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3. Relevanter Markt und Marktabgrenzung

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Die Abgrenzung des relevanten Marktes ist für die kartellrechtliche Beurteilung von Sachverhalten in zweifacher Hinsicht relevant: Zum einen folgt daraus die Bestimmung des Wettbewerbsverhältnisses zwischen den handelnden Unternehmen, zum anderen ist der relevante Markt die Bezugsgröße zur Ermittlung der Marktstellung eines Unternehmens. Wettbewerbsverhältnis und Marktanteile wiederum entscheiden darüber, nach welchen Grundsätzen eine kartellrechtliche Verhaltensweise zu beurteilen ist.

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Die kartellrechtliche Marktabgrenzung erfolgt stets in sachlicher sowie in räumlicher, seltener auch in zeitlicher Hinsicht. Der sachlich relevante Markt oder Produktmarkt wird nach dem sog. Bedarfsmarktkonzept ermittelt. Zu einem Markt gehören demnach alle Produkte oder Dienstleistungen, die von der Marktgegenseite im Hinblick auf ihre Eigenschaften, Preise und ihren Verwendungszweck als austauschbar angesehen werden.25 Als Hilfsmittel bedienen sich die Behörden dabei zum Teil des sog. „SSNIP“-Tests. Dieser fragt, ob Abnehmer bei einer kleinen, aber signifikanten und nicht nur vorübergehenden Preiserhöhung (small but significant and non-transitory increase in price) von z.B. angenommenen 5–10 % von einem Produkt zu einem anderen wechseln würden. Ist dies der Fall, ist anzunehmen, dass die Produkte einem Markt angehören. Der SSNIP-Test ist in der Praxis allerdings nur schwer anwendbar.26 Bereits die Frage, ob der Preisfaktor aus Abnehmersicht tatsächlich die entscheidendste Rolle spielt oder ob andere Wettbewerbsparameter mindestens ebenso wichtig sind, ist branchen- und produktspezifisch durchaus unterschiedlich.

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In räumlicher Hinsicht gehört zu einem relevanten Markt das Gebiet, in dem die beteiligten Unternehmen die fraglichen Produkte oder Dienstleistungen anbieten, in dem die Wettbewerbsbedingungen hinreichend homogen sind und das sich von benachbarten Gebieten durch spürbar unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen unterscheidet.27

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In der Praxis führt für eine zutreffende Marktabgrenzung letztlich kein Weg daran vorbei, in einem Gespräch mit einem Produktexperten herauszuarbeiten, welche Produkte oder Dienstleistungen tatsächlich Wettbewerbsdruck auf die unternehmenseigenen Produkte oder Tätigkeiten ausüben. Mit diesem Gespräch geht die Sichtung und Überprüfung der bereits im Unternehmen verwendeten internen Marktüberlegungen, Branchenstatistiken oder sonstigen Materialien voraus, die für die derzeitige Bestimmung der Marktposition verwendet werden. Diese Materialien können dann mit vorhandenen Entscheidungen von Kartellbehörden in der Branche verglichen werden. Regelmäßig bilden Fusionskontrollentscheidungen dabei einen ersten Anhaltspunkt, da hier die umfangreichste Fallpraxis vorhanden ist. Dieser Blickwinkel ist hilfreich, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die dort vorgenommene Marktabgrenzung für die Überprüfung von Verhaltensweisen nach dem Kartell- oder Missbrauchsverbot oft nur einen Ausgangspunkt bildet: Die Marktabgrenzung kann gerade im Zusammenhang mit der Missbrauchsaufsicht in der Praxis oft bedeutend enger ausfallen, als dies für einen im Kartellrecht nicht geschulten Mitarbeiter den Anschein haben mag. Dies hat dann unmittelbare Auswirkungen auf die Bestimmung der Marktposition im relevanten Markt und daran anknüpfender, besonderer Verhaltensregeln für das Unternehmen.

