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Einleitung

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Kartellrecht ist ein Rechtsgebiet, das schon seit Jahren einen Spitzenplatz bei den Compliance-Bemühungen von Unternehmen einnimmt. Grund dafür sind vor allem die spektakulär hohen Bußgelder, die national wie international für Kartellrechtsverstöße quer durch alle Branchen verhängt werden. Zudem haben Schadensersatzforderungen vonseiten der Kunden oder Wettbewerber gegen Unternehmen, die in kartellrechtswidrige Praktiken involviert waren, immense Bedeutung erlangt.

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Neben den hohen finanziellen Belastungen droht Unternehmen, die gegen Kartellrechtsregeln verstoßen, ein erheblicher Reputationsverlust, der sich insbesondere bei börsennotierten Unternehmen unmittelbar im Unternehmenswert niederschlägt. Hinzu kommen nichtige Vertragsbestimmungen, langwierige Behörden- oder Gerichtsverfahren und nicht zuletzt arbeitsrechtliche Konsequenzen für die handelnden Mitarbeiter. Aus Unternehmenssicht lassen sich diese Gefahren auf einen einfachen Nenner bringen: Die Einhaltung kartellrechtlicher Regeln darf nicht dem Zufall überlassen werden. Oder, um es mit dem prägnanten Satz zu sagen, der gerade im Hinblick auf die Einhaltung kartellrechtlicher Regeln nicht treffender formuliert sein könnte:

You think compliance is expensive – try non-compliance.“

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Was bedeutet „Compliance“ eigentlich genau? Die juristische Auslegung beginnt mit dem Wortsinn, sodass zunächst einmal auf die wörtliche Übersetzung abzustellen ist. Compliance bedeutet im hier gebrauchten Zusammenhang „Befolgung“, „Einhaltung“, „Erfüllung“ und „Ordnungsmäßigkeit“ von oder im Sinne von gesetzlichen Regelungen.1 Mit Compliance ist die Einhaltung von Rechtsvorschriften gemeint. Wenn wir von Kartellrechts-Compliance sprechen, meinen wir also in einem ersten Schritt die Einhaltung der kartellrechtlichen Vorschriften.

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Wenn die Einhaltung von kartellrechtlichen Vorschriften jedoch alles wäre, dann würde Compliance nur den allgemeinen Legalitätsgrundsatz beschreiben2 und dann hätten diejenigen Recht, die Compliance nur als modernes Wort für etwas sehen, was es schon immer gab.3 Compliance muss also im Zusammenhang mit der Führung und Organisation von Unternehmen mehr bedeuten als nur den Hinweis auf die Befolgung von Rechtsvorschriften.

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Warum sprechen wir, wenn wir die Einhaltung der straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften meinen, nicht von „Straßenverkehrsrechts-Compliance“? Warum sprechen wir nicht von „Arbeitsrechts-Compliance“, warum nicht von „Steuerrechts-Compliance“, sondern nutzen für den letzteren Bereich immer noch den altertümlichen Begriff von der „Steuerehrlichkeit“? Möglicherweise liegt dies einfach daran, dass es hinsichtlich des Straßenverkehrsrechts, des Arbeitsrechts und des Steuerrechts für jeden selbstverständlich ist, dass es – wie alle Rechtsvorschriften – befolgt werden muss und Verstöße nachteilige Konsequenzen nach sich ziehen. Und es gibt weitere Unterschiede:

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So müssen wir, bevor wir uns mit einem Kraftfahrzeug im Straßenverkehr bewegen dürfen, einen Führerschein erwerben. Diesen bekommen wir nur nach praktischer und theoretischer Ausbildung. Die Theorie ist geprägt von einer Vermittlung der Rechtsregeln für den Straßenverkehr. Wer am Straßenverkehr teilnimmt, hat sich also (mindestens) einmal im Leben grundlegend mit dessen Regeln und Rechtsvorschriften vertraut gemacht und kann dann auch guten Gewissens für Verstöße in Anspruch genommen werden.4 Mit der Kartellrechts-Compliance ist das völlig anders: Wer am Geschäftsverkehr teilnehmen will, muss dafür keinen Führerschein erwerben und er muss sich auch nicht durch Theorie-Stunden quälen. Trotzdem wird erwartet, dass er sich an die für den Geschäftsverkehr geltenden Regeln hält. Und wenn er sich nicht daran hält, gibt es Bußgelder – wie im Straßenverkehr, nur höher.

