Seewölfe - Piraten der Weltmeere 39

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 39
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Impressum

© 1976/2014 Pabel-Moewig Verlag GmbH,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-296-4

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

1.

Die „Isabella V.“ lag hart am Wind, als die kleinen Inseln im Süden auftauchten.

Philip Hasard Killigrew sah den fragenden Blick von Ben Brighton, seinem Ersten Offizier, und schüttelte den Kopf.

„Ich weiß auch nicht, was das für Inseln sind“, sagte er. „Sie sind auf unseren Karten nicht eingezeichnet.“

Ben Brighton rieb sich seine Bartstoppeln.

„Wir sollten jedesmal die Augen schließen, wenn wir Land sehen“, sagte er. „Der Teufel mag wissen, wann wir sonst nach England zurückkehren.“

Hasard nickte. Auch er wollte nach Hause. Die ewigen Kämpfe und die lange Zeit auf See konnten einen Mann auf die Dauer zermürben. Seine Gedanken schweiften zurück. Es war lange her, seit sie den Kontakt zu Francis Drake und der „Golden Hind“ verloren hatten. Lebte Drake noch? Hatte er es tatsächlich geschafft? Vielleicht war er sogar vor ihnen in England.

„Schiff Backbord voraus!“

Hasards Kopf ruckte hoch. Dan O’Flynns Blondschopf ragte aus dem Mars des Großmastes. Seine Hand wies nach Norden.

„Ein Dreimaster!“ rief Dan O’Flynn.

Hasard preßte die Lippen aufeinander. Er hatte immer angenommen, hier in der Neuen Welt müsse man froh sein, alle Monate mal einem Schiff und menschlichen Wesen zu begegnen, aber hier in der Karibik herrschte mehr Verkehr als im Kanal zwischen Dover und Calais.

Hasard gab Ben Brighton einen Wink mit der Hand. Es gefiel ihm zwar nicht, dem Schiff auszuweichen, denn dadurch gerieten sie zu dicht an die Inseln im Süden, aber er wollte jeden weiteren Zusammenstoß mit den Spaniern vermeiden.

Ben Brightons Stimme scholl über das Schiff, und Smoky und Carberry gaben seine Befehle weiter. Die schwerfällige Galeone fiel langsam ab und wurde vom steifen Wind, der aus nordöstlicher Richtung wehte, schnell nach Süden versetzt. Es dauerte keine halbe Stunde, da war von dem anderen Schiff nichts mehr zu sehen.

Hasards Befürchtungen wurden bestätigt. Die „Isabella“ hatte Schwierigkeiten, nicht auf Legerwall zu geraten. Nur mühsam kämpfte sich die schwerfällige Galeone gegen den Nordost von den Korallenriffen vor den Inseln fort.

Hasard hörte durch das Heulen des Windes und Knarren der Takelage den Schrei Dan O’Flynns, aber er verstand die einzelnen Worte nicht. Er blickte zu den Inseln hinüber, und dann sah auch er den dunklen Fleck dicht vor dem weißen Strand der einen Insel.

Er kniff die Augen zusammen. Es war ein Wrack, ganz offensichtlich. Und es konnte noch nicht lange dort liegen. Segelfetzen hingen von der schrägstehenden Rahe des Vormastes herab und flatterten im Wind. Die anderen beiden Masten waren gebrochen und hingen, von den Wanten festgehalten, zur Seeseite über Bord.

„Wahrscheinlich ist sie im selben Sturm auf das Riff gebrummt, der auch das Sklavenschiff zerschmettert hat“, sagte Ben Brighton. „Die Kerle haben eben Pech gehabt.“

Hasard antwortete nicht. Er starrte zu dem Wrack hinüber. Er wußte, was Ben Brighton in diesem Moment dachte. Sicher, auch er wollte nach England, und das möglichst ohne Aufenthalt, aber etwas war wieder einmal stärker in Hasard. Er wußte nicht, ob es reine Neugier war oder die Vermutung, im Rumpf der gestrandeten Galeone befände sich vielleicht eine wertvolle Ladung.

