Achtsam führen (E-Book)

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Achtsam führen (E-Book)
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Jörg Krissler

Achtsam führen Eine Orientierungshilfe im Unternehmensalltag ISBN Print: 978-3-0355-1315-8 ISBN E-Book: 978-3-0355-1316-5

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Führungskompass


Inhalt

Vorwort

Dieses Buch

Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen

Herausforderung des Marktes

Digitalisierung

Individualisierung und Konnektivität

Rahmenbedingungen der Unternehmung

Strategie und Leitbild

Struktur und Kultur

Praxis des achtsamen Führens

Führung

Achtsamkeit

Der Führungskompass

Sich selber führen

Werteorientiert führen

Einzelbeziehungen pflegen

Die Zusammenarbeit im Team gestalten

Unternehmerische Ziele erreichen

Kooperationen mit dem Bereich Human Resources

Aufgaben und Herausforderungen des Bereichs

Personalmarketing

Planung

Rekrutierung

Einführung

Beurteilung

Entwicklung

Bindung

Trennung

Literatur und Links

Links

Vorwort

Achtsamkeit ist in Mode gekommen und fast ein Hype geworden. Für viele Unternehmen im Silicon Valley ist sie verordnetes Programm. Ziel solcher Programme, und das ist keineswegs eine Kritik, ist die Steigerung der Profitabilität. Weniger Ausfälle von Mitarbeitenden durch Krankheit oder Kündigung ist für alle ein Gewinn. Der Weg dahin kann aber unterschiedlicher nicht sein. Von Yogatechniken, Meditation, Mindfulness Based Stress Reduction bis hin zu Drehbüchern für den besseren Umgang mit sich selber und miteinander gibt es ein unüberschaubares Angebot an Lösungswegen. Nach welcher Methode die Menschen auch vorgehen, sie realisieren oft, dass der Hauptgrund für ihre Erschöpfung darin liegt, dass sie sich am falschen Ort befinden. Sie können sich nicht mit ihrem Unternehmen oder ihrem Team identifizieren. Sie werden von ihrem Chef nicht geschätzt oder ungerecht behandelt und sind frustriert. Sie haben Existenzängste und sagen deshalb nicht nein, haben das auch nicht gelernt.

Jörg Krissler zeigt in seinem Buch sehr gut auf, dass es einen Ausweg gibt und wie dieser beschritten werden kann. Indem man sich der Realität stellt, tut man sich Gutes. Wir müssen heute kaum mehr um unser Überleben kämpfen – dafür umso mehr darum, akzeptiert, also geliebt zu werden. Wir leben im Dauerstress, etwas zu verpassen, ausgestoßen zu werden, unbeachtet zu bleiben, das Leben nicht voll und ganz auszukosten. Eine einzelne Person macht aber kein Leben und schon gar kein Unternehmen, hier ist der Umgang miteinander entscheidend. Es stellt sich also die Frage, wie wir in Beziehung zueinander stehen. Ist eine Führungsperson wohlwollend empathisch oder nur an der eigenen Karriere interessiert? Ist der Umgang untereinander respektvoll, motivierend und eben auch achtsam? Sich auf jemanden einlassen heißt zuhören, Vorurteile ablegen, ganz beim Menschen im Hier und Jetzt sein. Dadurch entstehen Vertrauen und ein Raum der Kreativität statt einer Kultur der Kontrolle. Es geht darum, sich als Teil des Ganzen zu verstehen und dabei auch Rückschläge zu verarbeiten und Spannungen auszuhalten. Aus seiner langjährigen Praxis beschreibt Jörg Krissler die Bedeutung von Werten und Kooperationen. Wie kann sich ein Team gestalten, ausgetretene Pfade verlassen und seinen Horizont erweitern? Was ist zu tun, um das häufig verbreitete Silodenken zu verlassen zugunsten einer echten Zusammenarbeit über den eigenen Verantwortungsbereich hinaus? Wie gehen wir mit verschiedenen Charakteren um, wie lernen wir, die Stärken der Menschen zu fördern, die Schwächen mit Bewertungsgesprächen nicht noch hervorzuheben? Und wieder sind wir am Anfang: Was an einem Ort eine Schwäche ist, kann am anderen zu einer Stärke werden. Bin ich, sind die Mitarbeitenden am richtigen Ort? Wo kann jemand mitgestalten? Wie führen wir Menschen in ihre Aufgabe ein? Wie trennen wir uns von ihnen, wenn es nicht passt, zu ihrem Gewinn wie zu jenem der Organisation? Das Buch von Jörg Krissler gibt auf viele dieser Fragen überzeugende Antworten. Der Autor setzt damit ein wichtiges Zeichen für ein menschliches, vertrauensvolles und nachhaltiges Führungsverständnis. Ich wünsche mir, dass wir zu einem neuen Bewusstsein im Umgang mit den Menschen finden. Das wird umso wichtiger, je größer die Veränderung sind, die auf uns zukommen. Neue Mitbewerber aus der ganzen Welt, die Digitalisierung, die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der sich die Welt bewegt, verlangen nach mehr als Marketing, Controlling, Kommunikation. Erfolg braucht Vertrauen, Verlässlichkeit, Verständnis und Respekt. Ein Leben auf der Überholspur führt meistens zu einem Crash. Dabei entstehen die besten Ideen beim Nichtstun. Verschieben ist gefährlich, das Leben findet jetzt statt.

