einer der größten und mächtigsten Männer aller Völker und Zeiten. Die heutige Moderne mit all ihrer sogenannten Aufgeklärtheit – was wird sie staunen, wenn ihre Urängste, die lange verdrängten, wiederauferstehen! Denn in jedem Menschen steckt ein magischer Kern. Du kannst es ihnen zeigen, dass die Magie lebt und dass die Angst davor nicht unbegründet ist.«

So sprach ich mit mir, bis ich mit meiner Beute in meinem Zimmer war. Dort wickelte ich die Wurzel vorsichtig aus dem feuchten Tuch, in dem ich sie transportiert hatte, damit sie nicht austrocknete, und legte sie vor mich auf den Tisch. Liebevoll, ja fast zärtlich, säuberte ich sie von den letzten Erdkrumen, die ihr noch anhafteten.

Ich betrachtete sie aufmerksam, drehte und wendete sie nach allen Seiten.

Die Mandragora hatte tatsächlich große Ähnlichkeit mit einem winzigen, ungefähr acht Zentimeter großen Menschlein. Oben trug die Wurzel eine Verdickung, einem Kopf gleich; ich glaubte sogar, Augen und Mund erkennen zu können. Zwei stärkere Nebenwurzeln an den Seiten bildeten die Arme. Unten spaltete sich die Alraune, sodass auch für die Beine gesorgt war.

Total erschöpft, aber glücklich, legte ich mich schließlich aufs Bett und schlief wie ein Toter.

Am nächsten Morgen fühlte ich mich sehr schwach. Die Anstrengungen der vergangenen Nacht waren wohl etwas zu viel gewesen. Auch schien das Herumkriechen auf dem feuchten Boden meiner Gesundheit nicht gerade zuträglich gewesen zu sein; ich hatte eine heißen, fiebrigen Kopf und einen rauen Hals.

Heute, in der selbstkritischen Rückschau, ist mir klar geworden, dass ich bereits damals unter dem Einfluss der Unheilwurzel stand, aber an jenem Morgen führte ich alles lediglich auf eine Erkältung zurück. Also beschloss ich, einige Tage länger in jenem Gasthof zu bleiben und mich auszukurieren. Ein Entschluss, der sich als verhängnisvoller Irrtum herausstellen sollte.

Die Tage vergingen, und es wollte mir noch immer nicht besser gehen. Mein Zimmer verließ ich praktisch überhaupt nicht mehr, kaum dass ich mich einmal zum Fenster schleppte und aus trüben Augen in die Ferne starrte – ohne etwas zu erkennen. Das Essen und was ich sonst noch benötigte, ließ ich mir jeden Tag von den Wirtleuten oder vom Hausknecht heraufbringen.

Schließlich muss mein Verhalten den guten Leuten, die sich im Laufe der Zeit offensichtlich Sorgen zu machen begannen, seltsam vorgekommen sein, denn eines Tages wartete man gar nicht mehr ab, bis ich die Tür geöffnet hatte. Als ich heraustrat, stand das Bestellte bereits vor mir auf der Fußmatte.

Aber auch das war mir inzwischen gleichgültig geworden. Ich versank immer mehr in einer die Glieder und das Denkvermögen beschwerenden Lethargie. Mein Sorgen und Hoffen galt einzig und allein der Mandragora, die ich täglich über Stunden hinweg betrachtete. Bis – ja, bis ich eines Morgens schweißgebadet erwachte.

Ein mehrfach wiederkehrender Albtraum hatte mich gequält, in dem die Alraunwurzel zum Leben erwacht war. In einer dieser Sequenzen hatte sie sich vor mir aufgebaut und gesagt:

»Du bist mein Meister, denn du hast mich aus dem Gefängnis der Erde befreit. Ich will getreulich meine Aufgabe erfüllen, die mir gestellt ist.« Und später, als ich immer wieder ungläubig und nicht verstehend den Kopf geschüttelt hatte, war sie in ihrer Rede fortgefahren.

