Reisen zum Ende der Welt

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Reisen zum Ende der Welt
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Jörg M. Pönnighaus

Reisen zum Ende der Welt

Gespräche mit Sterbenden

ATHENA

edition exemplum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

E-Book-Ausgabe 2014

Copyright der Printausgabe © 2014 by ATHENA-Verlag,

Copyright der E-Book-Ausgabe © 2014 by ATHENA-Verlag,

Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen

www.athena-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Print) 978-3-89896-581-1

ISBN (ePUB) 978-3-89896-863-8

Vor 44 Jahren

»Ja,

die zehn Monate,

die ihr noch gegeben waren –

bei der letzten Operation

war ihr Bauch schon voller Metastasen –

hat meine Mutter

noch intensiv genutzt«,

sinnierte Herr K.

»›Jesus

hat mich nicht verlassen‹

hat sie

noch am letzten Tag

zu uns Kindern gesagt.

Und ich denke,

eine Sterbende

lügt nicht.«

Herr Böhm

Freitag, 13. August 2010

Halb sieben in der Klinik. Verbandswechsel. Oberarztvisite. Dann ein ungeduldiger Anruf vom Op, dass Herr Gustmann seit einer halben Stunde auf dem Tisch liege … den Patienten zusammen mit den Unfallchirurgen operiert. Ein Anruf von Frau Froh, wo ich denn bleibe, sie habe eine Privatpatientin für eine Ultraschalluntersuchung für mich. Aber als ich von Frau B. (der Pflegedienstleiterin, die ich für die Ethikkommission gewinnen wollte) zurückkam, nahm ich mir einfach die Zeit und ging zu Herrn Böhm. Er war gerade im Bad, genauer gesagt, in der »Nasszelle« von seinem Zimmer. Ich setzte mich an sein Bett am Fenster. Draußen regnete es schon wieder in Strömen. Herr Böhm ist 65 Jahre alt. Er kam am Mittwoch. Er erzählte mir bei der Aufnahme kurz, dass er mich kenne, ich hätte vor 12 Jahren ein Melanom bei ihm herausgeschnitten. Auf seinem Rücken.

Herr Böhm setzte sich auf sein Bett.

»Ich habe keine guten Nachrichten für Sie«, sagte ich, »alle fünf Knoten waren Melanommetastasen. Und da hat es einfach keinen Sinn, darum herumzureden. Alle fünf Knoten waren Metastasen. Ich habe eben das Untersuchungsergebnis bekommen.«

Herr Böhm nickte: »Sie hatten ja gesagt, Sie würden heute das Ergebnis bekommen. Und es überrascht mich nicht, dass es Metastasen waren. Die Knoten kamen so schnell …«

Drei von den fünf Metastasen hatte ich nicht einmal im Gesunden exzidiert, aber das wollte ich Herrn Böhm nicht sagen.

»Die Metastase in der Oberlippe ist vielleicht noch nicht im Gesunden herausgeschnitten. Aber das hatte ich auch nicht erwartet, dass ich die vollständig exzidiert hatte. Ich wollte Ihre Oberlippe nicht verunstalten, ohne zu wissen, was es genau war.«

Herr Böhm nickte.

»An der Oberlippe werde ich also bestimmt noch einmal nachschneiden müssen. Dort können wir keine Metastase wachsen lassen. Das wäre schlimm!«

»Und wie wird es jetzt weitergehen?«

»Na ja, jetzt müssen wir Sie einfach von Kopf bis Fuß durchuntersuchen und dann weitersehen. Wenn wir keine weiteren Auffälligkeiten finden, sollte ich nicht nur die Oberlippe noch einmal operieren – das sowieso – sondern einfach alle Stellen noch einmal nachschneiden, um eventuelle Krebszellen in der Umgebung noch zu erwischen … Wenn wir keine weiteren Metastasen finden, heißt das freilich nicht, dass Sie keine weiteren haben. Metastasen müssen einfach eine gewisse Größe haben, bevor sie im CT oder im Röntgen und erst recht im Ultraschall auffallen. Einen Beweis dafür, dass keine Melanomzellen mehr im Körper sind, gibt es nicht.«

Herr Böhm nickte. »Und was gibt es noch für Optionen«, fragte er dann.