Juan Vörös

Unternehmer

Dieses Buch

Im Zentrum dieses Buches steht der Führungskompass, wie er auch in der Umschlaginnenseite abgebildet ist. Das Instrument ist Navigationshilfe und Modell für achtsame Führung zugleich. Es integriert wesentliche Führungsaspekte und verdeutlicht einerseits die Verhältnisse, in denen sie zueinander stehen, andererseits ihren Bezug zu anderen Abteilungen sowie ihre Beeinflussung durch äußere Faktoren. Zu diesen zählen betriebsinterne Bedingungen ebenso wie Megatrends, die die Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gleichermaßen bewegen. Auf diese Tendenzen kann Führung nur reagieren, wenn sie sich ebenfalls bewegt und einen adäquaten Stil findet. Ist sie achtsam, wird sie den laufend steigenden Anforderungen und der zunehmenden Unübersichtlichkeit des Marktes gerecht.

Achtsame Führung zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sie verschiedene Perspektiven miteinbezieht und die Interaktion der beteiligten Parteien in den Mittelpunkt rückt. Der Führungskompass versinnbildlicht dies. Pole und Linien werden Schritt für Schritt erläutert, damit das Instrument später auch wirklich als Orientierungshilfe eingesetzt werden kann. Auf vier Handlungsfelder – im Kompass durch die vier Himmelsrichtungen dargestellt – ist eine direkte Einflussnahme durch die achtsame Führung möglich. An erster Stelle geht es um die Fokussierung auf die eigenen Energien. Nur Menschen, die für sich selbst sorgen können, sind in der Lage, anderen Personen gegenüber Führungsverantwortung zu übernehmen. Die Beziehungsgestaltung bilden im Kompass die nächsten zwei Aktionsfelder ab: die Interaktion mit einzelnen Mitarbeitenden sowie mit dem Konstrukt «Team». In der letzten der vier Dimensionen geht es um die Sache und ganz zentral darum, auf Basis von sinnstiftender Investition in die Menschen den wirtschaftlichen Auftrag zu erfüllen.

In der Kooperation mit anderen Abteilungen innerhalb eines Unternehmens zeigt sich, welchen Mehrwert sie bringt, wenn sie aktiv und nach Grundsätzen der achtsamen Führung gestaltet wird. Besonders fruchtbar ist diese Zusammenarbeit mit dem Bereich Human Resources. Dass durch konsequente achtsame Führung entlang von klassischen Personalprozessen unternehmerische Vorteile resultieren, tritt als wertvoller Zusatznutzen hervor.

 

Achtsame Führung trägt wesentlich zum eigenen Wohlbefinden bei, sorgt für ein wohlwollendes Betriebsklima und wirkt sich dadurch günstig auf die Wettbewerbsfähigkeit einer Unternehmung aus. Fallbeispiele illustrieren ihre Umsetzung in der Praxis. Ausserdem kommen verschiedene Führungspersönlichkeiten zu Wort. Sie beziehen sich auf die Bereiche des Führungskompasses und zeigen so den Facettenreichtum der achtsamen Führung auf. Die Leitfragen zu jedem Kapitel unterstützen den Transfer in den eigenen Führungsalltag.

Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen

Herausforderung des Marktes

Schnelle und tiefgreifende Veränderungen bewegen die Wirtschaft. Das Arbeitsumfeld ist zunehmend geprägt von Komplexität, Unsicherheit und Mehrdeutigkeit. Die Menschen unterscheiden kaum mehr zwischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen. Entsprechend verschmelzen die Bereiche miteinander. Bislang markierten Arbeit (Work) und Freizeit (Life) zwei Pole, zwischen denen es die Balance zu halten galt. Diese klare Dualität löst sich in eine Multidimensionalität auf, die alles möglich macht und uns gerade dadurch überfordert. In allem und jedem die Wahl zu haben, kann Menschen befriedigen und sie in ihrem Selbst bestätigen. Viele verlieren sich aber in der Gesamtheit der Optionen; sie sehnen sich nach einer einfachen Ordnung, die sie verstehen.

Die Bedeutung von Arbeit hat sich stark gewandelt und damit auch die Erwartung an Arbeitgeber, die Unternehmen. In Branchen mit Fachkräftemangel buhlen Arbeitgeber ideenreich um die verfügbaren Talente, und zwar um neue Mitarbeitende wie auch um Führungspersonen. Den Slogan «We like to entertain you» kennen wir aus der Unterhaltungsbranche. Firmen, die diese Haltung übernehmen, werden es leichter haben, vor allem junge Menschen für eine Zusammenarbeit zu begeistern. Das versprochene Entertainment wird in Form einer außergewöhnlichen Beziehungskultur, eines ausgeprägt attraktiven Arbeitsplatzes, besonders flexibler Zeitmodelle oder spezifischer individueller Rahmenbedingungen eingelöst. Der Kreativität sind diesbezüglich kaum Grenzen gesetzt. Der Arbeitsplatz wird zu einer Dienstleistungsdrehscheibe der Selbstverwirklichung – für jene, die es verstehen, aufzuspringen und sich dem Tempo anzupassen. Dem gegenüber berufen sich vor allem ältere Arbeitnehmende eher auf Stabilität und Kontinuität, was ebenfalls eine wichtige Qualität darstellt. Das Nebeneinander von Modellen, Kulturen und Anschauungen am Arbeitsplatz ist die große Herausforderung unserer Zeit. Es ist nicht einfach, so viele unterschiedliche Energien in Einklang zu bringen.

Dessen müssen sich Menschen, die die Führung eines Unternehmensbereichs übernehmen möchten, gewiss sein. Sie sollten sich auf die Pluralität einlassen und die individuellen Bedürfnisse der Angestellten befriedigen oder zumindest darauf eingehen können. Sie müssen einigen Mitarbeitenden klare Strukturen bieten, anderen maximale gestalterische Freiheit lassen, damit sie ihre volle Leistung erbringen können. Es wollen alle in ihrer Persönlichkeit abgeholt werden, den Sinn ihrer Arbeit erkennen und dabei möglichst Spaß erleben. Fun wird für Unternehmen zum bedeutenden Wettbewerbsfaktor. Zudem kommen der Wertegestaltung und der Klärung des höheren Unternehmenszwecks, des Purpose, in den Firmen eine immer größere Bedeutung zu. Arbeitnehmende können in einem transparenten Markt klären, welche Rahmenbedingungen ihren Interessen am meisten entsprechen und bei wem sie sich am ehesten in ihrem Sinn entfalten. Neben dem, dass Führungsverantwortliche ihre Angestellten für eine gemeinsame Unternehmensidee begeistern müssen, sollten sie auch den eigenen Ansprüchen genügen und einen haushälterischen Umgang mit ihren Energieressourcen finden.

Die langjährige Firmentreue hat in den meisten Fällen ausgedient. Sie hält so lange, wie sie den subjektiven Interessen nutzt. Aufgrund der komfortablen Marktsituation und veränderter Wertevorstellungen können Mitarbeitende diese Überprüfung laufend neu vornehmen.