»Es ist schon lange in Vergessenheit geraten, dass wir Wurzelwesen den Geist dessen übernehmen, aus dessen Todesschweiß wir entstanden sind. Der Gehenkte an der Eiche, unter der du mich nächtens ausgegraben hast, war ein Mörder. Und eben das wird meine Aufgabe sein: Ich muss dich töten, so wie jener getötet hat. Denn du bist zwar mein Meister, weil du mich der Erde entrissen hast, doch Macht über mich besitzt du nicht.« Und damit war die Wurzel an mir hochgesprungen und hatte versucht, mir in den Hals zu beißen.

Ich war aus dem Traum hochgeschreckt und hatte nach dem Licht getastet. Unter dem hellen Kegel der Lampe konnte ich mich sicher fühlen. Was für ein Unsinn auch, dieser Traum! Die Mandragora lag auf dem Tisch, wo sie hinge …

Halt doch! Wo war sie? Ich sprang aus dem Bett, die Wurzel war verschwunden. Nur das leere Tuch, in das ich sie immer gewickelt hatte, war noch vorhanden. Ein stechender Schmerz am Hals ließ mich zusammenzucken. Es war ein Schmerz, der vom Hals ausgehend bis in mein Herz stach und mich in Todesangst versetzte.

Ich fasste an den Hals – und griff auf Holz. Die Alraunwurzel! Mit einer wilden Bewegung wischte ich sie von der Haut. Und starrte entsetzt auf meine Hand, die voll Blut war. Voll von meinem Blut!

Das war kein Traum, das war die Wirklichkeit! Die schreckliche Wurzel war zum Leben erwacht und wollte mich töten. Auf meiner Stirn stand kalter Schweiß, der Mund war trocken. Ich spürte Ratlosigkeit, ja Verzweiflung.

Ich blickte an mir hinunter. Mein Pyjama war über und über blutbefleckt. Dann erstarrte ich, denn die Alraune versuchte es aufs Neue. Diesmal nagte sie an meinem freien, unbedeckten Knöchel. Ich schlug nach ihr, doch sie wich aus und sprang zur Seite. Nur um mich sogleich aus einer anderen Richtung wieder anzufallen.

Das ging die ganze lange Nacht hindurch so weiter. Kaum war es mir gelungen, die mörderische Wurzel abzuwehren, da musste ich schon wieder auf der Hut sein, wo sie es wohl diesmal versuchen würde.

Inzwischen bin ich am ganzen Körper von Bissen und blutenden Rissen übersät. Ich merke, wie ich zunehmend schwächer werde. Die Wunden schmerzen und das austretende Blut gerinnt nur noch sehr langsam. Von Zeit zu Zeit überkommt mich Resignation, aus der ich durch den nächsten Biss wieder aufgeschreckt werde.

Ich habe mehrfach versucht wegzulaufen, doch die Alraune ist gewandter und schneller als ich. Der Blutverlust macht mir zu schaffen. Ich habe mich zur Tür geschleppt und versuche sie zu öffnen. Aber die Wurzel sitzt auf dem Riegel und belauert mich; ich kann die Sperre nicht zurückschieben, ohne mich der Gefahr auszusetzen, dass meine Adern am Handgelenk aufgerissen werden. Ich habe Angst, nicht vor dem Tod, der unausweichlich scheint, sondern vor diesem Wurzelwesen.

Jetzt sitze ich am Tisch und schreibe mein Erlebnis auf, zur Warnung für alle, die nach Ähnlichem streben. Jeder soll wissen, wie gefährlich es ist, nach der magischen Basis des Seins zu forschen. Und welches unvermeidbare Risiko jeder eingeht, der sich im Eigeninteresse der Unnatur bedienen will.

Der Geist, den ich gerufen habe, lässt mich nicht mehr los. An meiner Brust hängt die Mandragora und beißt und zerrt an mir. Und ich habe nicht mehr die Kraft, sie abzuwehren. Bald wird sie sich bis zu meinem Herzen durchgefressen haben.

Dann werde ich endlich erlöst sein.

Sonnensegel (1978)

Der Überraum hatte sie ausgespuckt. Wie einen abgelutschten Pflaumenstein. Nun hingen sie da mit ihrem Schiff in der Leere zwischen den Galaxien. Drifteten zwischen den Welteninseln ab und mühten sich, das Leck zu finden, dass irgendein Stück kosmischen Drecks in die Schiffshülle geschlagen hatte.