»Na ja, wenn sich nichts weiter findet, werden wir Ihnen eine sogenannte Immuntherapie anbieten. Wenn sich weitere Metastasen finden, bleibt nur eine Chemotherapie – soweit sich der eine oder andere Knoten nicht vielleicht auch noch herausschneiden lässt. Aber von beiden Behandlungen dürfen Sie nicht viel erwarten, nicht zu viel erwarten. Auf eine Chemotherapie sprechen kaum 20 % aller Melanompatienten an und die Immuntherapie verlängert die Lebenszeit im Schnitt auch nur von 33 auf 36 Monate, wenn ich mich richtig an die Studie erinnere, auf der die ganze Immuntherapie basiert. Mehr nicht.«

»Und was sind die Nebenwirkungen?«

»Die übelste Nebenwirkung der Immuntherapie ist eine Depression. Wenn die sich einstellt, muss man einfach mit der Behandlung aufhören. Es hat keinen Sinn, wenn sich ein Patient wegen der Behandlung vor einen Zug legt. Und die Chemotherapie geht halt aufs Knochenmark. In rosigeren Farben kann ich Ihnen die Behandlungsmöglichkeiten einfach nicht malen.«

»Ich danke Ihnen, dass Sie so ehrlich zu mir sind. Und ich danke Ihnen, dass Sie sich diese Zeit für mich genommen haben. Wozu würden Sie mir denn raten?«

Ich zögerte: »Ach, wissen Sie, da spielt so vieles eine Rolle … Sind Sie verheiratet?«

»Ja.«

»Und was macht Ihre Frau?«

»Sie ist auch in Rente. Sie war Krankenschwester … Und ich verdanke ihr mein Leben. Als wir 1997 auf Kreta im Urlaub waren, hat sie mich immer eingerieben. Und im Frühjahr 98 hat sie dann plötzlich gesagt, da ist was Neues auf deinem Rücken. Du musst damit zum Arzt. Na ja, wie Männer so sind, ich bin dann erst im Herbst 98 zu Ihnen gekommen. Aber trotzdem.«

»Dachte ich es mir doch, dass Sie von Medizin eine Ahnung haben! Haben Sie Kinder?«

»Eine Tochter.«

»Und Enkel?«

»Ja, zwei Enkel, die sind 16 und 18.«

»Und wo wohnen die?«

»In Erfurt. Aber mein Schwiegersohn arbeitet in Köln und kommt nur wochenends. Und da fahre ich alle drei Monate nach Erfurt, um mich für meine Tochter ums Haus zu kümmern. Die ist nicht so praktisch veranlagt.«

»Was haben Sie von Beruf gemacht?«

»Ich war Bauingenieurlehrer.«

»Ah ja. Aber wieso führt Ihre Tochter eine Wochenendehe.«

»Mein Schwiegersohn ist Wessi. Meine Tochter hat ihn bei einem Besuch in Frankfurt am Main kennen gelernt. Er war Bereichsleiter bei LIDL und wurde dann nach Erfurt versetzt. Dort haben sich die beiden dann ein Haus gebaut. Aber nach ein paar Jahren wurde ihm eine Stelle als Gebietsleiter in Köln angeboten. Und seitdem führen die beiden eine Wochenendehe.«

»Das taugt nichts. Oder jedenfalls nur für eine gewisse Zeit.«

»Nein, das taugt nichts. Kein bisschen taugt das. Ich habe damals bei der Wende gesagt, wir haben uns seit vierzig Jahren auseinander entwickelt. Nun glaubt doch bloß nicht, wir würden nahtlos wieder zusammen passen. Aber alle waren so euphorisch. Da durfte man so etwas nicht laut sagen. Dann gehörte man zu den Gestrigen. Jetzt weiß ich, dass ich Recht hatte.«

»Und was haben Sie nach der Wende gemacht?«

»Erst war ich ein Jahr lang arbeitslos, dann habe ich eine Sauna gebaut und die betrieben. Dabei habe ich natürlich mit meiner Gesundheit Raubbau betrieben. Morgens um acht bis abends um halb zwölf in der Sauna. 600.000 DM hat der Bau damals gekostet, aber inzwischen habe ich die Schulden auf die Hälfte reduzieren können und die Sauna abgegeben. Nicht verkauft, abgegeben. Mit den restlichen Schulden.«

»Wo wohnen Sie?«

»In Auerbach.«

»Richtig, das sagten Sie schon am Mittwoch. Und, reicht denn die Rente?«

»Ja, ich habe zu DDR Zeiten gut verdient, und darum reicht die Rente. Aber wie lange habe ich denn jetzt noch?«

»Ach, wissen Sie, das kann Ihnen niemand sagen, wie viel Zeit Sie noch haben. Es kann sein, dass Sie nur noch sechs Monate haben und es kann sein, dass Sie noch sechs Jahre haben. Das weiß wirklich niemand. Sie müssen einfach mit dem Schlimmsten rechnen und doch die Hoffnung nicht aufgeben.«