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An dieser Stelle können nur die Grundprinzipien der Marktabgrenzung angerissen werden: Die richtige Marktdefinition ist eine der zentralen Fragen des Kartellrechts und als solche sowohl rechtlich, insbesondere aber auch ökonomisch, nur anhand des konkreten Sachverhalts zu beantworten. Unternehmen sind gut beraten, diese Marktanalysen sorgfältig und unter Einbeziehung anerkannter Kartellrechtsgrundsätze vorzunehmen. Denn ob die Marktabgrenzung eines Unternehmen letztlich von den Behörden nachvollzogen wird, zeigt sich erst im Rahmen eines konkreten Verfahrens: Die Behörden verfügen über weitreichende Ermittlungsbefugnisse, zu denen eine eigene Markterhebung mittels umfassender Befragung von Wettbewerbern und Abnehmern zählt. Entsprechende Daten liegen einem Unternehmen weder selbst vor noch könnten diese Daten unternehmensseitig erhoben werden, ohne gegen Kartellrecht zu verstoßen. Hat ein Unternehmen seine rechtlichen Handlungsmöglichkeiten falsch eingeschätzt, weil es eine falsche Marktabgrenzung zugrunde gelegt hat, gehen die Konsequenzen aus dieser Fehleinschätzung ausschließlich zu Lasten des Unternehmens.

4. Wettbewerbsverhältnis

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Welche kartellrechtlichen Grundsätze für die Beurteilung einer Vereinbarung maßgeblich sind, richtet sich nach der Frage, ob die handelnden Unternehmen in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen oder nicht. Das Kartellrecht behandelt Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern strikter als Vereinbarungen zwischen Nicht-Wettbewerbern.

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Das Wettbewerbsverhältnis ist auf dem nach den obigen Grundsätzen abgegrenzten sachlich und räumlich relevanten Markt zu ermitteln. Deutsches und europäisches Kartellrecht gehen dabei von einem Wettbewerbsverhältnis aus, wenn Unternehmen im Hinblick auf die von der Vereinbarung oder Abrede betroffenen Produkte oder Dienstleistungen auf dem gleichen sachlich und räumlich relevanten Markt aktiv sind (tatsächliche oder aktuelle Wettbewerber) oder nicht nur hypothetisch anzunehmen ist, dass das jeweils andere Unternehmen die notwendigen Investitionen oder Umstellungskosten vornehmen würde, um in Erwiderung auf eine geringfügige, dauerhafte Preiserhöhung zeitnah in diesen Markt einzutreten (potenzielle Wettbewerber). Hier ist zu beachten, dass der Zeitraum, in dem mit einem Marktzutritt zu rechnen ist, je nach Art der zu beurteilenden Abrede abweicht.28

5. Vorsatz und Fahrlässigkeit

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Ein Verstoß gegen das Kartellverbot oder das Verbot des missbräuchlichen Verhaltens für Unternehmen mit Marktmacht erfordert keine besonderen subjektiven Elemente. Bußgelder können verhängt werden, gleich ob der Verstoß gegen das Kartellrecht vorsätzlich oder fahrlässig erfolgt ist.29 Die fahrlässige Begehung hat aber Auswirkungen bei der Bußgeldbemessung.30

6. Verjährung

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Kartellrechtsverstöße verjähren sowohl nach europäischem als auch nach deutschem Recht fünf Jahre nach ihrer Beendigung.31

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In der Praxis besteht die Herausforderung im Nachweis, dass eine Tat wirklich beendet ist. Dies ist nicht der Fall, wenn deren Auswirkungen fortdauern (etwa wenn ein rechtswidrig verabredeter Preis weiterhin gültig bleibt oder eine kartellrechtswidrige Gebietsabrede nach wie vor eingehalten wird). Liegen die Voraussetzungen für eine Tateinheit vor, können somit auch Vereinbarungen, die Jahre – oder in manchen Kartellverfahren mehr als ein Jahrzehnt – zurückliegen, noch verfolgt und geahndet werden.