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Im Arbeitsrecht geht es um die Regelung des Verhältnisses des Unternehmens zu seinen Mitarbeitern. Die Einhaltung der entsprechenden Vorschriften kann durch spezialisierte Mitarbeiter sichergestellt werden. Der einzelne ist vom Arbeitsrecht grundsätzlich nur für sich selbst betroffen. Und wenn alles gut läuft, nimmt er es nur geräuschlos im Hintergrund wahr.

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Das Steuerrecht stellt anders als Straßenverkehrs- und Arbeitsrecht keine Verhaltensanforderungen an Unternehmen oder Individualpersonen. Es ist dem Steuerrecht völlig gleichgültig, wie ich mich verhalte. Das Steuerrecht ist kein Recht, das aus wertbasierten Normen besteht oder das das Zusammenleben in Gemeinschaften oder das Zusammenwirken auf Märkten regeln soll. Es regelt nur, wer wieviel für das, was er getan oder erlangt hat, als Steuern zahlen muss. Mit der Anweisung an die Steuerabteilung oder an die externen Steuerberater, sich im Zweifel für die rechtmäßige Variante zu entscheiden, ist im Hinblick auf die Einhaltung von Rechtsvorschriften (Compliance) alles getan, was man tun kann. Für so wenig brauchte man offensichtlich keinen neuen Begriff.

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Das Besondere an den Gebieten, die heute wie auch das Kartellrecht im Rahmen der Umsetzung im Unternehmen mit dem Begriff „Compliance“ belegt werden, ist also wohl, dass sie neben der bloßen Einhaltung von Rechtsvorschriften eine unternehmensinterne auf dieses Ziel ausgerichtete Organisation verlangen.5 Compliance betrifft also die Verhaltenssteuerung von Personen im Hinblick auf das Einhalten von Rechtsvorschriften, und dies dann umfassend, also mit allem, was dazugehört. Der Gesetzgeber hat Compliance im Rahmen der 10. GWB-Novelle in § 81d Abs. 1 S. 2 Nrn. 4 und 5 GWB als „Vorkehrungen zur Vermeidung und Aufdeckung von Zuwiderhandlungen“ definiert. Etwas wissenschaftlicher hört sich das so an: „Der Begriff der Kartellrechts-Compliance kann heute ... als ... Oberbegriff für sämtliche Wertentscheidungen, Prinzipien, Vorgaben und Prozesse im Unternehmen verstanden werden, die dem Ziel eines systematischen, unternehmensweit integrierten Kartellrechts-Risikomanagements dienen.“6

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Kartellrechts-Compliance ist wichtig für alle Unternehmen, ungeachtet der Frage, welche Größe das Unternehmen aufweist, welcher Branche es angehört und ob es regional oder international tätig ist. Der Gesetzgeber erkennt jetzt in § 81d Abs. 1 S. 2 Nr. 4 GWB an, dass die Compliance-Anforderungen „angemessen“ sein, d.h. den unternehmensspezifischen Anforderungen entsprechen müssen.7 Der internationale Großkonzern steht für den Aufbau einer Compliance-Organisation schon rein logistisch vor anderen Herausforderungen als ein regionaler Mittelständler, dennoch haben beide Unternehmen die gleichen Grundaufgaben zu bewältigen, die sich auf drei Kernpunkte herunterbrechen lassen: Wie lässt sich in der konkreten Unternehmensstruktur sicherstellen, dass kartellrechtliche Verstöße (i) identifiziert, (ii) abgestellt und (iii) für die Zukunft verhindert werden können? Wenn diese Frage erfolgreich beantwortet wird, ist das Unternehmen weitgehend gegen hohe Bußgelder gesichert: Entweder werden Zuwiderhandlungen im Vorhinein verhindert oder sie werden zumindest so frühzeitig entdeckt – etwa durch einen Compliance-Audit –, dass sie nicht erst im Rahmen von kartellrechtbehördlichen Ermittlungen aufgedeckt werden. Das ist der Bereich der Compliance-Defense, mit dem dieses Buch beginnt (Teil A).