Auch den Konverter hatte es getroffen. Mitten hinein ins empfindliche Aggregat. Die Maschine hatte daraufhin die überlichtschnelle Fahrt nicht mehr halten können. Sie waren in den Normalraum zurückgefallen.

Ausgespuckt. Wie ein Pflaumenstein.

Charles DuBonneau zwängte sich an einer der scharfen Spitzen vorbei, die das Leck säumten. Wenn nur der Schutzanzug nicht undicht wurde! Weiß der Himmel, wie viele Tage die Reparatur, das Auswechseln des beschädigten Teils dauern mochte.

Etwas hielt seinen Blick fest. Unbewusst noch. Dort in der schwarzen Leere. Rechts sah er die silberne Spirale der heimatlichen Milchstraße; links funkelten Sternhaufen, deren Namen wohl in der Kladde verzeichnet waren. Er selbst kannte sie auf Anhieb nicht.

Dazwischen Schwärze … Leere …

Nicht doch, da war etwas! Ein verwaschener Fleck. Genau in Fahrtrichtung.

»Piet«, sagte er ins Mikro. »Kannst du mal kommen? Da ist was.«

Nichts weiter sagte er. Doch Piet van Heelen, sein Partner auf dem Trip, kam. Denn wenn da was ist in der Leere, kann es Aufmerksamkeit verlangen. Das war ein ungeschriebenes Gesetz.

Dann standen sie da und starrten hinaus. Auf das schwach sich abzeichnende Objekt, das sie nicht identifizieren konnten. Sie standen und vergaßen die Reparatur, von der doch ihr Überleben abhing. Lange Zeit standen sie so.

Dann sagte Charles: »Los, an die Arbeit! Das Ding scheint uns entgegenzukommen. Morgen wissen wir mehr.«

Piet nickte. Und werkelte weiter an dem zerstörten Teil.

Am dritten Tag schließlich hielten sie es nicht mehr aus. Sie mussten wissen, was es war – das Ding da draußen. Sie zwängten sich in die Pinasse, die auf kurze Strecken immerhin was taugte. Und flogen dem rätselhaften Objekt entgegen.

Je näher sie kamen, desto andächtiger staunten sie. Staunten über die Meisterschaft einer unbekannten Rasse, die ein solches Wunderwerk hatte bauen können.

Sie sahen ein Segel aus feinstem Gespinst, wohl mehrere Quadratkilometer an Fläche. So fein waren die einzelnen Fäden, dass nur die angehäufte Vielzahl sie sichtbar machte. Wie feiner Nebel spannte sich das Segel über einer Plattform, die darunter hing; gehalten von gedrehten Klammern.

Ihr Boot stieß an die Plattform, federnd, sanft, wie auf Daunen auflaufend. Es gab Behausungen. Alle verlassen. Von den Bewohnern keine Spur.

»Wie lange es schon so treibt?«, flüsterte Piet. Die Andacht verschlug ihm fast die Sprache.

»Schau her«, antwortete Charles ebenso leise, denn ihm ging es ähnlich. Er rieb mit dem Handschuh über den Boden und streckte ihn dem Freund hin.

Millimeter dicker Staub.

»Wie lange braucht es wohl, bis kosmischer Staub sich in solcher Schicht absetzt?«

Nichts weiter musste gesagt werden. Das Sonnensegel mit der Lebensplattform war uralt. Wohl viel älter als die Menschheit.

Und keine Spuren, wie sie ausgesehen haben mochten, die Erbauer dieses technischen Wunders.

»Es wird getrieben durch kosmische Winde.« Charles DuBonneau sprach zu sich selbst. »Sonnenkorpuskel spenden die Energie. Hörst du das Singen, Piet?«

Und während er das sagte, wurde es ihm erst richtig bewusst – dieses Singen. Es war, als finge sich der Wind im feinen Geflecht der Fäden.

Fast unhörbar war dieses Klingen, am Rande des Vernehmbaren. Doch es fraß sich fest in ihrem Kopf. Wollte nicht mehr weichen. Ließ sie alles vergessen.

Sie saßen und lauschten. Und vergaßen ihr eigenes Sein. Waren eins mit dem Singen, waren eins mit dem Kosmos.