7. Wettbewerbs- und Marktanalyse als zwingender Ausgangspunkt jeder Compliance-Maßnahme

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Kartellrechtliche Compliance kann nicht im luftleeren Raum stattfinden, wenn sie Unternehmensmitarbeiter erreichen soll. So verlockend „one-sizefits-all“-Angebote, insbesondere im sog. e-Learning, klingen: sie können eine individuelle Compliance-Arbeit, zugeschnitten auf das konkrete Unternehmen nicht ersetzen, sondern allenfalls abrunden. Kartellrechtsregeln und Kartellrechtsrisiken sind immer mit der konkreten Markt- und Wettbewerbssituation eines Unternehmens verbunden und dazu in Bezug zu setzen. Dabei ist evident, dass sich z.B. die kartellrechtlichen Risikobereiche eines internationalen Herstellers von Spezialprodukten mit marktbeherrschender Stellung von denen eines regionalen Händlers homogener Massengüter unterscheiden. Dies gilt, obwohl beide Unternehmen den gleichen Regeln und Verboten unterliegen. In der Praxis wird dem spezifischen Unternehmensumfeld häufig nicht ausreichend Beachtung geschenkt, sodass Schulungsmaßnahmen oder Verhaltensrichtlinien über die Köpfe der Mitarbeiter hinweg gehen. Egal, welcher Mittel Sie sich jedoch letztlich bedienen werden, um in einem Unternehmen für eine wirkungsvolle Einhaltung kartellrechtlicher Regeln zu sorgen: Sie holen die Unternehmensmitarbeiter nur ab, wenn Sie deren Alltagsprobleme adressieren.

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Auch wenn es sich trivial anhören mag: Vor Beginn jeglicher Compliance-Maßnahmen im Kartellrecht müssen folglich mindestens die folgenden Basis-Fragen stets geklärt sein:

Checkliste: Vor Beginn von Compliance-Maßnahmen

 ✓ Auf welchen Märkten ist das Unternehmen aktiv?

 ✓ Wer sind die Wettbewerber auf diesen Märkten?

 ✓ Hat es in der letzten Zeit Marktzutritte gegeben bzw. gibt es weitere Unternehmen, die dem Markt in kurzer Zeit beitreten könnten?

 ✓ Was sind die wichtigsten Absatzgebiete des Unternehmens?

 ✓ Wer sind die wichtigsten Kunden des Unternehmens?

 ✓ Welcher Vertriebsstrukturen bedient sich das Unternehmen für den Absatz der Produkte bzw. Dienstleistungen?

 ✓ Über welche Marktstellung verfügt das Unternehmen auf den jeweiligen Märkten?

 ✓ Gibt es absehbare Umstände, die die Marktverhältnisse künftig beeinflussen oder verändern werden?