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Dieses Buch bietet praktische Hilfestellung bei der Bewältigung der Aufgabe, ein angemessenes und wirksames Compliance-System aufzubauen. Es richtet sich damit an alle, die sich intern im Unternehmen oder extern für ein Unternehmen damit befassen, Strukturen, Richtlinien und Prozesse zu schaffen, um die Einhaltung kartellrechtlicher Regeln dauerhaft sicherzustellen und zu überprüfen.

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Dieses Buch ist kein Kartellrechts-Handbuch. Materielle kartellrechtliche Vorschriften werden insoweit und nur unter dem Aspekt angesprochen, wie es für Zwecke der Identifizierung kartellrechtlicher Risiken und der Schaffung und Aufrechterhaltung kartellrechtlicher Compliance-Strukturen im Unternehmen notwendig ist. Diese Analyse der im Unternehmen konkret vorhandenen kartellrechtlichen Risiken ist der erste und grundlegende Schritt eines erfolgreichen Compliance-Programms. Je nachdem, welche Geschäftspraktiken ein Unternehmen verfolgt, kann die Darstellung des Kartellrechts in Teil B des Buches eine vertiefte Auseinandersetzung mit einzelnen kartellrechtlichen Normen im Zuge der Compliance-Arbeit jedoch nicht ersetzen.

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Nach den Grundlagen für die Risikoanalyse folgen dann im dritten Teil (Teil C) des Handbuches aus Anwendersicht geschriebene Ausführungen dazu, wie Kartellrechts-Compliance im Unternehmen praktisch sichergestellt und umgesetzt werden kann.

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Und schließlich kann es auch bei einem perfekten Compliance-Programm passieren, dass etwas schiefgeht, also die „Kartellrechts-Krise“ eintritt. Wie damit umzugehen ist, erörtern wir im vierten Teil des Buches (Teil D).

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Abgerundet wird das Handbuch durch Materialien (Teil E), die den Einstieg erleichtern, also besonders bei der erstmaligen Befassung mit der Materie hilfreich sein sollen.

1 Und viele andere Bedeutungen mehr, siehe www.leo.org. 2 Kremer/Klahold, ZGR 2010, 113, 116. 3 Siehe hierzu die Zitate von Kasten, in: Mäger, Europäisches Kartellrecht, 2. Aufl. 2011, 2. Kap. Rn. 2. 4 Dieser Grundsatz der Verantwortlichkeit für eigenes Verhalten gilt – unabhängig davon, ob man die einzuhaltenden Regeln kannte – nicht nur im Straßen-, sondern auch im Geschäftsverkehr: Wer am Wirtschaftsleben teilnimmt, wer auf Märkten operiert, kann sich nicht hinterher seiner Verantwortlichkeit dadurch entziehen, dass er darauf verweist, er habe bestimmte Vorschriften nicht gekannt. Er hätte sie kennen können und müssen. 5 Kremer/Klahold, ZGR 2010, 113, 117, sehen darin die Übernahme eines amerikanischen Rechtsmodells, dessen unreflektierte Übernahme in die deutsche Unternehmenskultur nur bedingt gelingen könne. 6 Kasten, in: Mäger, Europäisches Kartellrecht, 2. Aufl. 2011, 2. Kap. Rn. 3 a.E.; Hervorhebung durch die Verfasser. 7 Siehe sogleich zur Compliance-Defense Rn. A 1ff.