Die zunehmende Komplexität des Marktes hat zur Folge, dass Hierarchien weiter abflachen und die Steuerbarkeit von oben durch die Führung an Bedeutung verlieren wird. Ansätze der detailorientierten Regulierung als Versuch, das Chaos zu beherrschen, sind oft gut gemeint, können den Anforderungen des Marktes und seiner Player aber nicht gerecht werden. Hierarchie könne nicht mit Komplexität umgehen, sagt der Wirtschaftsphilosoph Frederic Laloux.1 Er appelliert stattdessen an die kollektive Intelligenz. Im Zentrum seiner Überlegungen steht die Sinnhaftigkeit. Laloux rät Führungspersonen, die innere Stimme (und die innere Stimmigkeit) als Kompass zu nutzen. Sie müssen zunehmend lernen, mit Unsicherheiten umzugehen und hierfür vorhandene Ressourcen zu nutzen. So entwickeln sich Flexibilität, Agilität, Ambiguitätstoleranz zu zentralen Führungsqualitäten. Solange ein klarer Unternehmenszweck formuliert ist, also eine übergeordnete Ordnung zur Verfügung steht, lässt sich viel Ungewisses aushalten. Sinnhaftigkeit hilft über Verunsicherung hinweg.

Intuition und Kreativität rücken in den Vordergrund, und zwar am besten ausgeweitet auf ganze Organisationseinheiten unter zutrauendem Einbezug jeglicher Kompetenzen aller Mitgestalterinnen und Mitgestalter. Menschen wollen Wirkung erzielen. Dafür sind aktuell die besten Voraussetzungen gegeben, insbesondere wenn die individuellen Bedürfnisse respektvoll berücksichtigt und in Balance mit den Unternehmensinteressen gebracht werden.

Die Megatrends der letzten Jahre beeinflussen den Markt maßgeblich, sie sind umfassend und wälzen so ziemlich alles um. Entsprechend ändern sich die Anforderungen an Führungspersonen. Zu diesen Megatrends zählen die Digitalisierung sowie die Individualisierung und Konnektivität.

Digitalisierung

Mit der Digitalisierung erleben wir einen der fundamentalsten Megatrends der Gegenwart. Orientierten wir uns früher an topografischen Gegebenheiten und den Grenzen körperlicher Leistungsfähigkeit, so scheinen durch digitale Systeme und die durch sie simulierte Gleichzeitigkeit die Grundstruktur unseres Daseins – Raum und Zeit – quasi überwunden. Das bedeutet, dass unsere Eigenverantwortlichkeit exponentiell steigt.

Was das für welche Branchen konkret bedeutet, wird sich erst noch zeigen. Einige Unternehmen oder Unternehmensbereiche befinden sich in einer (Teil-)Transformation in Richtung künstlicher Intelligenz. Prozesse werden schlanker, bei konstant höchster Qualität des dadurch erzielten Produkts, wohlverstanden. Cloud-Computing macht die eigenen Prozesse permanent vergleich- und messbar. Maschinen haben einst unsere manuelle Arbeitskraft ersetzt, nun haben es die künstlich intelligenten Roboter auf unser Hirn abgesehen. Das gleicht einem Frontalangriff auf unser Denken, auf ein zentrales Merkmal menschlichen Seins. «Ich denke, also bin ich», das wissen wir seit Descartes. Hat das noch Gültigkeit, wenn künftig auch Maschinen denken können? Unser übergeordnetes Verständnis des Menschseins wird arg infrage gestellt. Was außer der Denkfähigkeit definiert uns noch als Menschen? Auf diesem Hintergrund ist das Bedürfnis nach dem, was urmenschlich und deshalb einzigartig ist, umso größer. Was zählt, sind Individualität und eine kreative Entwicklungskultur, die sich nicht an bisherigen Idealen oder Erfahrungen der Vergangenheit orientieren will. Möglichst anders sein als die anderen, so lautet das Credo. Organisationen, die dem gerecht werden, in denen Mitarbeitende zu Mitgestaltern werden, sind solche, in denen Fehler zuweilen passieren müssen, um weiterzukommen. Was aber falsch ist und was kreativ, ist immer wieder neu zu klären. Hier einen Weg – die Balance – zu finden, gelingt nur durch einen engen Kontakt der Führungskräfte mit ihren Mitarbeitenden.

