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Teil B Kartellrechtliche Risiken im Unternehmen

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Am Anfang aller Compliance-Bemühungen steht die Bestandsaufnahme: Das Unternehmen muss sich darüber klar werden, mit wem es in welcher Weise im Rahmen seiner Geschäftsprozesse agiert, bei welchen Tätigkeiten Kartellrechts-Verstöße vorkommen (könnten) und welche Bereiche relativ unkritisch sind.

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Kartellrechts-Compliance hat zum Ziel, Unternehmen vor Kartellrechts-Risiken zu schützen. Wie bei jeder Schutzmaßnahme ist vor Einführung eines kartellrechtlichen Compliance-Programms zu entscheiden, ob

 – die Risiken so gering sind, dass sie vom Unternehmen akzeptiert und getragen werden können oder ob

 – das Einführen von konkreten Schutzmaßnahmen angezeigt ist.

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Selbstverständlich kann eine solche Entscheidung nur dann korrekt getroffen werden, wenn Risiken und Konsequenzen zutreffend beurteilt werden. Für die Einhaltung von Kartellrechtsregeln ist das weit weniger intuitiv zu bewerkstelligen als für andere Rechtsbereiche. Dies liegt schlicht daran, dass Kartellrecht nicht abstrakt befolgt werden kann, sondern die Regeln je nach Marktumfeld, Marktposition und Geschäftsmodell eines Unternehmens andere sind. Grundsätzliche Compliance-Maßnahmen, wie insbesondere Kartellrechtsschulungen sind in einem Unternehmen also schon deshalb unverzichtbar, weil sie eine zutreffende Sachverhalts- und Risikoerfassung erst möglich machen.

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Im Anschluss an das Studium der Grundbegriffe des Kartellrechts in den Abschnitten I. bis IV. kann der Leser unmittelbar in die Analyse der im eigenen Unternehmen vorhandenen Kartellrechts-Risiken anhand der Abschnitte V. bis IX. einsteigen.

I. Einführung in das Kartellrecht

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Kartellrecht schützt den Wettbewerb und damit das freie Kräftespiel von Unternehmen auf dem Markt. Das System der Marktwirtschaft sieht funktionsfähigen Wettbewerb gleichsam als sein Herzstück oder seinen Motor an: Verbraucher profitieren von diesem System, weil Unternehmen um die Verbrauchergunst konkurrieren müssen. Der Wettbewerbsdruck führt dazu, dass Abnehmer sich aus einer breiten Angebotspalette diejenigen Güter und Leistungen auswählen können, die am ehesten ihren Vorstellungen von guter Qualität zu einem angemessenem Preis-Leistungs-Verhältnis entsprechen. Unternehmen, die im Wettbewerb bestehen, werden mit höheren Gewinnen belohnt. Unternehmen, deren Angebot nicht den Marktanforderungen entspricht, werden mit Verlusten oder gar mit ihrem Ausscheiden aus dem Markt bestraft.1

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Ein besonders wichtiger Faktor ist dabei der letztlich nur durch ausreichenden Wettbewerb geförderte, ständige Anreiz zur Innovation. Oder mit den Worten des Präsidenten des Bundeskartellamtes, Andreas Mundt, in einem Interview der Funke Mediengruppe am 18.1.2020:

Neben den überhöhten Preisen ist das Schlimmste an Kartellen und Monopolen, dass die Innovationstätigkeit der Unternehmen erschlafft. Ohne Wettbewerb geben sich die Firmen keine Mühe. Ein Beispiel: Als Microsoft seinen „Internet Explorer“ an den Markt brachte, erfuhr dieser über fünf Jahre kein einziges Update. Warum? Weil die Konkurrenz fehlte. Dann kam der „Mozilla Firefox“. Heute sind wöchentliche Updates bei vielen Apps die Regel. Wettbewerb ist für Fortschritt wichtig – und Kartelle schalten diesen aus.