Teil A Die Compliance-Defense

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Nachdem im wahrsten Sinne des Wortes jahrzehntelang darum gekämpft wurde, ist die sog. „Compliance-Defense“ im Bußgeldverfahren im Rahmen der 10. GWB-Novelle („GWB-Digitalisierungsgesetz“)1 mit Wirkung zum 19.1.2021 nun vollständig in das Gesetz geschrieben worden. Bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße, die gegen Unternehmen wegen Verstößen gegen das Kartellverbot (§ 1 GWB, Art. 101 AEUV) oder das Missbrauchsverbot (§§ 19–21 GWB, Art. 102 AEUV) festgesetzt werden, kommen jetzt nach § 81d Abs. 1 S. 2 GWB als abzuwägende Umstände insbesondere auch in Betracht:

 „4. ... vor der Zuwiderhandlung getroffene, angemessene und wirksame Vorkehrungen zur Vermeidung und Aufdeckung von Zuwiderhandlungen und

 5. ... nach der Zuwiderhandlung getroffene Vorkehrungen zur Vermeidung und Aufdeckung von Zuwiderhandlungen.“ [Hervorhebungen hinzugefügt]

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Insbesondere die neue Regelung in § 81d Abs. 1 S. 2 Nr. 4 GWB – das ist die eigentliche Compliance-Defense – ist gegenüber der 1. Auflage ein Grund mehr, in dieses Compliance-Handbuch Kartellrecht nicht nur hineinzuschauen, sondern es auch durchzuarbeiten und die in ihm enthaltenen Empfehlungen umzusetzen. Die jetzt ausdrücklich in § 81d Abs. 1 S. 2 Nr. 5 GWB aufgenommene Regelung zur Berücksichtigung von Compliance-Maßnahmen nach Tatbegehung wurde dagegen schon vor der 10. GWB-Novelle in Ordnungswidrigkeitenverfahren im Rahmen des positiven Nachtatverhaltens berücksichtigt; die Bestimmung ändert also nichts, sie hat nur klarstellende Funktion.

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Dieses Handbuch fokussiert sich zwar nicht auf die Verteidigung im Bußgeldverfahren des Bundeskartellamtes2, schafft aber für den Anwender des hierin dargestellten Standes der Compliance-Technik die Voraussetzungen, dass ihm die Vorteile der Compliance-Defense im Falle eines Falles zugutekommen. Dadurch lassen sich Ausgaben für Compliance zukünftig besser rechtfertigen3, da sie entweder Verstöße verhindern oder jedenfalls, wenn doch verstoßen wird, das dann zu verhängende Bußgeld mindern.

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Mit der Anerkennung der Compliance-Defense hat der deutsche Gesetzgeber eine Lücke im System geschlossen, die bisher den einen oder anderen an der Sinnhaftigkeit von Compliance zweifeln ließ. Der bisher von vielen Verfolgungsbehörden einschließlich der Europäischen Kommission4 angewandte Grundsatz „Die zu bebußende Zuwiderhandlung beweist die unzureichenden Compliance-Bemühungen“ ist zwar nach wie vor richtig, aber das nur im Hinblick auf die individuell verstoßende Person, nicht im Hinblick auf das dafür gegebenenfalls haftende Unternehmen. Die Behörden, die den Grundsatz auch heute noch unterschiedslos auf Unternehmen anwenden, denen es schlicht und einfach unmöglich ist, eine 100 %ige Kontrolle über Arbeitnehmer auszuüben, lassen das notwendige Verständnis für die reale Welt vermissen. In dieser gibt es Menschen mit einer „kriminellen Energie“, die sich weder von sanktionsbewehrten Anordnungen abschrecken lassen noch über ansonsten wirksame Überwachungsmechanismen zu fassen sind.