Der Gegenentwurf ist die Kopie der unfehlbaren Maschine wie der Produktionsroboter, an den keine menschliche Leistung heranreicht. Dazwischen liegt das aus dem Spitzensport bekannte Modell. Computer ermitteln für Schwimmerinnen und Skispringer individuell die perfekte Bewegungsabfolge und Schwimm- beziehungsweise Fluglage. Hier muss der Mensch zwar maschinenähnlich werden, wenn er Erfolge erzielen will, aber letztlich ist es doch seine Eigenheit, durch die sich das Individuum von anderen abhebt. Niemand würde vor dem Fernseher sitzen wollen, um Maschinen sich im Wettkampf messen zu sehen.

Für die Wirtschaft ergeben sich drei mögliche Varianten von Zielzuständen.

1.Mitarbeitende werden als Menschen anerkannt. Sie denken mit und handeln individuell. Fehler sind erlaubt und werden sogar ermöglicht. Der Prozess und das Erreichte werden evaluiert, damit sich Schlüsse ziehen lassen. Hier sprechen wir von einer lernenden Organisation.

2.Fehler sind möglichst zu vermeiden, individuelle Entscheidungen höchstens geduldet. Die Mitarbeitenden funktionieren weitgehend wie Maschinen und sind deshalb in ihrer Position durch digitale Technologien zunehmend bedroht.

3.Gefragt ist rein rationales, fehlerfreies Handeln, das konstante Resultate erzielt. Darin sind Maschinen zuverlässiger als Menschen, die deshalb durch die voranschreitende Digitalisierung bald ersetzt werden.

In einem ersten Schritt mag es einfacher sein, sich an Erprobtem und Bewährtem zu orientieren. Wer es wagt, sich davon zu lösen, ermöglicht neue, kreative Gedanken und Ideen. Eine humane Führung setzt auf die Innovationskraft von (fehlbaren) Menschen. Je nach Geschäftssituation kann es natürlich sinnvoll sein, auf die zweite oder dritte der aufgezählten Varianten zu setzen. Es erfordert einige Klarheit von Vorgesetzten, dies zu erkennen und innerhalb eines strategischen Prozesses beziehungsweise im Sinne von einzelnen operativen Entscheidungen anzuwenden. Erfahrene Führungskräfte klären immer wieder neu, wo es zuverlässiger Präzision bedarf oder wann neue Denkansätze out of the box einen Mehrwert bringen. Grundsätzlich bestehen jene Unternehmen auf dem Markt, die Individualität vorziehen und repetitive Aufgaben der Technologie überlassen, weil sie dies innovativ und für die heutigen Verhältnisse agil genug macht.

Leitfragen und Notizen

Worin unterstützen mich digitale Technologien besonders?

Wie gut gelingt es mir, die Möglichkeiten der Digitalisierung maßvoll zu nutzen?

Wo möchte ich ganz bewusst «analog» handeln?

Individualisierung und Konnektivität

Wenn sich Kulturen zueinander hinbewegen, entsteht, sobald zu große Unterschiede aufeinanderprallen, das Bedürfnis nach Abgrenzung und Individualität. Megatrends wie Individualisierung und Konnektivität stehen öfter in Konkurrenz zueinander, können sich aber auch ergänzen.

Individualität ist die Freiheit, für sich selbst zu wählen und Sinn zu stiften. Der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl formuliert das so:

Nun, wovon der Mensch zutiefst und zuletzt durchdrungen ist, ist weder der Wille zur Macht noch ein Wille zur Lust, sondern ein Wille zum Sinn. Und auf Grund eben dieses seines Willens zum Sinn ist der Mensch darauf aus, Sinn zu finden und zu erfüllen, aber auch anderem menschlichen Sein in Form eines Du zu begegnen, es zu lieben. Beides, Erfüllung und Begegnung, gibt dem Menschen einen Grund zum Glück und zur Lust. (…) Zur Ausbildung des Willens zur Lust beziehungsweise des Willens zur Macht kommt es jeweils erst dann, wenn der Wille zum Sinn frustriert wird … 2

