KOELLBERGS Teil II - Familienangelegenheiten

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KOELLBERGS Teil II - Familienangelegenheiten
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PROLOG

Pirro hatte die ganze Zeit im Bad gekauert. Jetzt traute er sich in das Schlafabteil des Wohnmobils, um nach seinem neuen Freund zu sehen. Tränen schossen ihm in die Augen, als der junge Albaner Toms nackten, geschundenen Körper erblickte, der völlig regungslos auf dem Bett lag. Pirro versuchte, auf ihn einzureden. „Tommy, bitte mach dem ein Ende. Sag ihnen wo Gregor steckt!“ Pirros eindringliche Bitte erreichte den Gepeinigten nicht mehr. Der hatte inzwischen gänzlich das Bewusstsein verloren.

Es war am Donnerstagmorgen des 19. April 2012 um 04:33 Uhr, 109 Tage nach seinem Dienstantritt und 45 Tage vor seinem 20. Geburtstag, als das Herz des Polizeimeisters, Thomas Koellberg seinen Dienst versagte. Die Stromstöße der Elektro-Schocker hatten das Erregungsleitsystem seines Herzens so nachhaltig irritiert, dass der Sinusknoten keine koordinierten Signale mehr generieren konnte. Gleich darauf setzte auch Toms Atmung aus.

Von alledem spürte Tom nichts mehr. Er hatte einen wunderbaren Traum, in dem er sich an einem warmen Sommertag fröhlich und unbeschwert langsamen Schrittes über eine duftende Waldwiese bewegte. In einiger Entfernung sah er seine Mom und Carlo Arm in Arm zusammenstehen. Sie winkten ihm zu, und er schritt ihnen entgegen.

Doch als er sie fast erreicht hatte, bedeuteten sie ihm, er solle nur immer weitergehen. Als er an ihnen vorbeigegangen war, drehte sich Tom noch einmal zu ihnen um und sah, wie sie ihm fröhlich hinterherwinkten. Sogleich wich Toms Traumbild einer gleißenden Helligkeit, die sich kurz darauf in einem Nichts verlor.

Als Pirro bemerkte, dass Tom nicht mehr atmete, legte er sein Ohr an Toms Brust, doch er konnte sein Herz nicht schlagen hören. Pirros Stimme überschlug sich. „Tot! Tom ist tot! Ihr habt ihn umgebracht!“ Weinend brach der Junge über Toms reglosen Körper zusammen.

Zwölf Tage zuvor:

OSTERSAMSTAG, 07.04.2012

Es war 15:30, als Kriminalkommissar Carlo Marques sein Büro im 1. OG des Polizeikommissariats 33 am Goldbek-Kanal betrat. Eigentlich hätte der 25jährige Brasilianer an diesem Tag keinen Dienst gehabt, aber seine Abteilung hatte einen Entführungsfall mit akuter Dringlichkeit übernommen, und noch an diesem Abend war mit einer Geldübergabe zu rechnen.

Sein Büro teilte sich Carlo mit zwei Kollegen. Einer davon war der 19-jährige Polizeimeister, Thomas Koellberg, sein engster Mitarbeiter und bester Freund. Im Büro traf Carlo auf seinen zweiten Kollegen Markus Zeller. Der 24-jährige Polizeiobermeister der Schutzpolizei war interimistisch an Carlos Abteilung überstellt worden. Deren Leiter, Kriminalhauptkommissar Peter Harms, von allen nur der „Chef“ genannt, hatte den jungen Mann vor ein paar Tagen für einen Spezialeinsatz angefordert.

Im Verlauf dieses Einsatzes wäre Thomas in der Nacht zu Gründonnerstag beinahe einem Mordanschlag zum Opfer gefallen. Dank glücklicher Umstände und einem von Markus reaktionsschnell abgefeuerten Rettungsschuss war Tom mit leichten Blessuren davongekommen, musste nun aber für ein paar Tage pausieren, weshalb Markus vorläufig als Ersatz in der Abteilung blieb.

Die beiden jungen Polizisten hatten sich sofort bereit erklärt, auf ihre eigentlich freien Osterfeiertage zu verzichten, als der Chef sie wegen dieses dringenden Falles darum gebeten hatte. Der 18-jährige Schüler, Ralph Rehm war entführt worden und seit nunmehr 56 Stunden spurlos verschwunden. Der Vater, früher selbst Polizist und ehemaliger Kollege des Chefs, hatte sich direkt an diesen gewandt mit der Bitte um äußerste Diskretion.

Eine Lösegeldforderung in Höhe von einer Million Euro in 50-Euro-Scheinen war per Videobotschaft übermittelt worden, in der man den Schüler als Sprachrohr benutzt hatte. Es bestand bisher keinerlei Möglichkeit einer zweiseitigen Kommunikation mit den Entführern. Das Lösegeld war von den Eltern des Jungen inzwischen bereitgestellt worden, und nun erwartete man für diesen Abend eine weitere Botschaft der Entführer mit Anweisungen zur Geldübergabe.