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Das Kartellrecht schützt den Wettbewerb, indem es Handlungsweisen von Unternehmen verbietet oder begrenzt, von denen anzunehmen ist, dass diese wirksamen Wettbewerb behindern oder sogar ganz ausschalten.

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Das europäische sowie das deutsche Kartellrecht stützen sich – wie viele andere Kartellrechtsordnungen weltweit – dafür im Wesentlichen auf zwei Grundsäulen: Die eine Säule begründet die unternehmerische Verhaltenskontrolle in Form des Kartellverbots2 und des Verbots missbräuchlichen Verhaltens für Unternehmen mit Marktmacht,3 die andere Säule umfasst die Strukturkontrolle für die Übernahme von Unternehmen oder Vermögenswerten in Form der Fusionskontrolle.4

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Der Fokus von kartellrechtlichen Compliance-Maßnahmen liegt regelmäßig auf der ersten Säule, also der kartellrechtlichen Verhaltenskontrolle. Hier sind die risikorelevanten Sachverhalte des Unternehmensalltags angesiedelt, also Vorgänge, bei denen Unternehmensmitarbeiter das Unternehmen täglich in kartellrechtliche Gefahren bringen können. Transaktionen sind dagegen weit weniger alltäglich und werden im Unternehmen regelmäßig von Anfang an rechtlich begleitet. Die mit einem Transaktionsprozess verbundenen kartellrechtlichen Risiken erfahren damit naturgemäß eine höhere rechtliche Aufmerksamkeit. Auch wenn Compliance-Schulungen in diesem Bereich nicht zu vernachlässigen sind, betreffen sie regelmäßig einen eher kleinen Mitarbeiterkreis, der vor allem dahingehend sensibilisiert werden muss, rechtzeitig an das Kartellrecht und die Einbeziehung kartellrechtlicher Expertise zu denken.

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Die Regeln zur kartellrechtlichen Verhaltenskontrolle sind direkt im Vertrag zur Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und damit im sog. Primärrecht der Europäischen Union (EU) angesiedelt. Die Europäische Fusionskontrolle findet sich nicht direkt im AEUV, sondern in einer eigenen Verordnung.5 Europäisches Kartellrecht ist unmittelbar geltendes Recht in allen Mitgliedstaaten der EU und gilt – über entsprechende Abkommen6 – auch in den EFTA-Staaten Island, Norwegen und Liechtenstein und damit im gesamten Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Oberste Europäische Kartellbehörde ist die Europäische Kommission (Kommission), die mit der Generaldirektion Wettbewerb über eine Einheit von etwa 800 Mitarbeitern verfügt, die sich mit der Durchsetzung des Kartellrechts befasst. In der EU verfügt zudem jeder Mitgliedstaat über eine eigene nationale Kartellrechtsordnung, die weitgehend an die Kartellrechtsordnung der EU angepasst ist. Das deutsche Kartellrecht ist im seit 1957 geltenden Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) verankert. Die deutsche Verfolgungsbehörde ist das Bundeskartellamt mit Sitz in Bonn, mit derzeit ca. 360 Mitarbeitern. Obgleich die Behörde formal dem Bundeswirtschaftsministerium unterstellt ist, agiert sie unabhängig und nicht weisungsgebunden.

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Derzeit haben weltweit über 120 Länder eigene Regeln zur Durchsetzung des Kartellrechts. Auch wenn es viele Prinzipien gibt, die in allen Rechtsordnungen enthalten sind, weicht die konkrete Ausgestaltung der Kartellrechtsgesetze sowie deren Umsetzung in einigen Punkten signifikant voneinander ab. Die Ausführungen in diesem Buch befassen sich allein mit europäischem und deutschem Kartellrecht, sofern nicht ausdrücklich auf eine andere Rechtsordnung Bezug genommen ist.