„Sieh zu, daß du die ‚Isabella‘ so dicht wie möglich ranbringst“, sagte er zu Ben Brighton.

Ben Brighton seufzte und starrte Hasard nach, der hinunter in die Kuhl ging und mit Carberry sprach.

So dicht wie möglich ran.

Als ob das so einfach wäre!

Ben Brighton dachte einmal mehr an die kleine, aber ungemein wendige und schnelle „Isabella“ zurück, mit der sie an der Westküste der Neuen Welt hinaufgesegelt waren. Mit dem Schiff hätte er es auch gewagt, hier dicht vor den Riffen den Anker zu werfen.

Aber mit der schwerfälligen „Isabella V.“?

Er blickte zum Himmel. Keine einzige Wolke war zu sehen. Und doch mißtraute er dem Wetter. Zu oft hatten sie in diesen Breiten schon erlebt, daß sich ein wolkenloser Himmel innerhalb von einer Stunde in eine Sturmhölle verwandeln konnte. Und wenn sie sich dann mit ihrer Galeone auch nur in Sichtweite dieser Riffe befanden, konnten sie auch gleich direkt darauf zusteuern und sich neben das andere Wrack legen.

Ben schrie seine Befehle über Deck.

Wenig später luvte die „Isabella“ an und ging wieder härter an den Wind.

Ben Brighton hatte die Möglichkeiten der Galeone abgewogen und entschieden, daß es bodenloser Leichtsinn gewesen wäre, direkt auf das Wrack zuzulaufen und in der Nähe zu ankern. Er hatte nichts gegen diese Galeone, aber alle Umstände, unter denen sie mit ihr fuhren, waren ungünstig.

Sie konnten weder schnell segeln, weil sie nicht genug Männer hatten, die Segel zu bedienen. Sie mußten sich außerdem hüten, mit einem starken Feind in Berührung zu geraten, denn für die vierundzwanzig siebzehnpfündigen Culverinen standen in einem Gefecht höchstens sechzehn Mann zur Verfügung, und das waren verdammt zu wenig, um mehr als eine Breitseite abzufeuern.

Ben Brighton hatte immer die Perfektion bewundert, mit der der junge Killigrew seine Schiffe führte, aber was nutzte ein gutes Schiff, wenn die Leute fehlten, es zu bedienen?

Ben atmete auf, als sie die Ostspitze der Insel passierten. Kleinere Nachbarinseln tauchten auf. Sie bildeten mit der größeren Insel, an deren Küste das Wrack lag, eine Art Kessel, der wie ein natürlicher Hafen wirkte. Wie es darin aussah, wenn der Wind drehte und von Süden blies, wußte Ben nicht, und er hütete sich, es sich vorzustellen.

Er ließ die „Isabella“ abfallen und durch die Passage segeln, die von den beiden Spitzen der Inseln begrenzt wurde.

Er ließ bis auf die Blinde und das Fockmarssegel alle Leinwand einholen. Er mißtraute diesem tiefblauen Wasser, das im Gegensatz zu der See nördlich der Insel sehr ruhig war.

Dan O’Flynn, der immer noch im Großmars saßerhielt von ihm den Auftrag, nach Korallenriffen Ausschau zu halten, und vier Männer wurden zum Loten eingeteilt.

Die „Isabella“ stand fast. Der Wind in diesem Kessel war so schwach, daß er kaum die Segel bauschte.

Ben blickte zu Hasard hinunter, der immer noch mit Carberry sprach, aber der kümmerte sich nicht um ihn. Er fluchte still vor sich hin und beobachtete mit zusammengekniffenen Augen den hellen Strand, der von Palmenwäldern begrenzt wurde.