»Na ja, so schlimm ist das Sterben ja auch nicht.«

»Das sagen Sie so. Wenn das Sterben noch weit weg ist, kann man leicht sagen, das ist nicht so schlimm. Aber wenn es näher und näher kommt, ist es dann plötzlich doch nicht mehr so einfach zu sterben. Das kenne ich wohl. Glauben Sie, dass mit dem Tod alles vorbei ist?«

»Nein.«

»Na ja, das ist ja immerhin etwas. Aber trotzdem. Wenn es so weit ist, fällt es doch plötzlich schwer, dieser schönen Erde Adieu zu sagen.«

Herr Böhm fing plötzlich an zu weinen.

Ich streichelte ihm über seine Hand.

»Ich kann das nicht jetzt entscheiden, was ich machen lassen will. Da muss ich vorher noch einmal nach Hause.«

»Es kann ja auch heute gar nichts entschieden werden. Erst einmal müssen wir Sie ja durchuntersuchen, um zu sehen, was sinnvoll ist. Und natürlich sollten Sie zusammen mit Ihrer Frau entscheiden. Sie können am Wochenende gerne nach Hause fahren. Bei Krebspatienten sehen wir das nicht so eng. Morgen früh mache ich noch einen Verbandswechsel bei Ihnen und danach, sagen wir so um 10 Uhr, können Sie nach Hause fahren.«

»Danke. Sie kommen morgen früh?«

Immer noch liefen Herrn Böhm die Tränen über sein Gesicht.

»Ich kann auch gerne mit Ihnen und Ihrer Frau zusammen reden, denn ich weiß ja, dass Sie bestimmt nicht alles verstanden haben, was ich gesagt habe. Niemand bekommt beim ersten Mal alles mit, was der Arzt ihm sagt.«

»Da haben Sie gewiss Recht. Ich habe mich natürlich schon übers Internet informiert, was das Melanom angeht.«

Fünf Metastasen, in der rechten Leiste, neben dem Bauchnabel, vorm Sternum [dem Brustbein], (dort hatte ich die Metastase in die Tiefe nicht vollständig heraus gegraben, hatte es am Telefon geheißen. Ich würde also den Knochen abfräsen müssen!), in der linken Axilla [der Achselhöhle], und eben an der Oberlippe. Und das 12 Jahre nachdem ich ein kleines Melanom auf dem Rücken exzidiert hatte! Ein Melanom von nur 0,7 mm Eindringtiefe.

 

»Wir wollen dieses Jahr, im September, nach fünf Jahren endlich einmal wieder Urlaub machen und haben eine Unterkunft an der Nordsee gebucht. Ich war noch nie an der Nordsee. Sollte ich diesen Urlaub absagen?«

»Für wann genau haben Sie ihn denn gebucht?«

»Für die zweite Septemberhälfte.«

Ich überlegte. »Wenn es zur Immuntherapie kommt, müsste die erste Phase bis dahin abgeschlossen sein, und Sie werden sich das Interferon dann schon selbst spritzen. Und wenn wir eine Chemo bei Ihnen machen sollten, könnte das Ihr letzter Urlaub sein. Also, ich würde den Urlaub nicht absagen.«

»Ich habe schon einmal eine Depression gehabt, hatte sogar schon Selbstmordgedanken. Vor Jahren, als ich eine Borrelieninfektion hatte.«

Herrn Böhm liefen wieder Tränen über sein Gesicht.

»Das spricht eher gegen eine Immuntherapie. Anfangen könnte man natürlich. Nur müssen Sie dann ohne zu zögern aufhören, wenn Sie eine Depression bekommen. Was für ein Gewinn wäre das, wenn Sie zwar ein wenig länger leben, aber die ganze Zeit depressiv sind?«

Herr Böhm nickte lebhaft.

Schwester Diana brachte das Mittagessen.

»Ach, hier sind Sie. Wir wussten nicht, wo Sie waren. Schwester Marion vom Op hat angerufen. Sie können anfangen.«

Ich verabschiedete mich von Herrn Böhm. »Dann muss ich jetzt gehen, aber wir sehen uns ja morgen früh wieder.«

»Ja, dies ist mein Garten«, sagte Herr Böhm mit seiner heiseren Stimme, die daher rührt, dass eine Metastase, eine inoperable Metastase zwischen Luftröhre und Speiseröhre, den Kehlkopf einmauert. Er führte mich um das kleine Gartenhäuschen herum und zeigte mir stolz die alten Kiefern, den Holunder, die Johannisbeeren.