Jüngeren Generationen stehen heute Angebote zur Verfügung, die an das Prinzip des permanent sich expandierenden Universums erinnern. Abwechslung und Spaß werden zu vordergründigen Resonanzkörpern in einer unübersichtlichen Welt. Verantwortung zu übernehmen, ist in Ordnung, aber nicht um jeden Preis. Diese wird sehr gerne delegiert. Dem Drang nach individuellem Sinnerleben steht mit der Konnektivität eine Herausforderung gegenüber, die ohne Verantwortungsübernahme nicht gelingen kann. Der nach innen wie auch nach außen gerichteten Sinnhaftigkeit kommt eine Schlüsselqualität zu, weil durch sie das eigene Erleben mit dem übergeordneten System abgeglichen wird. Aus Sicht der Unternehmung schafft die Sinnhaftigkeit eine Metaordnung, die stabilisiert, motiviert und zudem einen wirtschaftlichen Nutzen generieren kann. Die Work-Life-Balance ist zum geläufigen Begriff geworden. Die ihm implizite Polarität ist allerdings irreführend. Als ob es eine Arbeit ohne Leben, ein Leben ohne Arbeit geben würde. Die Pole haben sich längst in einer Multidimensionalität von Aktivitäten aufgelöst. Darin zeigen sich unter anderem die veränderten Werte und Bedürfnisse jüngerer Generationen. Es ist zur Herausforderung geworden, dem stetig zunehmenden Angebot gewachsen zu sein. Die permanente Abrufbarkeit hängt stark mit der allgegenwärtigen Vernetzung zusammen.

 

Die Konnektivität bietet zweifelsohne Vorteile, weil sie Auseinandersetzung von Einzelnen in der regionalen bis globalen Gemeinsamkeit ermöglicht. Erst dadurch erhält das eigene Erleben die nötige Resonanz und erfährt Bestärkung oder Widerstand. Meinungen können gespiegelt und kontrovers diskutiert werden. So geschieht Entwicklung, also auch das moderne Lernen.

Aber es besteht ein großer Druck, dem Vergleich mit den Kolleginnen und Kollegen standhalten zu können. Multitasking ist in. Das ist im Freizeitverhalten wie in beruflichen Kontexten problematisch. Beunruhigend, dass Menschen, die chronisch Multitasking betreiben, annehmen, sie seien gut darin.3 Erwiesenermaßen steigt nämlich die Fehlerquote bei der gleichzeitigen Konzentration auf mehrere Dinge deutlich, und für die einzelnen Arbeiten braucht es mehr Zeit. Wie die möglichen Konsequenzen in Freizeit und Beruf aussehen, können wir uns ausmalen. Es würde sich in jeder Hinsicht lohnen, etwas mehr Ruhe in die Sache zu bringen, konsequenterweise auch in der Freizeit. Schmidt-Tanger schreibt:

Zielstrebigkeit, Tatkraft und Schnelligkeit haben wir genug. Was wir brauchen, sind Vorbilder für verlorene Dimensionen unseres Daseins: Zeit haben, loslassen, sich der Welt überlassen, sich vertiefen, Ruhe, Sammlung und Empfänglichkeit. Nicht umsonst ist das Kloster ein beliebter Urlaubsort für Manager! Entziehen Sie sich der Droge des dauernden Tätigseins, eignen Sie sich das Leben wieder an. Ihre daraus resultierende Anziehungskraft für andere wird Sie überraschen. Dann würde man Ihnen ansehen, dass Sie gerne Leben und Ihr Vermögen aus Zeit und Zufriedenheit besteht.4

«Halbe Kraft voraus» lautet ein Artikel in der Wirtschaftszeitung «Bilanz». Darin steht: «Wenig Stress, viel Freizeit, Aufstieg nicht um jeden Preis: Der Schweizer Nachwuchs stellt hohe Ansprüche an den Job. Zu hohe, meinen viele. Wird die Wohlstandsinsel Schweiz zum Wettbewerbsnachteil?»5 Heißt: zuerst die Freizeit, die Life Balance. «Klar will ich gut verdienen. Oberste Priorität hat aber meine Gesundheit», wird in der «Bilanz» eine junge Studentin aus dem Bereich Business Communication in Bern zitiert.6

Das Geld allein bewegt heute in der Wirtschaft kaum jemanden mehr. Es rücken Werte, persönliche Beweggründe und Bedürfnisse in den Vordergrund. Diese sollten erkannt und akzeptiert werden, damit sich bei gewahrter Individualität ein Gefühl von Verbundenheit einstellt. Führungskräfte müssen alle Mitarbeitenden auf fachlicher wie auf persönlicher Ebene achten und schätzen. Menschen, die sich mit ihren Vorgesetzten und in ihrem Team wohlfühlen, fühlen sich in der Regel auch mit ihrer Arbeit wohl.