1 BKartA, Informationsbroschüre „Offene Märkte – Fairer Wettbewerb“, S. 10. 2 Siehe hierzu ausführlich unter Rn. B 95. 3 Siehe hierzu ausführlich unter Rn. B 202. 4 Siehe hierzu ausführlich unter Rn. B 288. 5 EG-Fusionskontrollverordnung VO Nr. 139/2004, ABl. EU 2004 L 24/1. 6 Art. 53, 54 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, ABl. EG 1994 L 1/3.

II. Anwendbarkeit von Kartellrecht
1. Auswirkungsprinzip

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Die Anwendbarkeit deutschen und europäischen Kartellrechts bestimmt sich nach dem Auswirkungsprinzip. Dies gilt im Übrigen für die meisten Kartellrechtsordnungen weltweit und bedeutet: Weist eine Vereinbarung oder Verhaltensweise ein Potenzial zur spürbaren Wettbewerbsbeschränkung in der EU/in Deutschland auf, ist das europäische bzw. deutsche Kartellrecht anwendbar. Dies gilt unabhängig vom Willen der Vertragsparteien oder der von diesen getroffenen Rechtswahl. Irrelevant ist ebenfalls, ob ein oder alle an einer beschränkenden Vereinbarung oder einer kartellrechtswidrigen einseitigen Verhaltensweise beteiligten Unternehmen ihren Sitz in Deutschland oder der EU haben, sofern ihr Verhalten den deutschen bzw. den europäischen Markt betrifft. Umgekehrt bedeutet dies auch: Wettbewerbsbeschränkungen, die kein Potenzial haben, sich auf den Wettbewerb in der EU auszuwirken, fallen nicht in den Anwendungsbereich dieser Kartellrechtsordnung, ggf. aber unter die Kartellrechtsregeln eines anderen Landes. Abgrenzungshilfen für die Anwendbarkeit deutschen und europäischen Kartellrechts bieten die entsprechenden Leitlinien der Behörden.7

2. Verhältnis zwischen europäischem und deutschem und sonstigem nationalen Kartellrecht innerhalb der EU

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Deutsches und europäisches Kartellrecht sind grundsätzlich nebeneinander anwendbar, wobei die Anwendung europäischen Kartellrechts im Konfliktfall vorgeht.8

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Hat eine Verhaltensweise rein lokale Auswirkungen auf einen Mitgliedstaat der EU, fällt sie mangels Spürbarkeit der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels ggf. nicht unter europäisches, sondern allein unter das nationale Kartellrecht des jeweiligen Mitgliedstaats, bei Auswirkungen in Deutschland also allein in den Zuständigkeitsbereich des Bundeskartellamtes. Die praktischen Auswirkungen sind jedoch vergleichsweise gering: Im Bereich der zweiseitigen Verhaltenskontrolle sind die Kartellrechtsordnungen der Mitgliedstaaten voll an das EU-Kartellrecht angepasst. Im Bereich der einseitigen Missbrauchskontrolle können die Beurteilungsmaßstäbe nur strenger, nicht dagegen milder ausfallen. Das deutsche Kartellgesetz macht von der Möglichkeit einer strengeren einseitigen Verhaltenskontrolle Gebrauch.9

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Europäisches Kartellrecht ist auf der Ebene der Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbares Recht.10 Dies gilt auch für alle von der Kommission erlassenen Verordnungen, etwa zur Fusionskontrolle, und insbesondere für die sog. Gruppenfreistellungsverordnungen (siehe dazu unter Rn. B 104ff.). Die zur Erläuterung dieser Verordnungen ebenfalls von der Kommission erlassenen Leitlinien und Merkblätter haben dagegen nur für die Kommission selbst unmittelbare rechtliche Bindungswirkung, sofern sie nicht unmittelbar den Verordnungstext erläutern (siehe dazu unter Rn. B 110).