»Ja, schön ist es hier. Und still. Irgendwie hatte ich mir Ihren Garten noch größer vorgestellt, so wie Sie von ihm geschwärmt haben und auch abgelegener. Aber er ist schön.«

»Noch größer? Aber er geht doch bis dahin und bis dorthin.«

Klärchen, meine Tochter, und ich setzten uns auf Stühle, die um einen Gartentisch herum standen. Herr Böhm hatte uns an der Autobahnabfahrt Treuen abgeholt. Ich war eine halbe Stunde zu früh dort gewesen, aber Herr Böhm war auch eine halbe Stunde zu früh gekommen. So hatten wir nicht aufeinander zu warten brauchen. Wegen der vielen Umleitungen wäre es mühsam gewesen, seinen Garten zu finden. Es ging durch Schreiersgrün und Rebesgrün und dann nach Auerbach hinein und dort links runter.

»Ich bin in Königsberg geboren«, erzählte Frau Böhm, »aber ich bin schon mit zwei Jahren, 1945, in die Nähe von Glauchau gekommen, während meine jüngere Schwester bei der Flucht erst ein paar Monate alt war. Ich habe von daher keinerlei Erinnerungen an Königsberg und darum habe ich auch kein Bedürfnis dorthin zu fahren. Zu DDR Zeiten wäre das ja auch nicht möglich gewesen und später haben mir Leute gesagt, die dort gewesen waren, im Grunde lohne es nicht, nach Königsberg zu fahren. Es sei eine Stadt wie jede andere auch, wenn man keine Erinnerungen an das alte Königsberg habe. Wozu wolle man dann da hin fahren? Meine Oma wäre wohl gerne noch einmal nach Königsberg gefahren, aber ich. Nein, ich habe nie das Bedürfnis gehabt.

Mein Vater ist im Krieg geblieben, aber meine Mutter hat wieder geheiratet und hatte noch einmal ein Mädchen, meine Halbschwester, mit ihrem zweiten Mann. Und ich und meine Schwester (aus erster Ehe) wussten gar nicht, dass unser Vater unser Stiefvater war. Meine Schwester, die vor mir geheiratet hat, obwohl sie jünger war als ich, hat das erst gemerkt, als sie für ihre Heirat eine Geburtsurkunde brauchte. Sie hat dann lange daran arbeiten müssen, dass das nur ihr Stiefvater war, den sie die ganze Zeit als Vater betrachtet hatte. Mir hat das weniger ausgemacht. Er war auch immer gut zu uns.«

»Haben Sie Ihre Mutter gefragt, warum sie Ihnen das nicht erzählt hatte?«

»Ja, wir haben sie gefragt, aber sie hat nur geantwortet, sie habe es eben vergessen gehabt.«

»Aber Sie sind hier aus Auerbach«, wandte ich mich wieder an Herrn Böhm.

»Ja, aus Falkenstein. Ich bin in Falkenstein geboren und in Falkenstein aufgewachsen. Aber bei meinen Großeltern.« Herr Böhm zögerte etwas. »Meine Mutter und mein Vater wollten mich wohl nicht. Ich weiß nicht, warum. Mein Vater hatte sich aus amerikanischer Gefangenschaft in den amerikanischen Sektor entlassen lassen, wohl weil das schneller ging, als wenn man in den sowjetischen Sektor wollte. Er war dann in Wiesbaden und meine Mutter ist zu ihm gezogen und hat mich bei meinen Großeltern zurück gelassen. Aber ich hatte trotzdem eine gute Jugend. Meine Eltern sind ein paar Jahre später wieder hierher zurückgezogen. Nach Grünau bei Chemnitz. Doch auch danach hatte ich kaum wieder Kontakt mit ihnen.«

»Ihr Großvater muss auch im Krieg gewesen sein?«

»Ja, im Ersten Weltkrieg. Er hat dann einen Schuss in einen Fuß bekommen. Einen Heimatschuss. Er hat oft erzählt. Er hatte sich als Freiwilliger gemeldet, aber er hat gesagt, das wichtige war, den Kopf im Graben zu halten und blind über den Grabenrand zu schießen. Hauptsache, es knallte. Wenn man den Kopf rausstreckte, bekam man nur einen Kopfschuss. Ich habe ein Foto von ihm im Graben …

Mein Großvater war dann auch noch im Volkssturm, um die Festung Falkenstein zu verteidigen. Die SS lag auf einem Hang auf der anderen Seite vom Göltzschtal. Und wenn jemand eine weiße Flagge in Falkenstein hisste, dann schossen sie in die Fenster hinein. Und die Amerikaner lagen auf der anderen Seite, wo der Irrgang ist.«