Ein kleines Kap tauchte auf, das Ben geeignet erschien, um der „Isabella“ bei einem plötzlichen Sturm Schutz zu bieten. Langsam ließ er die Galeone auf das Kap zuloten. Als die Ankertrosse durch die Klüse rauschte, atmete er auf. Auf dieser Seite der Insel schien es keine Korallenriffe zu geben. Sie hatten noch mehr als fünf Faden Wasser unter dem Kiel.

Hasard sprang die Stufen zum Achterdeck hinauf. Ben Brighton schob sein Kinn trotzig vor, denn er erwartete die Frage, ob das so dicht wie möglich sei.

Aber Hasard sagte nichts. Er blickte zur Insel hinüber und fragte nur: „Was meinst du, wie lange wir brauchen, wenn wir die Insel am Strand umrunden?“

Ben Brighton zuckte mit den Schultern.

„Ihr müßtet ein Boot mitnehmen, und es ist eine Viecherei, immer durch Sand stapfen zu müssen“, sagte er. „Einen Tag werden wir mindestens verlieren, wahrscheinlich aber zwei.“

Hasard ging nicht darauf ein.

„Wir werden einfach quer über die Insel marschieren“, sagte er mehr zu sich selbst. „Sie kann an dieser Stelle nicht viel breiter als eine halbe Meile sein.“

„Mit dem Boot?“ fragte Ben Brighton.

Hasard nickte.

„Mit dem Boot. Ich nehme sieben Männer mit. Wir werden sehen, daß wir bis zum Einbruch der Dunkelheit alles erledigt haben. Vielleicht werden wir auf der anderen Seite übernachten, aber dann schicke ich einen Mann zurück, der dir Bericht erstattet. Bereite alles dafür vor, daß wir morgen früh wieder ankerauf gehen.“

Ben Brighton nickte gottergeben. Er wußte, daß er gegen Hasards Eigensinn nichts ausrichten konnte, und er wollte es auch gar nicht. Zu oft schon hatte es sich erwiesen, daß Hasard mit seinen Entscheidungen instinktiv richtig gelegen hatte.

Aber diesmal?

Ben Brighton schüttelte den Kopf. Er wollte nicht mehr daran denken, sondern sich auf seine Aufgabe konzentrieren, die Hasard ihm gestellt hatte. Vielleicht fand er ein bißchen Zeit, um mit Ferris Tucker weiter daran zu tüfteln, wie sie die unteren mit den Marsrahen verbinden konnten, so daß sie nur eine Brasse zu bedienen brauchten.

Zum Glück hatte Hasard Ferris Tucker nicht für den Landausflug eingeteilt.

Ben beobachtete, wie Stenmark, Buck Buchanan, Sam Roskill und Batuti das kleine Boot zu Wasser ließen, mit dem sie an Land pullen und dann die Insel überqueren wollten. Matt Davies, Carberry und der alte Haudegen Valdez kümmerten sich um die Waffen. Niemand konnte schließlich wissen, ob sich nicht die Mannschaft der gestrandeten Galeone an Land gerettet hatte und nun die Gelegenheit wahrnahm, sich ein neues Schiff zu besorgen.

 

Als Hasard das Achterdeck wieder verließ und in die Kuhl hinunterging, schwang sich Dan O’Flynn aus dem Mars und hangelte an den Wanten hinunter. Arwenack turnte um ihn herum und kreischte.

„Wartet, ich komme mit!“ rief Dan.

Hasard blickte Carberry grinsend an.

„Kannst du noch einen gebrauchen, der dir beim Boottragen hilft?“ fragte er.

„Dann kann ich auch gleich den Kutscher mitnehmen“, erwiderte Carberry grollend.

„Was soll das heißen, du Dickwanst?“ fragte Dan wütend, als er vor Carberry stand.

„Das soll heißen, daß wir dich nicht gebrauchen können, Söhnchen“, sagte Carberry. „Außerdem haben wir Angst, daß du uns mit deiner Pike stichst, wenn es zu einem Kampf kommen sollte.“

„Das kannst du gleich haben!“ Niemand hatte gesehen, wo Dan so schnell seine gekürzte Pike herhatte. Die Spitze schnellte vor und bohrte sich leicht in Carberrys Oberschenkel.