Und träumten.

Was sie weckte?

Vielleicht eine Bewegung ihrer Glieder. Oder ein fast unmerklicher Wechsel in der Geschwindigkeit, mit der das Sonnensegel die Plattform durchs All zog.

Sie erhoben sich wie in Trance. Kamen allmählich zu sich. Sie waren weit abgetrieben worden von ihrem havarierten Schiff.

Sie rissen sich mit Mühe los. Beide. Das kosmische Singen des Sonnensegels hielt sie in Bann. Immer noch. Charles war der Stärkere. Er packte Piet. Stieß ihn in die Pinasse.

Als das riesige Segel immer kleiner wurde, wieder zu jenem nebelhaften Fleck zu werden drohte, kamen sie zu sich.

Charles kauerte vor dem Schirm. Er starrte mit brennenden Augen hinaus. Neben ihm Piet, reglos. Gebannt von dem Wunder.

Charles merkte, dass er weinte. Doch er schämte sich der Tränen nicht.

»Wie sie wohl ausgesehen haben?« flüsterte er.

Piet blieb stumm.

Die Welt des Doo (1979)
1

Er kauerte verkrümmt im Schalensitz des Rettungssystems; seine vom Havarieschock verschleierten Augen sahen nichts als wechselnde Grautöne. Seine Lebensimpulse waren auf das absolut Notwendige reduziert. Sein verstörtes Ich suchte Zuflucht in der gekrümmten Wärme seines Körpers.

Das Unglück war unverhofft über den terrestrischen Luxusraumer hereingebrochen. Während eines der zahlreichen Bordfeste, die auf jeder überlichtschnellen Reise für die verwöhnten Passagiere ausgerichtet werden, um die nervtötende Eintönigkeit einer Fahrt zwischen den bewohnten Welten überbrücken zu helfen, hatte ein schwerer Stoß das Schiff erschüttert.

Während im Ballsaal alle über- und durcheinanderpurzelten, fielen nacheinander sämtliche Kontrollen aus. Der leitende Ingenieur war durch die Erschütterung gegen eine Seitenstrebe geschleudert worden und hing mit gebrochenem Genick über der Maschine.

Die Spannung ließ rapide nach. Durch den Energieausfall konnten die beiden QU-Konverter das Schiff nicht mehr im Überraum halten. Der Übertritt von der Dunkelzone in das Normaluniversum erfolgte ohne Vorwarnung. Innerhalb weniger Sekunden gab es im Maschinenraum verheerende Explosionen.

Valentin Fisher, Repräsentant eines multiplanetaren Großkonzerns für Maschinenbau, hatte gerade seinen zehnten Drink dieses Tages vor sich stehen, als die Panik ausbrach. Da er sich nichts aus Tanzen machte, woran ihn auch sein stattlicher Leibesumfang nicht unwesentlich gehindert hätte, war sein Platz bei solchen Bordfesten immer an der Bar.

Der erste Stoß, den das Schiff erhielt, hatte Fisher nicht aus seinem vom Whisky erzeugten Dösen herausreißen können. Doch die zunehmende Unruhe im Saal schreckte ihn schließlich auf. Gezielt steuerte er auf den Ausgang zu. Doch bereits nach wenigen Schritten erhielt er einen Schlag auf den Kopf und spürte danach nichts mehr.

Erst nach geraumer Zeit wurde sich das wimmernde Bündel im Schalensitz des Rettungssystems seiner Umgebung bewusster.

Langsam sickerten in seinen getrübten Geist Einzelheiten der Kabine: das Flackern der Lämpchen; das Graugrün des Bodenbelags; die viereckige Platte der Steuerkonsole; das fahle Rosa der eigenen verkrampften Finger.

Er musste sich übergeben.

Während Valentin Fisher würgte, wurde er sich mit plötzlicher Schärfe der Tatsache bewusst, dass er allein war. Allein in einer Notkapsel des beginnenden 22. Jahrhunderts, deren Funktionen ihm nicht vertraut waren; denn bei der allfälligen Instruktion zu Beginn der Reise hatte er selbstverständlich gefehlt. Die Möglichkeiten zu seiner Rettung waren ihm nicht einmal andeutungsweise bekannt.