»Wieso Irrgang?«

»Dort war ein Sumpfgebiet. Aus dem stiegen im Sommer Gasblasen und entzündeten sich manchmal. Und wenn dann jemand dachte, dort brenne ein Licht und es müssten dort Leute wohnen und er hingehen wollte, versank er einfach in dem Sumpf … Aber das war früher, heute nicht mehr …

Jedenfalls wurde Falkenstein dann nur um Haaresbreite gerettet: Der Besitzer der großen Spinnerei in Falkenstein, Herr Torai, hat sich eines Tages zu den Amerikanern hingeschlichen und denen erklärt, dass die Wehrmacht längst die Stadt verlassen habe und die SS auch. Und dass die Leute nur darauf warteten, dass die Amerikaner endlich kämen. Da hat der amerikanische Kommandeur ihm gesagt, er sei im letzten Augenblick gekommen, die Bomber seien schon gestartet, aber er würde sie jetzt zurückbeordern. Wenn Herr Torai das nicht gemacht hätte, wäre sicher von Falkenstein und Ellefeld und Auerbach und Rodewisch nichts übrig geblieben. Die gehen ja alle ineinander über in dem Tal, in dem Göltzschtal.

Ich erinnere mich auch an die Luftschutzkeller und wie wir tagelang in den Luftschutzkellern ausgeharrt haben. Ich habe das alles auf zwei CDs gesprochen. Was mir mein Großvater erzählt hat und an was ich mich noch selbst erinnere.«

»Ach ja. Dürfte ich die mal hören?«

»Gerne. Ich bringe sie Ihnen am Montag mit.«

»Am Montag? Kommen Sie da wieder in die Klinik?«

»Ja.«

»Am Montag bin ich leider nicht da. Bleiben Sie bis Dienstag?«

»Ja, wohl bis Donnerstag sogar. Denn ich habe Probleme mit dem Magen. Und da will ich mir vielleicht eine Magenspiegelung machen lassen. Aber heute wollen wir nicht über meine Krankheit reden. Heute sind Sie einfach hier und ich freue mich. Ich fand es ja nicht einfach, Sie einzuladen. Auch nicht, als Sie zu mir sagten, ich solle Sie doch einfach mal in meinen Garten einladen.«

»Nein, wir wollen nicht über Ihre Krankheit reden«, stimmte ich Herrn Böhm zu. »Seit wann haben Sie eigentlich diesen Garten?«

»Seit 2005. 2003 habe ich die Sauna aufgegeben. Und 2005 haben wir diesen Garten kaufen können. Man macht halt doch manches falsch im Leben, was sich dann nicht mehr ändern lässt …«

»Wie haben Sie sich eigentlich kennen gelernt?«

»1964 war das. Auf dem Deutschlandtreffen (der FDJ) in Berlin. Wir waren beide beim Roten Kreuz und, wie das der Zufall so gefügt hatte, musste ich mich bei meiner Frau abmelden und sie musste sich bei mir abmelden, wenn einer von uns mal in die Stadt oder irgendwohin sonst wollte.«

»Und da hat Jürgen (Herr Böhm) eines Tages zu mir gesagt«, fuhr Frau Böhm fort, »gehen wir doch einfach mal zusammen fort. Ich fand das ganz schön frech, wo ich doch wusste, dass er eine Freundin hatte. Aber ich bin dann mit ihm gegangen, auch weil er Verwandte hatte in Berlin, und die haben uns auch eingeladen, bei ihnen zu duschen. Das war schon schön, denn mit der Hygiene in den Jugendlagern war es nicht weit her. Wir mussten auf Strohsäcken schlafen und Waschgelegenheiten waren knapp. Wenn er mich hinterher auf der Arbeit angerufen hat, habe ich mich zuerst immer verleugnen lassen. Aber irgendwann ging das nicht mehr …«

»Und wann haben Sie geheiratet?«

»1965 schon.«

»Ach ja.«

»Ja, mein Mann hatte es eilig. Vielleicht lag das auch daran, dass er bei seinen Großeltern aufgewachsen war.«

»Ja«, sagte Herr Böhm, »ich hatte wohl immer das Gefühl, mir alles selbst erarbeiten zu müssen. In der Mitte der Tanzschule wurden wir aufgefordert, in Anzügen zu kommen. Da bin ich dann nicht mehr hingegangen, denn ich hatte ja keinen Anzug. Und ich wollte meinen Großvater auch nicht bitten, mir einen Anzug zu kaufen. Ich dachte, das geht nicht, er ist ja nur mein Großvater. Und das ist wohl sehr an mir hängen geblieben.