Carberry brüllte vor Zorn. Er ging einen Schritt vor. Seine Pranken zuckten auf Dan zu, doch der hatte sich blitzschnell gebückt und tauchte unter den zupackenden Händen weg.

Im nächsten Augenblick spürte Carberry etwas in seinem Nacken. Arwenack zerrte in seinen Haaren und keckerte wie verrückt. Carberry griff nach ihm, aber der Affe war zu schnell. Er hing bereits wieder in den Wanten und entblößte sein Gebiß.

„Schluß jetzt!“ sagte Hasard grinsend. „Wir nehmen Dan mit. Vielleicht brauchen wir einen kleinen schlanken Mann, wenn wir in das Wrack eindringen.“

Carberry blickte Dan wütend an. Die kleine Wunde in seinem Bein störte ihn weniger, aber der Bengel hatte seine beste Hose ruiniert.

„Warte, bis wir zurück sind, Söhnchen“, sagte er knurrend, „dann werde ich dir den Arsch versohlen.“

„Der Teufel ist dein Söhnchen“, erwiderte Dan und warf den Kopf in den Nacken. Er ging zu Valdez und ließ sich zwei Pistolen geben. Dann half er, die Musketen ins Boot zu schaffen, das unten auf dem Wasser dümpelte.

Hasard sprach noch kurz mit Ben Brighton, bevor er als letzter ins Boot stieg. Sie legten ab und pullten mit kräftigen Zügen auf den Strand zu, der in paradiesischer Stille dalag.

Als der Kiel des Bootes über den Sand knirschte, hatte Hasard zum erstenmal ein seltsames Gefühl. Es war, als wittere er eine unsichtbare Gefahr. Am liebsten hätte er seinen Männern befohlen, das Boot wieder ins Wasser zu schieben und zur Galeone zurückzupullen.

Er schüttelte die Gedanken ab. Was sollte ihnen hier schon geschehen? Nirgends war ein Anzeichen, daß diese Insel bewohnt war. Außerdem war sie viel zu klein dafür.

Und das Wrack?

Hasard war plötzlich nicht mehr davon überzeugt, auf dem Wrack Schätze vorzufinden.

Buck Buchanan und Stenmark zogen das Boot, das von vier Männern getragen werden konnte, ganz an Land. Die anderen starrten auf den Hügel, den sie überqueren mußten, wenn sie die andere Seite der Insel erreichen wollten.

„Das sieht verdammt steil aus“, sagte Dan O’Flynn.

Hasard nickte.

„Vielleicht haben wir uns zuviel vorgenommen“, erwiderte er vorsichtig. „Wir sollten abstimmen, ob wir den Weg auf uns nehmen oder nicht.“

Hasard fluchte innerlich, als er die Gesichter der Männer betrachtete. Sie schauten ihn an, als sähen sie ihn zum erstenmal. Er las Verwunderung und Mißtrauen in ihren Augen. Schließlich hatte er noch nie eine Abstimmung vorgeschlagen, wenn er sich schon für ein Unternehmen entschlossen hatte.

„Du meinst, wir sollen zum Schiff zurückpullen?“ fragte Carberry und legte seine Stirn in hundert Falten, was ihm einige Mühe bereitete.

Hasard wischte die Frage mit einer heftigen Handbewegung fort.

„Davon habe ich nichts gesagt“, erwiderte er. „Die Frage ist nur, ob das nicht zuviel Aufwand für eine gestrandete Galeone ist.“

Ich sollte den Mund halten, dachte Hasard, bevor ich noch mehr Unsinn rede. Aber was sollte er tun? Er konnte den Männern doch nicht erklären, daß er ein ungutes Gefühl hatte.