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Die Compliance-Defense beschreibt die Möglichkeit, in Bußgeldverfahren ein effektives Compliance-System bei der Festsetzung der Bußgeldhöhe zu berücksichtigen. Sie kann eine Reduzierung der Bußgeldhöhe, aber auch das völlige Wegfallen eines Bußgeldes bewirken: Wenn das Unternehmen alles getan hat, was man tun kann, aber ein mit krimineller Energie ausgestatteter Mitarbeiter des Unternehmens eine Zuwiderhandlung begangen hat, ist ein Unternehmensbußgeld nicht mehr gerechtfertigt.5 Für die Haftung eines Betriebsinhabers wegen unterlassener Aufsichtsmaßnahmen nach § 130 OWiG ergibt sich das bereits aus dem Tatbestand dieser Vorschrift, für die Haftung des Unternehmens nach § 30 OWiG aus der Compliance-Defense. Um zu sachgerechten Entscheidungen zu kommen und letztlich auch den Wert von Compliance in Unternehmen zu steigern, ist die Compliance-Defense international auf dem Vormarsch6 und – nicht zuletzt dank einer Erinnerung des BGH im Jahre 20177 – nun im GWB fest verankert. Worum geht es im Detail?

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Es geht um „Compliance“, die der Gesetzgeber als „Vorkehrungen zur Vermeidung und Aufdeckung von Zuwiderhandlungen“ definiert. Für die Geltendmachung der Compliance-Defense müssen diese Vorkehrungen nach den Gesetzesvorgaben „angemessen und wirksam“ sein. Die Vorkehrungen sind auf jeden Fall dann wirksam, wenn sie zur Vermeidung von Zuwiderhandlungen oder zur Aufdeckung von Zuwiderhandlungen führen. Nur wenn das „und“ im Gesetzestext als „oder“ verstanden wird, macht die Regelung Sinn. Denn bei der Vermeidung gibt es wie bisher kein Kartellverfahren – es ist ja noch mal gut gegangen. Neu ist allerdings die Aufdeckung als Nachweis der Wirksamkeit des Compliance-Programms.

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Nach der Gesetzesbegründung8 soll durch das Wort „angemessen“ dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Art und der Umfang von Compliance-Maßnahmen typischerweise von der Unternehmensgröße abhängig sind und dass es dabei auf den Einzelfall ankommt. Konkret zu berücksichtigen sind:

 – Art des Unternehmens,

 – Größe des Unternehmens,

 – Organisation des Unternehmens,

 – Gefährlichkeit des Unternehmensgegenstandes,

 – Anzahl der Mitarbeiter,

 – zu beachtende Vorschriften,

 – Risiko der Verletzung dieser Vorschriften.

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Über diese Aufzählung hinaus wird nur noch darauf hingewiesen, dass für kleine und mittlere Unternehmen mit geringem Risiko von Rechtsverletzungen auch wenige einfache Maßnahmen ausreichend sein können; insbesondere der Zukauf eines Compliance-Programms oder von Zertifizierungen sei in diesen Fällen regelmäßig nicht erforderlich.

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Wie oben ausgeführt, sind Vorkehrungen zur Aufdeckung von Zuwiderhandlungen logischerweise dann „wirksam“, wenn sie zur Aufdeckung der Zuwiderhandlung geführt haben. Das ist genauso richtig, wie Vorkehrungen zur Vermeidung von Zuwiderhandlungen dann wirksam sind, wenn sie eine Zuwiderhandlung vermieden haben. Es spielt also nach der Entdeckung (und Abstellung) des Verstoßes keine Rolle, wie sich das Unternehmen danach verhält, ob es also den entdeckten (und abgestellten) Verstoß zur Anzeige bringt. Das ist auch logisch nachzuvollziehen, weil es sich bei diesem Verhalten nach Entdeckung und Beendigung der Zuwiderhandlung um Nachtatverhalten handeln würde, es bei der „Wirksamkeit“ im Sinne von § 81d Abs. 1 S. 2 Nr. 4 GWB jedoch um die Beurteilung von Compliance-Maßnahmen vor der Tat geht.