15 Wiedemann, in: Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 4. Aufl. 2020, § 2 Rn. 3 m.w.N. 16 So zuletzt EuGH, Urt. v. 2.4.2020, Rs. C-228/18 (Budapest Bank u.a.). 17 Schlussanträge Generalanwalt Bobek v. 9.5.2019, Rs. C-28/18, Rn. 51 (Budapest Bank u.a.). 18 Siehe dazu ausführlicher unter Rn. B 112. 19 Siehe dazu ausführlicher unter Rn. B 108ff. 20 Ständige Rspr., siehe z.B. EuGH, Urt. v. 23.4.1991, Rs. C-41/90, Slg. 1991, I-1979, Rn. 21 (Hofner und Elsar); EuGH, Urt. v. 17.2.1993, Rs. C-159/91 und C-190/91, Slg. 1993, I-637, Rn. 19 (Poucet und Pistre). 21 Bechtold/Bosch, GWB, 9. Aufl. 2018, § 1 Rn. 7ff. m.w.N.; Wiedemann in: Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 4. Aufl. 2020, § 4 Rn. 1f. 22 Der Begriff der „Wurstlücke“ ist im Zusammenhang mit einem Kartellverfahren in der Fleischbranche entstanden: Dem Unternehmer Tönnies ist es 2016 gelungen, eine damals im GWB noch vorhandene Gesetzeslücke durch Umstrukturierungen im Konzern so zu nutzen, dass ein gegen zwei Konzernunternehmen vom Bundeskartellamt in Höhe von EUR 128 Mio. verhängtes Bußgeld schließlich hinfällig wurde, BKartA, Pressemitteilung v. 19.10.2016. 23 Siehe Jungbluth, NZKart 2017, 257f.; kritisch Mäger/von Schreitter, NZKart 2017, 264ff. 24 Mäger/von Schreitter, NZKart 2017, 264, 266. 25 Bekanntmachung der Kommission v. 9.12.1997 über die Definition des relevanten Marktes, ABl. EG 1997 C 372/5, Rn. 7; Fuchs, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Bd. 1/EU, 6. Aufl. 2019, Art. 102 Abs. 1 Rn. 48ff. 26 Siehe auch Bulst, in: Langen/Bunte, Europäisches Kartellrecht, Bd. 2, 13. Aufl. 2018, Art. 102 Rn. 39ff. 27 Bekanntmachung der Kommission v. 9.12.1997 über die Definition des relevanten Marktes, ABl. EG 1997 C 372/5, Rn. 8, 28ff.; Fuchs, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Bd. 1/EU, 6. Aufl. 2019, Art. 102 Abs. 1 Rn. 65f. 28 Art. 1 Abs. 1 lit. c VO (EU) Nr. 330/2010, ABl. EU 2010 L 102/1 (Vertikal-GVO); Art. 1 Abs. 1 lit. t VO (EU) Nr. 1217/2010, ABl. EU 2010 L 335/36 (F&E-GVO); Art. 1 Abs. 1 lit. j (ii) VO (EU) 772/2004, ABl. EU 2004 L 123/11 (TT-GVO). 29 Eine Ausnahme besteht insoweit nur für die deutschen Tatbestände des Boykotts, der Nachteilsandrohung und der unrichtigen Angaben gegenüber Kartellbehörden im Sinne des § 81 Abs. 3 OWiG. Diese Tatbestände können gemäß § 10 OWiG nur vorsätzlich begangen werden. Dies gilt im Übrigen auch für Submissionsabsprachen gemäß § 298 StGB, siehe dazu auch unter Rn. B 70, 80, 146ff. 30 Für das EU-Kartellrecht ergibt sich dies aus den Verwaltungsgrundsätzen der Kommission: Nach Rn. 29 zweiter Spiegelstrich der Bußgeldleitlinien (siehe Fn. B 33) ist der Nachweis von (lediglich) Fahrlässigkeit ein mildernder Umstand bei der Bußgeldbemessung. Für das deutsche Kartellrecht folgt dies aus § 17 Abs. 2, § 30 Abs. 2 OWiG, wonach sich bei fahrlässiger Begehung der Bußgeldrahmen halbiert. 31 Für das EU-Kartellrecht Art. 25 Abs. 1 lit. b sowie Art. 25 Abs. 2–6 VO 1/2003 für Fristbeginn und Unterbrechung; für das deutsche Kartellrecht § 81 Abs. 8, 9 GWB, für Fristbeginn sowie für das Ruhen und die Unterbrechung der Verjährung gelten die allgemeinen Regeln des OWiG.

IV. Rechtsfolgen bei Verstößen gegen das Kartellrecht

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Ein Verstoß gegen das Kartellrecht kann nicht nur in Europa und in Deutschland, sondern auch in nahezu allen anderen Kartellrechtsordnungen gravierende Folgen haben.32

1. Bußgelder

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Aus Unternehmenssicht stehen die drastischen Bußgelder für Kartellrechtsverstöße bei der Risikoabwägung und der daran anknüpfenden Compliance-Arbeit im Unternehmen an erster Stelle. Die Bedeutung kartellrechtlicher Compliance besteht deshalb zu einem zentralen Teil darin, dieses Bußgeldrisiko für künftiges Verhalten des Unternehmens auszuschalten und für vergangenes zu identifizieren.

1.1 Europäische Kommission

Heute haben wir mit der Verhängung von Rekordgeldbußen wegen eines schweren Kartellverstoßes ein Ausrufezeichen gesetzt. [...] Unsere Botschaft ist klar: Kartelle haben in Europa keinen Platz.“

Magrethe Vestager, am 19.7.2016 anlässlich der Verhängung erster Bußgelder in dem mit insgesamt nahezu EUR 4 Mrd. bebußten LKW-Kartell.