„Jetzt sind wir schon mal hier“, sagte Dan O’Flynn. „Den Maulwurfshügel da vorn schaffen wir doch mit einem Bein.“

Die anderen Männer nickten, und Hasard blieb nichts anderes übrig, die Entscheidung der Männer zu akzeptieren, wenn er sie schon gefragt hatte.

Zu sechst hoben sie das Boot an. Auf der linken Seite waren Batuti, Stenmark und Sam Roskill, auf der rechten Carberry, Matt Davies und Hasard. Hasard war froh, daß sie dieses leichte Boot an Bord gehabt hatten, denn mit einem der anderen Boote wäre es unmöglich gewesen, diesen Weg in Erwägung zu ziehen.

Hasard dachte an Ben Brighton, der die „Isabella V.“ zwischen die Insel gesegelt hatte. Es war die einzige Möglichkeit gewesen, denn auch Hasard war sich darüber im klaren, daß sich die schwerfällige Galeone niemals wieder würde freisegeln können, wenn sich der Wind noch etwas verstärkte.

Er überlegte, ob es nicht besser gewesen wäre, erst zwei Männer als Vorhut über die Insel zu schicken. Vielleicht war es gar nicht nötig, das Boot mitzuschleppen, und sie konnten das Wrack auf dem Riff zu Fuß erreichen. Aber dann schüttelte er den Kopf. Die Riffe lagen meist zu weit vom Strand entfernt.

Dan O’Flynn und Valdez gingen voraus. Valdez hatte ein breites Entermesser mitgenommen, das ihm jetzt gute Dienste leistete. Er schlug damit eine Bresche in die Büsche, die noch keine Menschenhand berührt zu haben schien.

In den Bäumen über ihnen schrien Papageien, aber sonst war es still. Nur das Keuchen der Männer, die das Boot trugen, drang durch die Stille.

Der Weg war nicht so steil, wie Hasard angenommen hatte. Schon nach einer knappen Stunde hatten sie die Hügelkuppe erreicht und konnten das Wrack auf dem Riff sehen.

Die Galeone bot ein Bild der totalen Zerstörung. Sie lag mit ziemlicher Schlagseite im Riff, das Heck oben, das Vorschiff zum Teil unter Wasser. Masten und Spieren waren abgebrochen und zerschmettert, das Rigg war ein irrer Knäuel. Vom Vormast, der als einziger noch stand, hingen die Segel in Fetzen herab.

Dan O’Flynn war plötzlich ganz aufgeregt und wies aufs Meer hinaus.

„Da, es ist dieselbe Galeone, die ich heute morgen schon gesichtet habe“, sagte er.

Jetzt erkannte auch Hasard die Mastspitzen an der Kimm. Die Galeone schien den gleichen Kurs zu halten wie vorher die „Isabella“. Ein Blick zur anderen Seite der Insel zeigte ihm, daß der Hügel der Insel hoch genug war, die Masten der „Isabella“ zu verbergen. Er atmete auf. So hatte ihr Abstecher doch noch etwas Gutes. Die Galeone dort an der Kimm schien wesentlich schneller als die „Isabella“ zu sein, und wahrscheinlich wäre ein Kampf unvermeidlich gewesen, wenn Hasard mit seinem Schiff den Kurs gehalten hätte.

Sie warteten nicht, bis die Masten an der Kimm verschwunden waren. Hasard trieb die Männer an. Vielleicht schafften sie es, noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder auf der „Isabella“ zu sein.

Der Abstieg bereitete ihnen weniger Mühe als der Aufstieg. Die letzte Strecke konnten sie das Boot auf dem weichen Sand hinunterrutschen lassen.

Hasard ging mit Dan O’Flynn voraus, während Valdez sich seitlich in die Büsche geschlagen hatte, um die Gegend zu kontrollieren.

Dan O’Flynn entdeckte die Spuren als erster.

Er blieb stehen und wies stumm auf die großen Fußabdrücke im noch feuchten Sand.

Hasard war sofort klar, was das bedeutete. Die Spuren konnten nicht älter als höchstens drei Stunden sein.