3. Kartellrechtsordnungen anderer Länder außerhalb des EWR

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Obgleich sich in allen Kartellrechtsordnungen weltweit gewisse gemeinsame Grundkonzepte wiederfinden, weichen die nationalen Kartellrechtsregeln, einschließlich deren Umsetzungen durch nationale Kartellbehörden und Gerichte, durchaus substanziell voneinander ab.

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Für ein international agierendes Unternehmen bedeutet dies, dass Compliance-Bemühungen alle Absatzmärkte eines Unternehmens im Blick haben müssen. Wie z.B. Bußgeldentscheidungen der chinesischen Kartellbehörde in Höhe von EUR 56 Mio. im sog. LCD-Bildröhrenkartell im Januar 2013,11 der südkoreanischen Kartellbehörde in Höhe von USD 854 Mio. gegen den Chiphersteller Qualcomm im Jahr 201612 oder ein Bußgeld der japanischen Kartellbehörde in Höhe von USD 330 Mio. gegen verschiedene Bauunternehmen im Juli 201913 zeigen, lässt sich die Kartellrechtsverfolgung nicht einem Land oder einer bestimmten Form der Marktwirtschaft zuordnen. So hat Indien seine zunächst nur in der Theorie existente Kartellrechtsordnung schon vor Jahren „scharf gestellt“. Auf dem lateinamerikanischen Kontinent ist Brasilien bei Kartellrechtlern schon seit Langem als ein Land bekannt, in dem die Kartellrechtsverfolgung einen sehr hohen Stellenwert einnimmt. Das Gleiche gilt auf dem afrikanischen Kontinent für Südafrika.14

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Wenn das Compliance-Konzept grundsätzlich steht, ist es je nach räumlichem Tätigkeitsgebiet des Unternehmens somit unverzichtbar, die Compliance-Maßnahmen, etwa in Form von Schulungen oder Verhaltensrichtlinien, auch im Ausland auszurollen. Hierfür ist die Einschaltung lokaler Anwälte notwendig, auch wenn diese sich gut an einem einmal ausgearbeiteten Konzept orientieren können. Umgekehrt ist stets sicherzustellen, dass im Ausland erarbeitete Compliance-Maßnahmen nicht unreflektiert auf die lokale deutsche Organisation übertragen werden.

7 Leitlinien der Kommission über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels, ABl. EU 2004 C 101/07; Merkblatt des Bundeskartellamtes zur Inlandsauswirkung, Januar 1999. 8 Art. 3 Abs. 2 S. 1 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2008 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrages niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. EG 2003 L 1/1 (VO 1/2003); § 22 Abs. 2 GWB. 9 Siehe dazu unter Rn. B 213ff. 10 Für Deutschland siehe § 22 Abs. 1 GWB. 11 Siehe Pressemitteilung der chinesischen Kartellbehörde v. 13.1.2013, abrufbar unter http://english.mofcom.gov.cn. 12 Siehe Pressemitteilung der koreanischen Kartellbehörde v. 28.12.2016, abrufbar unter www.ftc.go.kr. 13 Siehe Pressemitteilung der japanischen Kartellbehörde v. 31.7.2019, abrufbar unter www.jftc.go.jp. 14 Für einen globalen Überblick siehe OECD Competition Trends 2020, abrufbar unter https://www.oecd.org/daf/competition/OECD-Competition-Trends-2020.pdf.

III. Kartellrechtliche Grundbegriffe

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Es gibt Grundbegriffe und -prinzipien, die für die kartellrechtliche Beurteilung jeder unternehmerischen Verhaltensweise relevant sind. Um das Verständnis der unter Rn. B 95ff. kursorisch dargestellten Kartellrechtsvorschriften zu erleichtern, werden einige dieser Grundbegriffe hier „vor die Klammer“ gezogen und erläutert.