Ich habe dann in Chemnitz Maschinenbau studiert und war schließlich Erster Ingenieur in unserem Kombinat, das damals 37.000 Leute beschäftigte.

Ich bin 1964 in die SED eingetreten, ich dachte wirklich, die SED würde für eine bessere Zukunft sorgen und dafür, dass es nie wieder Krieg geben würde. Na ja, die Enttäuschungen begannen bald. Man musste ja sagen, dass eine Stange rot war, wenn sie, wie die Stange von dem Sonnenschirm hier, nur ein schmutziges Weiß war. Ich war dann der erste, der auf einer Versammlung seinen Parteiausweis zurück gab.«

»Wann war das?«

»1987, glaube ich. Und danach ging es mir wirklich schlecht. Bis dahin war ich für die Lehrlingsausbildung zuständig gewesen. Aber dann wurde ich für die polytechnische Ausbildung abgestellt. Sozialistische Hilfe hieß das und ich musste Elfjährigen was beibringen. Und meine Tochter durfte auch nicht mehr studieren. Nein, es ging mir dreckig, nachdem ich aus der Partei ausgetreten war. Für meine Tochter habe ich auf Umwegen trotzdem noch einen Studienplatz bekommen. Aber es war schwierig. Mein Kaderleiter sagte ganz offen zu mir, noch ein kleiner Fehler und du wirst gesenst.

Außer den siebzehn und achtzehnjährigen Lehrlingen hatten wir auch Offiziersschüler. Die sollten nebenbei zusätzlich eine Berufsausbildung machen, um der Arbeiterklasse näher zu kommen. So hieß das.«

»Ich war auch in die Partei eingetreten«, erzählte Frau Böhm, »weil mir gesagt worden war, wenn ich in die Partei eintrete, könne ich nach der Krankenschwesterausbildung gleich noch eine Weiterbildung zur Stationsschwester machen. Und weil ich das gerne wollte, bin ich halt in die Partei eingetreten. Aber als ich dann weiter zur Schule gehen wollte, hieß es, es sei niemand da, der meine Arbeit übernehmen könne, und darum könne ich nicht zur weiteren Ausbildung weggehen. Und ich habe mich schon sehr betrogen gefühlt, als es plötzlich April April hieß.

Ich war die zweite, die ihren Parteiausweis zurück gab in unserer Klinik. Wie mein Herz geklopft hat dabei! Der Parteisekretär war der Arzt von unserer Abteilung. Das war ein tausendprozentiger. Der war besonders von Lenin begeistert. Und der kam eines Tages zu mir und hat geweint: Jetzt wollen sie sogar Lenin in Zweifel ziehen! Ja, es gab die Mitläufer wie mich und die ganz Überzeugten.«

»Was haben Sie denn falsch gemacht im Leben«, kam ich auf etwas zurück, das Herr Böhm so nebenbei gesagt hatte.

»Ja, es war wohl ein Fehler, die Sauna zu bauen und mich selbstständig zu machen nach der Wende. Ich hätte sicher auch eine Anstellung irgendwo in der Ausbildung finden können. Obwohl ich anfangs gerne geschuftet habe. Ich dachte ja immer, ich würde da etwas für unsere Tochter aufbauen. Und um ihr möglichst wenig Schulden zu hinterlassen, haben wir so viel wie möglich abbezahlt, statt mehr zur Seite zu legen. Aber dann hat sie mir eines Tages gesagt, Ostern 2001 war das, dass sie und ihr Mann die Sauna nicht übernehmen wollten und dass sie sich bei Erfurt ein Haus bauen wollten, weil ihr Mann dort eine Anstellung als Verkaufsleiter bekommen habe. Da war es plötzlich sinnlos geworden, weiter zu schuften. In den Monaten danach hatten meine Frau und ich dann viel Streit, bis ich eines Tages gesagt habe, dann verkaufen wir die Sauna eben. Aber dann war wieder alles gut, da war geklärt, was sich zwischen uns aufgebaut hatte. Wir wollten einfach dieses Abrackern nicht mehr. Tag aus Tag ein. Wozu? Es hatte doch alles nur Sinn gemacht, solange es für unsere Tochter gewesen war.«

 

»Aber das weiß man doch«, meinte ich, »dass Kinder ihre eigenen Wege gehen werden und dass man für seine Kinder keine Bäume pflanzen kann.«

»Ja, das haben wir dann auch gelernt. Aber ich hatte die Vorstellung gehabt und das auch schon beim Bau von der Sauna so geplant, dass meine Tochter sich über der Sauna eine Wohnung bauen würde.