„Da!“ sagte Dan heiser.

Hasard folgte seinem Blick. Er sah die drei Auslegerboote, die weit den Strand hinaufgezogen worden waren und zur Hälfte von dem Gebüsch zwischen den Palmen verborgen wurden.

Zweige knackten, und dann teilten sich die Büsche.

Hasard ließ seine Muskete wieder sinken.

Valdez tauchte bei den Booten auf. Er winkte Hasard zu. Hasard befahl den Männern, das Boot weiter zum Wasser hinunterzutragen und sich eine Verteidigungsstelle aufzubauen. Dann lief er zu Valdez hinüber.

„Wie viele sind es?“ fragte er keuchend, als er den Spanier erreicht hatte.

Valdez hob die Schultern. Seine Haut hatte eine ungesunde Färbung angenommen. Er nickte Hasard zu und ging zurück in die Büsche. Hasard folgte ihm. Sie gelangten auf eine kleine Palmenlichtung.

In der Mitte des hellen Sandes, der die ganze Lichtung bedeckte, befand sich ein großer schwarzer Fleck, von dem einzelne Rauchfäden aufstiegen.

Hasard spürte, wie seine Lippen trocken wurden.

Er starrte auf die hellen Gebeine, die neben der Feuerstelle lagen. Es gab keinen Zweifel. Hier hatten Kannibalen einen Festschmaus abgehalten.

„Ich habe mir die Spuren angesehen“, sagte Valdez heiser. „Es sind mindestens zehn Kannibalen und nach den Knochen zu urteilen, haben sie drei Menschen gefressen.“

Hasard sah die Fußknochen und nickte. Die Schädel der Opfer fehlten.

„Wir müssen zurück zu den anderen“, sagte er. „Wahrscheinlich haben die Kannibalen uns schon gesehen, wagen aber noch nicht, uns anzugreifen.“

Valdez nickte. Er schien froh zu sein, diesen Ort des Grauens verlassen zu können. Immer wieder schaute er sich um, doch nirgends war eine Bewegung zu sehen.

Die Männer beim Boot hatten ihre Waffen in den Händen. Carberry winkte und wies auf das Wrack. Hasard und Valdez liefen auf sie zu. Sie drehten sich nicht mehr um, denn sie wußten, daß die anderen ihnen Feuerschutz geben würden.

Die Männer beim Boot blickten ihnen grinsend entgegen, aber als sie Hasards ernstes Gesicht und den bleichen Valdez sahen, merkten sie, daß die Gefahr größer war, als sie gedacht hatten.

„Habt ihr was gefunden?“ fragte Carberry.

„Wir sind auf einer Kannibaleninsel“, sagte Valdez. Seine Stimme klang belegt. „Für die Kerle ist diese Insel heilig. Sie wohnen nicht hier. Es ist für sie eine Art Kultstätte. Sie kommen nur hierher, um ihre schaurigen Festmahle abzuhalten.“

Caberry wandte mit einem Ruck den Kopf.

„Dort vorn neben dem Vorschiff des Wracks liegt eines von den Eingeborenenbooten“, sagte er grimmig. „Vielleicht schnappen uns die Kerle die besten Sachen vor der Nase weg.“

Hasard blickte zum Riff hinaus. Er mußte die Augen zusammenkneifen, aber dann sah auch er das kleine Auslegerboot, das an der aus dem Wasser ragenden Vorschiffreling festgebunden war.

„Bringt das Boot zu Wasser“, sagte Hasard. „Wir pullen zu fünft hinüber. Vier Mann bleiben hier. Versucht, einen Wall aus Sand aufzuwerfen, hinter dem ihr Deckung finden könnt, wenn ihr von den Palmen her angegriffen werdet.“

Hasard ließ Stenmark, Buchanan, Carberry und Valdez zurück. Die anderen schoben das Boot ins seichte Wasser und stiegen ein. Batuti, Sam Roskill, Matt Davies und Dan O’Flynn setzten sich an die Riemen, Hasard nahm die Pinne in die Hand. In der Linken hielt er eine Pistole.