1. Wettbewerbsbeschränkung

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Ziel des Kartellrechts ist die Steigerung der Verbraucherwohlfahrt, indem der Wettbewerb vor Beschränkungen durch Unternehmen geschützt wird. Dahinter steht die Erkenntnis, dass Wettbewerb und Verbraucherwohlfahrt so zusammenhängen, dass mehr Wettbewerb mehr Verbraucherwohlfahrt und weniger Wettbewerb eine geringere Verbraucherwohlfahrt bedeuten. Liegt keine Wettbewerbsbeschränkung vor, bedarf es keines Schutzes des Wettbewerbs und kartellrechtliche Regeln kommen nicht zum Tragen. Das Kartellrecht legt dabei das sog. Selbstständigkeitspostulat zugrunde, wonach jedes Unternehmen eigenständig entscheiden muss, welche Geschäftspolitik es auf dem Markt verfolgt. Wird diese Freiheit beeinflusst – gleich ob diese Beeinflussung Zweck oder Folge des Handelns eines anderen Unternehmens ist –, liegt grundsätzlich eine Wettbewerbsbeschränkung vor.15

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Das europäische und deutsche Kartellrecht lassen es im Grundsatz ausreichen, dass ein unternehmerisches Verhalten das Potenzial zu einer Wettbewerbsbeschränkung hat. Die Unterscheidung zwischen bezweckter Wettbewerbsbeschränkung (oder im Englischen restriction by object) und bewirkter Wettbewerbsbeschränkung (im Englischen restriction by effect) kommt in der Praxis bei den Nachweiserfordernissen der Auswirkungen von Beschränkungen auf den Wettbewerb durch Behörden und Gerichte zum Tragen. Für bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen, d.h. Beschränkungen, die schon ihrem Wesen nach als schädlich für den Wettbewerb anzusehen sind, wie z.B. Kartellabsprachen, muss kein Nachweis eines wettbewerbsschädlichen Potenzials mehr erbracht werden; er wird vielmehr vermutet.16 Bei der Feststellung bewirkter Wettbewerbsbeschränkungen ist dies anders. Hier kommt es auf Auswirkungen auf die Marktbedingungen an.

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Die Unterscheidung zwischen bezweckten und bewirkten Wettbewerbsbeschränkungen wird in der Compliance-Arbeit häufig überschätzt: Geht es bei dieser doch ganz vorrangig darum, die bezweckten Wettbewerbsbeschränkungen abzustellen, d.h. solche, die aufgrund ihres Inhalts, der verfolgten Ziele und des wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhangs wettbewerbswidrig sind. Diese aufzuspüren, setzt keine Marktanalyse voraus. Oder mit den plastischen Worten des Generalanwalts Bobek in seinen Schlussanträgen in Sachen Budapest Bank et al. zur Frage, wie man bezweckte und bewirkte Wettbewerbsbeschränkungen voneinander unterscheidet:17

Wenn es wie ein Fisch aussieht und wie ein Fisch riecht, kann man davon ausgehen, dass es ein Fisch ist. Sofern dieser konkrete Fisch nicht auf den ersten Blick etwas ganz Seltsames an sich hat, wie etwa, dass er keine Flossen hat, in der Luft schwebt oder wie eine Lilie riecht, dann ist kein eingehendes Sezieren dieses Fisches notwendig, um ihn als solchen zu qualifizieren. Wenn der betreffende Fisch jedoch etwas Ungewöhnliches an sich hat, kann er gleichwohl als Fisch eingestuft werden, jedoch erst nachdem das betreffende Wesen eingehend untersucht worden ist.“

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Es gibt dennoch einige Vertragskonstellationen, in denen die Europäische Kommission sowie das Bundeskartellamt bestimmten Beschränkungen eine wettbewerbsbeschränkende Wirkung gänzlich absprechen, da es sich bei diesen Beschränkungen um sog. Nebenabreden handelt. Dies sind Beschränkungen, die eine Annexfunktion für eine kartellrechtlich neutrale Vereinbarung einer bestimmten Art einnehmen und notwendig sind, um deren Bestehen zu ermöglichen.18