Die Sauna lief ja auch wirklich gut. Die Leute durften so lange bleiben, wie sie wollten. Und das haben sie auch gemacht. Es war auch ein Bistro dabei, wo sie essen und trinken konnten. An Geburtstagen gab es freien Eintritt, im Winter ein Wintergrillfest und im Sommer ein Schlachtfest. Wir haben Ausflüge gemacht und ich kannte fast jeden. Mit denen ich auf Du stand, die habe ich begrüßt; und mit den ich auf Sie stand, die habe ich auch, auf etwas andere Weise, begrüßt. Ich meine, wenn die Leute nackt rumlaufen, muss man ein gutes Verhältnis zu ihnen haben, damit sie regelmäßig kommen. Ich bin ja sozial so ganz kompetent, bis zu einem gewissen Punkt. Vor Weihnachten gab es immer Glühwein. Die Leute kamen von weit her, aber trotzdem, als klar wurde, dass wir uns für nichts abrackerten, war plötzlich die Luft raus.«

Irgendwann war ich mit Frau Böhm für ein paar Minuten in der kleinen Küche von ihrem Gartenhäuschen allein.

»Für Sie muss es doch besonders schwer sein, diese letzten Monate durchzustehen. Ich meine für Sie als Krankenschwester, die weiß, dass keine Hoffnung mehr besteht; schwerer als für Frauen, die sich noch Hoffnungen machen können.«

»Ja, es ist schwer. Aber ich versuche, meinen Mann weiter zu fordern. Nicht dauernd zu sagen, leg dich hin, ruh dich aus. Nein, ich versuche, so zu tun, als wäre noch alles gut. Er hat ja auch keine Schmerzen, braucht höchstens mal eine Paracetamol.«

Es war Flugfest in Auerbach und weil der Flugplatz nur zehn Minuten entfernt lag, fuhren wir irgendwann hin. Unterwegs hatte man einen schönen Blick über das Göltzschtal. Allerdings, es war sehr dicht besiedelt und irgendwie erinnerte es mich ein wenig an das Werretal (meine Heimat) mit seinen Dörfern überall. Der Mais war gut mannshoch.

»Anfangs waren die Offiziersanwärter wirklich erstklassige Abiturienten, aber mit der Zeit ließ die Qualität immer mehr nach. Und zu einem habe ich mal gesagt: ›Genosse, könnte es sein, dass du das Abitur nur bekommen hast, weil du dich zur Armee verpflichtet hast?‹ ›Da könntest du Recht haben, Genosse‹, hat er mir geantwortet. Aber er war ein netter Kerl. Bei der Facharbeiterprüfung sollte er eine Passung an eine Welle machen und ich hab gesehen, wie ihm der Schweiß von der Stirn lief und wie seine Hände ganz feucht waren. Und dass er das nie und nimmer schaffen würde. Da habe ich ihm bedeutet, dass er mal ein wenig wegtreten solle. Und dann habe ich die Passung für ihn gemacht.

Einmal habe ich mich aber geweigert zu unterschreiben, bei jemandem, der ein richtiger Stinkstiefel war. Ich wurde dann vor den Rat des Kreises zitiert, vor den Beauftragten für Volksbildung und musste erklären, wieso ich mich weigerte zu unterschreiben, dass jemand die Ausbildung abgeschlossen hatte. Ich hab mich weiterhin geweigert und schließlich hat ein anderer unterschrieben. Aber der war auch einfach zu dumm …«

»Ist dies eigentlich Ihr erster Garten?«

»Nein, als wir noch in Falkenstein gewohnt haben, hatten wir auch einen Garten. Aber das war ein Vereinsgarten. Da wurde genau vorgeschrieben, wie viel Gemüse man zum Beispiel produzieren musste. Und es kam auch immer wieder einer vorbei, der guckte, dass kein Unkraut wuchs im Garten. Wir mussten in Listen eintragen, was wir produziert hatten. Und das wurde auch kontrolliert, denn Gemüse war ja knapp in der DDR. Diejenigen, die einen Vereinsgarten hatten, sollten dazu beitragen, dass mehr produziert wurde …

Nein, hier gibt es keine Vorschriften. Wir dürfen nur keine Bäume fällen ohne Genehmigung.«

»Und wie sind Sie an diesen Garten gekommen?«

»Wir hatten gehört, dass jemand seinen Garten verkaufen wollte, und als wir uns in der Stadtverwaltung erkundigt haben, wie wir Strom bekommen könnten, haben die gesagt, da müssen Sie Ihren Nachbarn fragen, der hat Strom. Vielleicht können Sie von dessen Garten eine Leitung legen. Wir sind also zu dem hin und der hat gemeint: ›Ihr wollt Strom, dann kauft doch gleich meinen ganzen Garten‹. So sind wir an diesen Garten gekommen.