Mit jedem Schlag näherten sie sich dem Wrack, das fast zweihundert Yards weit draußen auf dem Riff lag. Je näher sie kamen, desto deutlicher hörten sie das Knarren und Knirschen des Rumpfes. Es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis das Wrack vollends auseinanderbrach.

Der Wind blies ziemlich kräftig von See. Es war Hasard, als hätte er einen Schrei gehört, aber dann blickte er auf und sah ein paar Seevögel über sich kreisen.

Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er meinte zu spüren, daß sich ihm die Nackenhaare auf stellten. Zum zweitenmal an diesem Tag, hatte er das Gefühl, einen großen Fehler zu begehen.

Aber es gab kein Zurück mehr.

Sie waren nur noch knapp fünfzig Yards von dem Wrack entfernt. Wie sollte er es seinen Männern erklären, wenn er jetzt befahl, das Boot zu wenden?

Er schüttelte unwillig den Kopf und preßte die Lippen aufeinander. Wahrscheinlich hatte ihn der Anblick der abgenagten Menschenknochen geschockt.

„Halt!“

Hasards Stimme klang schneidend. Die Männer, die mit dem Gesicht zum Strand im Boot saßen, ließen die Riemen fahren und griffen nach ihren Waffen. Das Boot trieb ein wenig ab, und so konnten sie sehen, was auf dem Wrack geschah, ohne den Kopf zu wenden.

Die beiden Eingeborenen waren genauso überrascht wie sie. Es war ihnen anzusehen, daß sie mit allem gerechnet hatten, aber nicht mit dem Auftauchen von Fremden von der Insel her. Hasard sah, wie der eine von ihnen zu den anderen Booten am Strand hinüberblickte.

 

Sie waren nackt. Nur um die Handgelenke und die Fußfesseln hatten sie sich kleine Federbüsche gebunden.

Der eine hielt den abgetrennten Kopf eines bärtigen Weißen in seiner linken Hand, der andere hatte den Leichnam aufs schräggestellte Deck gezerrt.

Die Männer stöhnten auf, als sie sahen, daß dem Leichnam nicht nur der Kopf, sondern auch die unteren Teile der linken Gliedmaße fehlten.

Der Kannibale mit dem Kopf seines Opfers hatte seine Überraschung als erster überwunden. Er warf die langen schwarzen Haare in den Nakken und stieß ein durchdringendes Geheul aus.

Der andere hatte plötzlich einen Schädelbrecher in der Hand. Er ließ den verstümmelten Leichnam los und lief zu dem Auslegerboot hinüber, das sie an der Achterdeckreling angebunden hatten.

Hasard warf einen Blick zurück zum Strand, aber dort rührte sich immer noch nichts.

„An die Riemen, Männer“, sagte er heiser. „Wir müssen die beiden lebendig fangen. Vielleicht können wir sie als Geiseln benutzen und einen Kampf mit den Kannibalen vermeiden.“

Die Männer legten ihre Waffen wieder hin und griffen nach den Riemen.

Hasard behielt den Eingeborenen im Auge, der zum Boot hinüberturnte. Er hatte geglaubt, daß der Kannibale die Absicht hatte, mit dem Auslegerboot zu fliehen, doch als er es erreichte, bückte er sich und hielt plötzlich einen Bogen und einen Pfeil in den Händen.

Inzwischen hatte auch der zweite Kannibale das Auslegerboot erreicht. Er hatte den Kopf seines Opfers mitgenommen und warf ihn nun in den schmalen Rumpf des Bootes. Auch er bückte sich.

Hasard konnte nicht länger warten. Der erste Eingeborene hatte bereits den Pfeil auf die Bogensehne gelegt und zielte auf die Rücken der Männer, die das Boot mit kräftigen Schlägen dichter an das Wrack heranbrachten.