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Hiervon zu unterscheiden sind Situationen, in denen eine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt, diese aber nicht spürbar ist und das Verhalten deshalb nicht in den Anwendungsbereich der kartellrechtlichen Verbotsnormen fällt. Sowohl die Europäische Kommission als auch das Bundeskartellamt haben Leitlinien herausgegeben, wann es aus Sicht der Verfolgungsbehörde an einer solchen Spürbarkeit fehlt, die Behörden also nicht tätig werden.19

2. Unternehmen

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Kartellrecht richtet sich ausschließlich an Unternehmen. Dabei legen sowohl das europäische als auch das deutsche Kartellrecht einen funktionalen Unternehmensbegriff zugrunde, der „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“20 erfasst. Der Unternehmensbegriff des Kartellrechts setzt damit lediglich eine wirtschaftliche Betätigung voraus und ist damit keineswegs auf Unternehmen im engeren Sinne einer juristischen Person beschränkt. Auch die öffentliche Hand als Körperschaft des öffentlichen Rechts ist ein Unternehmen, wenn sie sich wirtschaftlich und nicht rein hoheitlich betätigt. Gleiches gilt für natürliche Personen, sofern diese z.B. als Einzelhandelskaufmann, in freien Berufen, als Erfinder, Künstler oder Berufssportler wirtschaftlich tätig sind, d.h. nicht als Arbeitnehmer oder für den eigenen persönlichen Haushalt agieren.21

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Das Kartellrecht versteht unter einem Unternehmen stets die gesamte wirtschaftliche Einheit, also die Unternehmensgruppe oder den Konzern. Aus Unternehmenssicht positiv ist, dass konzerninterne Absprachen und Verhaltensweisen dann dem Beurteilungsmaßstab durch das Kartellrecht entzogen sind, wenn es den einzelnen Konzerntöchtern an Entscheidungsautonomie fehlt, da sie als beherrschte Konzernunternehmen anzusehen sind. Aus Unternehmenssicht negativ ist, dass das Kartellrecht für Umsatz- und Marktanteilsbetrachtungen stets den gesamten Konzern und nicht nur die einzelne agierende Konzerntochter betrachtet. Dies gilt im europäischen Kartellrecht auch für die Zurechnung kartellrechtlich relevanten Verhaltens. Hier sind im deutschen Kartellrecht mit der Schließung der sog. „Wurstlücke“22 durch den neuen § 81 Abs. 3a GWB wichtige Anpassungen erfolgt, um eine bis dato bestehende Haftungslücke zu schließen.23 Auch im deutschen Kartellrecht ist somit der Sache nach eine Konzernhaftung für Kartellrechtsverstöße eingeführt worden.24 Danach sind jetzt bei einheitlich geleiteten Unternehmen Geldbußen nicht nur gegen handelnde Tochtergesellschaften, sondern auch gegen ihre lenkenden Konzernmütter möglich, ohne dass diese durch eigene Organe oder Repräsentanten i.S. § 30 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 GWB tatbeteiligt waren. Zum anderen ist für die Fälle der Rechtsnachfolge und wirtschaftlichen Nachfolge durch § 80 Abs. 3b und c GWB die Haftung für Rechtsnachfolger spürbar verschärft worden. Neben der erweiterten Haftung von Gesamtrechtsnachfolgern sind nunmehr nach deutschem Kartellrecht erstmals auch gewisse Vermögensverschiebungen und Umstrukturierungen haftungsbegründend. Schließlich wurde mit § 81a GWB auch eine Ausfallhaftung für die Muttergesellschaft eingeführt, wenn die konzernangehörige Tätergesellschaft nach der Bekanntgabe der Einleitung des Bußgeldverfahrens erlischt oder ihr Vermögen so verschoben wird, dass ihr gegenüber keine Geldbuße mehr festgelegt werden kann.