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Hier sorgt nun die Gesetzesbegründung für Verwirrung. Richtigerweise stellt sie zunächst zur Compliance-Defense fest, dass „damit Fälle, in denen der Inhaber eines Unternehmens alle objektiv erforderlichen Vorkehrungen ergriffen hat, um Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen durch Mitarbeiter wirksam zu verhindern, berücksichtigt werden können“.9 Doch sodann folgt ein Satz, der in die Irre führt und vom Gesetzeswortlaut, der die Grenze zulässiger Auslegung markiert, auch nicht mehr gedeckt ist: „Dies [= Berücksichtigung der im vorhergehenden und soeben zitierten Satz genannten Fälle] ist in der Regel dann anzunehmen, wenn die ergriffenen Maßnahmen zur Aufdeckung und Anzeige der Zuwiderhandlung geführt haben.“10

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Die Anzeige als Zusatzerfordernis für die Compliance-Defense aufzunehmen ist geradewegs „contra legem“; der Wortlaut gibt ein solches Verständnis nicht mehr her, sodass schon aus diesem Grund der Versuch ausscheidet, mit Sinn und Zweck der Regelung zu argumentieren. Aber auch der Sinn und Zweck, Compliance-Maßnahmen im Sinne einer besseren, kartellrechtlich „sauberen“ Welt zu fördern, gebietet das Zusatzerfordernis der Anzeige nicht. Es hat nichts mit der Wirksamkeit der Maßnahme zu tun, diese ist allein durch die Aufdeckung schon bewiesen. Ob der aufgedeckte Verstoß dann als erster, zweiter oder dritter bei der Behörde angezeigt wird, ob dies mit oder ohne Antrag nach dem Kronzeugenprogramm geschieht oder ob die Behörde durch Hinweis oder Durchsuchung von der aufgedeckten Zuwiderhandlung erfährt, spielt dann keine Rolle mehr.

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Der schwierigste Bereich der Compliance-Defense ist betroffen, wenn die Kartellbehörden beurteilen müssen, ob das vorhandene Compliance-Programm des Unternehmens, dessen Mitarbeiter die Zuwiderhandlung begangen haben, „angemessen und wirksam“ ist. Die Maßstäbe für die Angemessenheit aus der Gesetzesbegründung sind schon oben genannt, mit Maßstäben für die Wirksamkeit tut sich die Gesetzesbegründung allerdings schwer.

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Nach der Gesetzesbegründung ist ein Compliance-Programm wirksam, das „alle erforderlichen Vorkehrungen“11 trifft. Richtigerweise wird auch festgehalten, dass es nicht von vorneherein gegen die Ernsthaftigkeit des Bemühens, kartellrechtliche Zuwiderhandlungen zu vermeiden, spricht, wenn es trotz des Compliance-Programms zu einer Zuwiderhandlung gekommen ist. Allerdings heißt es dann, und hier verfällt man in alte Argumentationsmuster zurück, dass bei Nicht-Aufdeckung (und Anzeige – aber der Hinweis ist gesetzeswidrig) der Zuwiderhandlung die trotz Compliance-Programm begangene Zuwiderhandlung darauf hinweise, dass ein Defizit bei der Compliance vorliege. Dieser Schluss ist falsch, genau das ist zu ermitteln. Und wenn das Bundeskartellamt bei seinen Ermittlungen zum Schluss kommt, dass die Zuwiderhandlung durch ordnungsgemäße Compliance verhindert oder wesentlich erschwert worden wäre, kann – natürlich, möchte man sagen – nur das grundsätzliche Bemühen um Compliance zu einer allenfalls geringen Bußgeldminderung führen.

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Mit diesem Regelverständnis ergibt sich für die verschiedenen Fallkonstellationen konkret Folgendes:

 – Die Compliance-Defense gilt für alle Unternehmen unabhängig davon, ob sie nach § 30 OWiG oder nach § 130 OWiG für eine Zuwiderhandlung durch Mitarbeiter des Unternehmens haften.

 – Die Compliance-Defense gilt für alle Unternehmen unabhängig davon, ob sie eine von Mitarbeitern begangene Zuwiderhandlung aufgedeckt haben oder nicht. Wurde die Zuwiderhandlung nicht vom Unternehmen aufgedeckt, bedarf es jedoch positiver Darlegungen zur Angemessenheit und Wirksamkeit des vorhandenen Compliance-Programms.

 – Die Compliance-Defense gilt für alle Unternehmen unabhängig davon, ob sie eine aufgedeckte Zuwiderhandlung dem Bundeskartellamt anzeigen oder nicht. Das Erfordernis einer Anzeige ergibt sich aus dem Gesetz nicht.