Die Pistole in Hasards Hand krachte. Eine Pulverdampfwolke nahm ihm die Sicht, aber er wußte, daß er getroffen hatte. Er beugte sich sofort vor und griff nach einer anderen Pistole.

Er hörte ein seltsames Pfeifen, dann klatschte etwas hinter ihm ins Wasser. Der andere Kannibale war schneller gewesen, als Hasard vermutet hatte.

Hasard zielte ruhig. Er wußte, daß es ihnen von großem Nutzen sein konnte, wenn sie wenigstens einen Eingeborenen als Geisel hatten, aber er wollte das Risiko nicht eingehen, daß einer seiner Männer von einem Pfeil getroffen wurde.

Der Kannibale hatte schon den zweiten Pfeil auf der Sehne, aber er fand keine Zeit mehr, ihn abzuschießen. Die Kugel aus Hasards Pistole riß ein großes Loch in seine Brust und warf ihn zurück auf die schrägstehenden Planken des Achterdecks. Er rutschte bis zur Reling und blieb dort neben dem anderen Kannibalen hängen, der ebenfalls von der Pistolenkugel auf der Stelle getötet worden war.

Sie hatten das Wrack fast erreicht.

Dan O’Flynn ließ plötzlich seinen Riemen los und wies zum Strand zurück.

„Sie greifen an!“ schrie er.

Hasard wollte den Kopf wenden. Er hörte Geschrei, und es war ihm, als würden die Laute aus dem Inneren des Wracks dringen. Er drehte sich um.

Mit erhobenen Lanzen und Knüppeln rannten mindestens ein Dutzend Eingeborene über den Strand auf die vier Männer zu, die sich einen Schutzwall aus Sand gebaut hatten.

Hasard atmete auf, als er sah, daß Carberry die Nerven behielt. Die vier Männer warteten, bis die Kannibalen bis auf zehn Yards heran waren. Dann feuerten sie gleichzeitig ihre Musketen ab.

Die Wirkung war ungeheuerlich.

Vier der Eingeborenen wurden von der Wucht der Kugeln zurückgeschleudert. Sie flogen fast drei Yards durch die Luft. Hasard konnte deutlich die fürchterlichen Löcher in ihren Körpern erkennen.

Nur einer der unverletzten Kannibalen war weitergelaufen, und als Carberry auch ihn mit der Kugel aus einer Pistole von den Beinen holte, liefen die anderen schreiend davon. Sie warfen ihre Waffen weg und kümmerten sich nicht um die Toten. Jetzt hatte auch sie das Grauen gepackt, und da sie wahrscheinlich an Geister glaubten, war ihr Entsetzen noch um einiges größer als das der Weißen beim Anblick der abgenagten Menschenknochen.

„Alles in Ordnung?“ rief Hasard zum Strand hinüber.

Carberry erhob sich auf die Knie und winkte zurück. Hasard sah, daß er etwas schrie, aber er konnte nichts verstehen, weil der auflandige Wind Carberrys Worte davontrug.

Aus Carberrys Gesten entnahm Hasard, daß die vier Männer am Strand nicht mit einem weiteren Überfall rechneten. Er hatte also Zeit, das Wrack zu durchsuchen.

„He, habt ihr das gehört?“ fragte Dan O’Flynn und lauschte zum Wrack hinüber.

„Was denn?“ meinte Sam Roskill. „Noch mehr Kannibalen?“

„Ich habe Schreie gehört“, sagte Dan. Er schaute Hasard an.

Hasard hob die Schultern.

„Weiß der Teufel, was auf diesem Schiff los ist. Ich habe das Gefühl, als ob die Kannibalen diese Galeone als Speisekammer benutzt haben.“

Die anderen Männer hatten keine Zeit mehr, auf Hasards Vermutung einzugehen. Mit einem dumpfen Laut schlug das Dollbord des leichten Bootes gegen den Rumpf der Galeone. Erst aus der Nähe war das volle Ausmaß der Zerstörung an Deck des Wracks zu erkennen.

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