Leitfragen und Notizen

Wo nutze ich die Möglichkeiten der Individualisierung im Alltag?

Wo stehe ich eher für lokale Vernetzungen ein?

Wie ermögliche ich Individualisierung und Konnektivität?

Rahmenbedingungen der Unternehmung

Die strategische, strukturelle und kulturelle Ausrichtung einer Organisation ist für alle Mitarbeitenden, egal welcher Charge, wegweisend. An ihnen gilt es, die eigene Passung zu überprüfen und sich in der Folge, daran zu orientieren. Bei Verantwortungsträgerinnen und -trägern ist es unumgänglich, dass sie die Ausrichtung einer Unternehmung bejahen und mittragen. Vor allem aber muss die Kultur gelebt werden und im Umgang miteinander spürbar sein. Das beeinflusst wesentlich, ob sich Menschen in ihrem Berufsumfeld wohlfühlen, beste Leistung abrufen können und dem Unternehmen über längere Zeit erhalten bleiben. Diesbezüglich gibt es kaum Kompromisse. Zu glauben, spürbare Ungereimtheiten seien ja nicht so schlimm und aushaltbar oder ein Zustand, der sich irgendwie von selbst ändern werde, ist falsch. Man hört förmlich die Zeitbombe ticken. Es ist bekannt, dass sich viel zu viele unzufriedene Menschen durch den beruflichen Alltag quälen. Wie entsteht eine solche Unzufriedenheit?

Der «Fehlzeiten-Report» der Gesundheitskasse AOK, für den über zweitausend Beschäftige befragt wurden, zeigt den Zusammenhang zwischen dem Grad des eigenen Sinnerlebens und den krankheitsbedingten Abwesenheiten am Arbeitsplatz auf. Dort, wo sich das erlebte Betriebsklima deutlich von der persönlichen Wunschvorstellung unterscheidet, zeigen sich bei den Betroffenen mehr als doppelt so viele Fehltage wie bei jenen, die größere Sinnhaftigkeit erleben.7

Für die Betriebe heißt es, ein konstruktives Arbeitsklima zu schaffen, in dem ein gesundes Arbeiten über lange Zeit möglich ist. Punktuelle Angebote, zum Beispiel im Wellness- oder Fitnessbereich, sind gut gemeint, greifen aber häufig zu kurz. «Friendly Work Space», das Label der Gesundheitsförderung Schweiz, ist ein Qualitätssiegel, das Unternehmen auszeichnet, die erfolgreich ein betriebliches Gesundheitsmanagement realisieren und sich systematisch für gute Arbeitsbedingungen ihrer Mitarbeitenden engagieren. Die Initiantin garantiert: «Unternehmen mit dem Label Friendly Work Space bieten ein respektvolles und wertschätzendes Arbeitsumfeld. Label-Betriebe engagieren sich für ein ganzheitliches Wohlbefinden ihrer Mitarbeitenden. Von den guten Arbeitsbedingungen profitieren nicht nur sie selbst, sondern auch Firmeninhaber und Führungskräfte.»8

Eine Kultur ändert sich innerhalb eines bestehenden Systems nur langsam. Erst bei Führungswechseln auf oberster Ebene sind ruckartige Transformationen möglich, die es dann wieder mit den individuellen Werten abzustimmen gilt. Mitarbeitende überprüfen laufend, ob sie sich weiterhin für die Verantwortungsträger und die Unternehmensidee engagieren wollen. Durch eine stete, ehrliche Aufmerksamkeit ihnen gegenüber können sie und ihre Leidenschaft für die Unternehmung erhalten bleiben.