Er würgte erneut. Und während er nichts als Schleim erbrach, wurde er wieder bewusstlos.

2

Als sie ihn fanden, war er nichts weiter als ein hilfloses Tier, bis auf die Knochen abgemagert, stammelnd wie ein Idiot.

Sie waren sanft, mit weichem, flaumigem Pelz und tiefbraunen, lidlosen Augen. Ihm zu helfen, war eine Selbstverständlichkeit, die ihnen von Geburt an durch ihren Glauben mitgegeben war. Sie schafften ihn in ihre Welt und linderten seinen Hunger, seinen Durst, seine Ängste. Schmale, vielgliedrige Finger wuschen ihn, salbten ihn und streichelten ihn, bis er sich, ruhig geworden, lang ausstreckte.

Als er schließlich aus seiner mehrtägigen Bewusstlosigkeit erwachte und seine Betreuer betrachten konnte, fasste er sofort Vertrauen zu ihnen. Diese freundlichen Wesen wollten nur das Beste, dessen war er mit einem Mal sicher.

Danach machte der Heilungsprozess rasche Fortschritte.

Als er wieder soweit hergestellt war, dass ihm das Aufstehen kaum noch Mühe bereitete, da begannen sie auch, mit ihm zu sprechen. Denn bis dahin hatten sie sich nur durch Gesten verständlich gemacht.

»Wir sind das Volk«, sagte unverhofft sein ständiger Pfleger, den er leicht an einer angegrauten Stelle des Pelzes unter dem rechten Auge erkannte. »Wir haben dich als unseren Gast aufgenommen. Wenn du aufstehen und dich umsehen willst, dann ist dir das gestattet.«

Valentin Fisher war durch die plötzliche Anrede so überrascht, dass es ihm zuerst an Worten fehlte. Als er stammelnd zu einer Antwort ansetzte, wurde er sanft unterbrochen:

»Wir wollten dir Zeit lassen, dich auch innerlich wieder zu fangen. Außerdem waren wir uns nicht ganz sicher, ob du in den Kreis des Doo gehörst wie wir alle. Offen gestanden sind wir uns immer noch nicht im Klaren darüber, doch die Zeit wird uns das wissen lassen.«

»Wo bin ich?«, war Fishers erste Frage.

»Unsere Heimat schwebt zwischen den Welten, in der Leere, die das Doo gebiert. Vor langen Jahren schon hat sich das Volk losgesagt von allem Verhaftetsein mit den Systemen des Universums. Wir haben uns eine eigene Welt geschaffen, die schweigend dahinzieht; hier leben und sterben wir.«

Während der Pelzige das erklärte, hatte der Mensch sich von seiner Lagerstatt erhoben. Das Fremdwesen ging ihm knapp bis an die Schulter, wie er mit Überraschung feststellte. Denn aus der Perspektive des Liegenden war ihm der andere viel größer vorgekommen.

Valentin Fisher fühlte sich leicht, fast unbeschwert, wie schon lange nicht mehr in seinem Leben, das ihn auf viele bewohnte Welten geführt hatte. Er merkte, dass diese Empfindung offensichtlich auch mit der Tatsache zusammenhing, dass hier eine geringere Schwerkraft als auf der Erde oder in den irdischen Raumschiffen herrschte.

»Wie soll ich dich nennen?«, erkundigte er sich bei seinem Gegenüber.

»Man nennt mich Lilisan.« Sein Pelz hatte, von oben gesehen, einen seidigen Schimmer. »Du als unser Gast darfst mich auch so anreden.«

Nach allem, was Lilisan bisher erzählt hatte, befanden sie sich in einer Art Raumstation, die zwischen den Galaxien schwebte und völlig autark war. Valentin Fisher schienen die Angehörigen des Volkes, wie sie sich nannten, etwas seltsam zu sein. Aber solange sie sich um ihn kümmerten und ihm halfen, wieder nach Hause zurückzukehren, sollte ihm das egal sein.

»Wir wollen einen Rundgang machen«, schlug Lilisan vor und wandte sich zur Tür. »So bekommst du am besten einen Eindruck von uns und von unserer Welt.