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Nach Art. 23 Abs. 2 lit. a VO 1/2003 kann ein vorsätzlicher oder fahrlässiger Verstoß gegen Art. 101 AEUV sowie Art. 102 AEUV von der Kommission mit Bußgeldern von bis zu 10 % des weltweiten Konzernumsatzes der an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen belegt werden. Gleiches gilt, wenn ein Unternehmen einer einstweiligen Anordnung der Kommission zuwiderhandelt oder gegen eine Verpflichtungszusage verstößt (Art. 23 Abs. 2 lit. b und c VO 1/2003).

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Die Berechnung der konkreten Bußgelder im Falle eines Kartellverstoßes richtet sich nach den Bußgeldleitlinien der Kommission.33

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Der Ausgangspunkt für die Bußgeldberechnung ist danach ein Grundbetrag von bis zu 30 % des sog. tatbezogenen Umsatzes, d.h. des Wertes der von dem betroffenen Unternehmen im relevanten räumlichen Markt innerhalb des EWR verkauften Waren und Dienstleistungen, die in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit dem Verstoß stehen. Im Regelfall legt die Kommission als Bemessungsgrenze den tatbezogenen Umsatz im letzten abgeschlossenen Geschäftsjahr zugrunde.34 Der so ermittelte Wert wird mit der Anzahl der Jahre multipliziert, die das Unternehmen an der Zuwiderhandlung beteiligt war.35 Zeiträume bis zu sechs Monate werden mit einem halben, Zeiträume von mehr als sechs Monaten werden als ein ganzes Jahr gerechnet. Zusätzlich und von der Dauer des Verstoßes unabhängig fügt die Kommission einen Betrag zwischen 15 % und 25 % des tatbezogenen Umsatzes als reine „Abschreckungsgebühr“ hinzu.36 In der bisherigen Fallpraxis der Kommission entsprach dieser Betrag der Prozentzahl des Grundbetrages.

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Als erschwerende Faktoren, die den Grundbetrag und damit das Bußgeld erhöhen können, berücksichtigt die Kommission eine Fortsetzung des Verstoßes oder einen erneuten Verstoß, die Verweigerung der Zusammenarbeit mit und ohne Behinderung der Kommissionsuntersuchung sowie die Rolle eines Unternehmens als Anführer oder Anstifter des Verstoßes.

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Mildernde Umstände sind die nachgewiesene Beendigung des Verstoßes nach dem Eingreifen der Kommission außer im Falle geheimer Vereinbarungen oder Verhaltensweisen (insbesondere von Kartellen); Fahrlässigkeit, beigebrachte Beweise zur Geringfügigkeit sowie Nachweise, dass das Unternehmen den Verstoß nicht umgesetzt hat, aktive Zusammenarbeit des Unternehmens mit der Kommission außerhalb der Kronzeugenregelung sowie der Nachweis, dass das wettbewerbswidrige Verhalten durch Behörden oder geltende Vorschriften genehmigt oder ermutigt wurde.37

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Compliance-Programme werden von der Kommission – anders als von einigen nationalen Kartellbehörden38 – nicht als mildernder Umstand bei der Bußgeldbemessung berücksichtigt.39 Sie sind nach EU-Kartellrecht auch nicht geeignet, die Zurechnung des Fehlverhaltens eines einzelnen Unternehmensmitarbeiters gegenüber dem Unternehmen zu verhindern. So heißt es hierzu auf der aktuellen Webseite der Kommission:40

The Commission welcomes and supports efforts by the business community to ensure compliance with EU competition rules. If an infringement is found, however, the mere existence of a compliance strategy will not be taken into consideration when setting the fine: the best reward for a good compliance strategy is not to infringe the law.“