Strategie und Leitbild

Strategien werden durch die Unternehmensleitungen vertraulich entwickelt. Sie sind nicht für fremde Augen und Ohren bestimmt. Ungünstig, wenn die Konkurrenz zu früh von den eigenen Absichten erfährt. Wie aber steht es mit den Mitarbeitenden? Ab welcher Verantwortungsstufe ist es angebracht, sie mit einzubeziehen oder mindestens zu informieren? Anders betrachtet: Bis zu welcher Stufe ist es zu risikoreich, den Inhalt von wichtigen Papieren offenzulegen? Oft sind nur die obersten Kader in strategische Überlegungen involviert und verfügen auf diese Weise über die relevanten Angaben zu längerfristigen Absichten der Unternehmensleitung. Das ist ein Fehler. Mitarbeitende gehören, maßgeschneidert auf ihren Verantwortungsbereich, informiert. Innerhalb eines umsichtigen Rekrutierungsprozesses sollten die Verantwortlichen sehr konsequent, kritisch und streng vorgehen. Wenn die Zusage aber erfolgt ist, verdienen es die neuen Mitgestalterinnen und Mitgestalter, dass man ihnen vertraut sowie ein Verständnis der übergeordneten Zusammenhänge und ein Engagement dafür zutraut.

Mit der «Balanced Scorecard» wurde ein Instrument entwickelt, mit dem die Strategie für alle Abteilungssegmente übersetzt werden kann, sodass die Mitarbeitenden aller Verantwortungsbereiche die Unternehmensziele verstehen und sich dafür einsetzen können. Auch wenn ein solches Instrument helfen kann, Transparenz innerhalb der Gesamtunternehmung zu erreichen, gibt es nicht den Ausschlag für den Unterschied. Zentral ist die Bereitschaft der zutrauenden, achtsamen Leitung zur offenen Kommunikation.

Die reduzierte Version der Strategie, die sich nach innen und nach außen richtet, ist das Leitbild. Dieses ist eher als werteorientierte Werbebotschaft formuliert und sollte den höheren Unternehmenszweck, den Purpose, deutlich machen. Auch daran sollen sich Führungskräfte orientieren können. Wenn dieses Instrument in einem gemeinsamen Prozess mit den Teammitgliedern entwickelt wurde, dann hat es große Chancen, in der Praxis zu bestehen und sinnstiftend zu wirken.

Achtsame Führung gelingt, wenn die Führungskraft kritisch loyal hinter den übergeordneten Absichten der Unternehmensleitung stehen kann. Dabei ist mit Loyalität nicht blinder Gehorsam gemeint, sondern die emotionelle Verbundenheit. Wenn sich der oder die Vorgesetzte am richtigen Ort wähnt, dann sind die eigenen Pläne mit denen des Betriebs und jenen der Mitarbeitenden bestens synchronisierbar. Die Bestätigung, dass es funktioniert, zeigt sich in engagierten Mitarbeitenden, die über ihren eigenen Verantwortungsbereich hinausdenken und handeln.

Leitfragen und Notizen

Wie weit decken sich Strategie und Leitbild mit meinen Interessen?

Wie kann ich diese übergeordneten Ziele gegenüber meinem Team noch besser verständlich machen?

Wie kann ich die Mitarbeitenden befähigen, dass sie sich für die strategischen Zielen engagieren?

Struktur und Kultur

Die aktuelle Wirtschaft ermöglicht, dass sich Firmenstrukturen innerhalb eines breiten Kontinuums bewegen. Dieses verläuft zwischen stark hierarchisierten Führungssystemen über Matrixkonstrukte bis hin zu solchen, die rein holokratisch organisiert sind. Autokratische Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass das Denken in den Köpfen einzelner Menschen stattfindet und aus den Schlussfolgerungen präzise Handlungsanweisungen für die Mitarbeitenden abgeleitet werden. Mitarbeitende übernehmen dann wenig Verantwortung und delegieren Themen im Zweifelsfall zurück an die übergeordnete Führungsebene. Dort wird aufgrund der vorhandenen Informationslage entschieden, jedoch meist ohne die nötigen direkten emotionalen Eindrücke des Marktes. So manifestiert sich ein Sicherheit suggerierendes Wachstumssystem. Die Holokratie hingegen irritiert das klassische Führungsdenken. Sie löst die fixe Führung zugunsten von variablen Rollen ab, was beispielsweise dazu führt, dass eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter gleichzeitig im Projekt X die Finanzverantwortung übertragen erhält und im Projekt Y die Marketingkoordination. Wie die strenge Hierarchie ist das Prinzip Holokratie sehr prägnant strukturiert, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so erscheint. Das schafft eine enorme Klarheit.

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