 – Die Compliance-Defense gilt für alle Unternehmen unabhängig davon, ob sie einen Kronzeugenantrag gestellt haben; bei einem erfolgreichen Kronzeugenantrag als erster bedarf es dank der Bußgeldreduzierung auf Null der Compliance-Defense jedoch nicht mehr.

 – Ist die Wirksamkeit des Compliance-Programms nicht durch die Aufdeckung der Zuwiderhandlung nachgewiesen, muss das Bundeskartellamt die objektiv erforderlichen Vorkehrungen ermitteln und prüfen, ob diese (i) über das vorhandene Compliance-Programm hinausgehen und sie (ii) die begangene Zuwiderhandlung verhindert oder wesentlich erschwert hätten.12 Ist beides der Fall, kommt nur noch eine Honorierung des generellen Bemühens durch eine wohl allenfalls geringfügige Senkung des Bußgelds in Betracht.

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Ein Wermutstropfen zum Schluss: Die Compliance-Defense gilt bei Zuwiderhandlungen von Mitarbeitern, nicht bei Zuwiderhandlungen der Geschäftsleitung selbst. Wegen des „top-down“-Grundsatzes13 kann ein Compliance-Programm nicht ordnungsgemäß sein, wenn der „oberste Chef“ selbst der zuwiderhandelnde Mitarbeiter ist. Hierauf weist die Gesetzesbegründung zu Recht hin. Aber auch insoweit verbieten sich vorschnelle Schlussfolgerungen: Wird das Unternehmen durch ein Kollegialorgan geleitet, trifft die „Chef-Regel“ nur auf alleinvertretungsberechtigte Vorsitzende des Kollegialorgans zu, also z.B. auf den Vorstandsvorsitzenden oder den CEO. Wird die Zuwiderhandlung dagegen von einem nicht alleinvertretungsberechtigten Mitglied eines solchen Kollegialorgans begangen – und selbst wenn dieses eine herausgehobene Stellung einnimmt –, beeinträchtigt dies allein die Wirksamkeit des Compliance-Programms nicht. Mit Gesamtvertretung hätte der Vorstand in diesem Beispiel sich ausreichend gegen die kriminelle Energie eines Einzelnen abgesichert.

1 BGBl. I 2021, 2ff. 2 Einige Gedanken zur Verteidigung finden sich in Rn. D 52ff. 3 Darauf weisen auch Ritz/Weiß, NZKart 2020, 364, 370 hin. 4 Compliance-Programme werden von der Kommission nach wie vor nicht als mildernder Umstand bei der Bußgeldbemessung berücksichtigt, siehe hierzu Steger/Schwabach, WuW 2021, 138, 139f. und Rn. B 46. 5 Holzhäuser/Blome, BB 2020, 1232, 1233. 6 Es weht ein „Wind of Change“, wie Ritz/Weiß, NZKart 2020, 364 feststellen. Siehe auch die Hinweise zu den Ländern Italien, Großbritannien, Frankreich, die USA und Schweiz unter Fn. B 38. 7 BGH, Urt. v. 9.5.2017, Az. 1 StR 265/16, BB 2017, 1931 (mit Anm. Behr). 8 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie, BT-Drucks. 19/25868, S. 123. 9 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie, BT-Drucks. 19/25868, S. 122. 10 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie, BT-Drucks. 19/25868, S. 122. 11 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie, BT-Drucks. 19/25868, S. 122. 12 Die bisherigen Vorbehalte des Bundeskartellamtes gegen eine Prüfung der Wirksamkeit von Compliance-Programmen (Tätigkeitsbericht 2013/2014, BT-Drucks. 18/5210, S. 13) greifen – worauf Seeliger/Gürer, WuW 2020, 634, 635 re.Sp. zu Recht hinweisen – nicht mehr. Schon nach § 8 Abs. 1 S. 1 WRegG muss das Bundeskartellamt sich die entsprechende Expertise aneignen. 13 Siehe unten Rn. C 4ff.