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Die Bußgelder der Europäischen Kommission fallen in ihrer Höhe oftmals drastisch aus. Trotz dieses Umstandes bestätigte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ihre Rechtmäßigkeit in einem Verwaltungsverfahren vor dem Hintergrund des vergleichbaren italienischen Kartellverfahrensrechts.41 Zuvor hatte bereits das Europäische Gericht die Rechtmäßigkeit der Bußgeldfestsetzung nach den Bußgeldleitlinien der Kommission bestätigt.42 Folgende „Rekord-Bußgelder“ der Kommission stechen heraus:

Die Kommission verhängte 2017/2018 das bisher höchste Bußgeld in einem Kartellverfahren in Höhe von EUR 3,8 Mrd. gegen verschiedene internationale Hersteller von LKW, die 14 Jahre lang Bruttolistenpreise und die Weitergabe von Kosten für die Einhaltung von Umweltnormen an ihre Kunden abgesprochen hatten.43 Die bisher höchste Gesamtbußgeldsumme der Kommission gegen ein einzelnes Unternehmen erging gegen Google/Alphabet, das wegen drei verschiedener Verstöße gegen das kartellrechtliche Missbrauchsverbot in den Jahren 2017, 2018 und 2019 mit Bußgeldern von insgesamt EUR 8,25 Mrd. sanktioniert wurde.44

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Diese Bußgelder dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Kommission bei weitem nicht nur mit Großkonzernen oder mit aus Verbrauchersicht prominenten Industrien befasst. In den letzten Jahren sind von der Kommission wegen Kartellabsprachen auch in eher mittelständisch geprägten Industrien (wie z.B. Fensterbeschläge, Selbstdurchschreibepapier, Reißverschlüsse oder Plastikverpackung für Lebensmittel) hohe Bußgelder verhängt worden.45 Für missbräuchliche Rabatte erging 2006 ein Bußgeld in Höhe von fast 8 % des Gesamtkonzernumsatzes gegen den norwegischen Konzern Tomra, der Leergutautomaten für die Rückgabe von Plastikflaschen herstellt.46

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Auch vertikale Verstöße können mit hohen Bußgeldern belegt werden. Die Kommission ist hier in der Vergangenheit besonders aktiv geworden, wenn Unternehmen durch direkte oder indirekte Exportbeschränkungen den Binnenwettbewerb beeinträchtigt haben.47 Dieser Fokus setzt sich auch in jüngeren Bußgeldentscheidungen fort, in denen zudem Preisbindungen und Internetbeschränkungen eine große Rolle spielen.48

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Bußgelder von Kartellbehörden, einschließlich solcher der Europäischen Kommission, sind sowohl hinsichtlich des ahndenden Teils als auch dann, wenn sie einen wirtschaftlichen Vorteil abschöpfen, bei dessen Bestimmung die Steuerlast berücksichtigt wurde, steuerlich nicht als Betriebsausgaben abzugsfähig.49 Anders ist es nur, wenn ein wirtschaftlicher Vorteil brutto abgeschöpft wird, da dann natürlich die Tatsache, dass diese Vorteile seinerzeit versteuert worden sind, jetzt durch entsprechenden Abzug korrigiert werden muss. Das Bundeskartellamt weist eingangs seiner Bußgeldleitlinien darauf hin, dass diese nur den ahndenden Teil betreffen.50 Da der Kommission diese Unterscheidung fremd ist, kann bei Kommissionsbußgeldern in geeigneten Fällen mit wirtschaftlicher Brutto-Abschöpfung argumentiert und so zumindest ein Teil des Bußgeldes steuerlich abzugsfähig sein. Bußgelder spielen zudem keine Rolle im Zusammenhang mit Schadensersatzforderungen. Dies bedeutet, dass Bußgelder weder auf Schadensersatzansprüche angerechnet werden können noch dass die Bußgeldfreiheit eines Unternehmens – etwa im Rahmen eines Kronzeugenantrags – dieses vom Risiko einer Schadensersatzpflicht befreit.51

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Die Bußgelder der Kommission richten sich allein gegen Unternehmen, nicht gegen die handelnden Unternehmensmitarbeiter. Trotz der immensen Höhe der von der Kommission verhängten Bußgelder ist ein Verstoß gegen das EU-Kartellrecht kein Strafrechtsverstoß.52