Aber dann mussten wir erst einmal einen ganzen Lastwagen voll Müll wegschaffen. Der Mann war Alkoholiker und der Garten war ein Versammlungsort für alle Trinker in der Umgebung gewesen. Entsprechend sah es überall aus.«

»Erstaunlich«, sagte Herr Böhm, »was die Leute so aufbewahrt haben über die DDR Jahre hinweg, obwohl das verboten war. Als mein Onkel (der Bruder meiner Mutter) starb, haben wir Stapel von Erika Heften auf seinem Speicher gefunden. Diese Hefte für Soldaten der Wehrmacht. Und auch eine Zeitung, in der berichtet wurde, dass die SA den Max Hölz in Bad Elster erwischt hatte. Sie haben ihn dort blau und lahm geprügelt. Jemand aus Falkenstein hat ihn dann zu sich geholt und ihn gepflegt.«

»Wer war Max Hölz?«

»Max Hölz hatte um Falkenstein herum eine Art Arbeiterwehr gegründet, die haben die Reichen erpresst, auch mal eine Villa angezündet und das Geld an die Armen verteilt.«

»Eine Art Robin Hood?«

»Ja, genau.«

»Und was ist dann aus ihm geworden?«

»Von Falkenstein ist er nach Leipzig und hat versucht, dort Leute aufzuhetzen. Und von dort ist er in die Sowjetunion geflüchtet. Es hieß dann, er sei in der Sowjetunion beim Baden ertrunken. Dabei war er Rettungsschwimmer. Na ja, man kann sich schon denken, wie er umgekommen ist.«

»Ihre Werkzeugmaschinenfabrik hat doch sicher zum Fritz Heckert Kombinat gehört?«

Herr Böhm bestätigte das.

»Neulich hatte ich einen Patienten, der auch für das Fritz Heckert Kombinat gearbeitet hatte. Ich habe ihn gefragt, ob er Sie gekannt hat. Aber er hat Sie natürlich nicht gekannt, das Kombinat war ja auch groß. Jedenfalls habe ich ihn gefragt, wer Fritz Heckert gewesen sei. Und obwohl er 40 Jahre für das Fritz Heckert Kombinat gearbeitet hatte, wusste er nicht, wer Fritz Heckert gewesen war.«

Herr Böhm schien das auch nicht so recht zu wissen.

[Ich habe inzwischen nachgeschaut: Er war Reichstagsabgeordneter für die KPD, flüchtete aber schon 1932 in die Sowjetunion. Und dort sei er 1936 an einem Herzinfarkt gestorben. Auch da kann man sich denken, woran er wirklich gestorben ist …]

»Wir waren ja so ahnungslos in jenen Jahren«, sagte Frau Böhm, »ich war vor allem auf Drängen meines Stiefvaters hin in die Partei eingetreten. Eigentlich wollte ich nicht, aber meine Oma hat auch auf mich eingeredet: ›nun tritt doch in die Partei ein, um des lieben Friedens willen‹. Und schließlich habe ich das auch gemacht. Auch, weil sie mir versprachen, dass ich dann weiter zur Schule gehen könne, um Stationsschwester zu werden. Na ja, als es so weit war, konnte ich doch nicht gehen …

Wenn mein Stiefvater noch die Wende erlebt hätte, hätte er das sicher nicht verkraftet. Da ging doch alles dahin, woran er geglaubt hatte.«

»Ich bin ganz freiwillig in die Partei eingetreten«, sagte Herr Böhm, »weil ich nie wieder Krieg wollte und dachte, dass dafür die Partei stünde. Ich habe dann schon ein paar Jahre vor der Wende mein Parteibuch zurückgegeben. Aber danach ging es mir wirklich schlecht. Ich habe dann jemanden angerufen, der hauptamtlich für die Stasi gearbeitet hat, der aber ein Pfundskerl war, und den gefragt, ob die Stasi uns auf dem Kieker habe. Aber der hat gesagt: ›Sie sind doch ein kleiner Fisch, um den wird sich nicht gekümmert!‹ Na ja, wir haben uns dann irgendwann gewundert, wieso eine Naht an unserer neuen Polstergarnitur einfach so aufging. Aber wirklich drüber nachgedacht haben wir nicht.«

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