Thomas und Carlo hatten den Fall in den vorangegangenen Tagen gemeinsam bearbeitet. Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei der Entführung wohl um einen Racheakt handeln könnte. Daher hatten sie sich auf einen Kreis von Tätern konzentriert, die ihre Verurteilung einem früheren Fahndungseinsatz von Herrn Rehm zu verdanken hatten.

Man hatte sich darauf geeinigt, den Polizeieinsatz so diskret wie möglich zu gestalten und die Maßnahmen auf das Notwendigste zu beschränken. So hatte man darauf verzichtet, den Überbringer des Lösegeldes verkabeln zu wollen und ihm lediglich eine Ortungs-App auf seinem Handy installiert. Weiterhin standen drei zivile Fahndungs-Teams bereit, um den Überbringer undercover zu beschatten.

„Moin Markus, hat sich hier schon etwas getan?“ Markus schüttelte den Kopf. „Moin Carlo, alles ruhig hier. Der Chef hat sich auch noch nicht wieder blicken lassen. Wie geht’s Tommy?“ „Besser als erwartet. Du hast ihn ja gestern kurz erlebt. Er steckt das erstaunlich gut weg.“

Die Tür öffnete sich, und der Chef trat ein. „Moin Jungs! Ich habe gerade mit Herrn Rehm telefoniert. Die Entführer haben sich bisher noch nicht wieder bei ihm gemeldet, und seine Frau Marianne ist mittlerweile am Ende ihrer Kräfte.“

Der Chef setzte sich. „Bisher haben die Entführer ihre Botschaften von dem Jungen sprechen lassen und dann als Video übermittelt. Wenn die Schnitzeljagd losgeht, werden sie wohl nur noch per SMS mit uns kommunizieren. Bisher haben die ja noch keinen Fehler gemacht, und sie benutzen ständig neue, nicht registrierte Prepaids. Wir müssen damit rechnen, dass sie Herrn Rehm unterwegs irgendwo eines ihrer Handys zuspielen, damit wir ihn nicht mehr orten können. Unser Erfolg wird also in erster Linie von den Fahndungsteams abhängen. Wenn die den Mann verlieren, können wir nur noch auf den Goodwill der Entführer und nachträgliche Fahndungserfolge hoffen.“

„Ist Ralphs ältere Bruder, dieser Tobias inzwischen aus Berlin zurück?“, wollte Carlo wissen.

„Ist er. Als ich vorhin mit dem Vater telefonierte, war er zu Hause und versuchte, seiner Mutter beizustehen. Auf seinen Vater machte er einen recht gefassten Eindruck. Er hat sich auch bereit erklärt, als Überbringer des Lösegeldes zu fungieren, falls die Entführer das zur Bedingung machen sollten.“

„Wenn ich der Entführer wäre, würde ich genau das verlangen. Schließlich ist der Vater ausgebildeter Polizist. Wenn Probleme auftauchen, wird der Bruder für die Entführer der leichtere Part werden“, meinte Markus.

Der Chef nickte. „Deswegen habe ich vorsorglich auch auf Tobias' Handy die Ortungs-App installieren lassen. Vielleicht haben wir Glück. Entführer machen ja auch mal Fehler. Wie geht es denn dem Thomas?“

„Den Umständen entsprechend sehr gut“, erwiderte Carlo. „Er war gestern Mittag kurz hier im Büro, und hat sich von Markus noch einmal den Schusswechsel in der letzten Nacht erklären lassen. Er selbst kann sich immer noch nicht daran erinnern. Jetzt ist er zu Hause, und seine Mutter ist bei ihm.“

„Hat sich denn Henriette wieder von dem Schock erholt? Ist ja schon hart, wenn man so eine vermeintliche Todesnachricht bekommt; auch wenn es nur für ein paar Minuten ist.“

„Ja das mit der Verwechslung im Krankenhaus gestern Nacht war wirklich heftig, Chef. Tommy zu verlieren wäre für sie und auch für mich der absolute Super-GAU gewesen. Bei Henriette hat es irgendetwas ausgelöst. Darüber will sie mit mir sprechen. Ich soll morgen zu ihr kommen, wenn es unser Dienst zulässt.“

„Das wird sich bestimmt einrichten lassen. Henriette ist eine wirklich großartige Frau, und ihr Sohn Thomas kommt ganz nach ihr. Grüßen sie die beiden von mir, und Thomas wünsche ich eine gute Besserung.“

„Richte ich aus. Übrigens Chef, am kommenden Mittwoch müssen der Tom und ich zur Beerdigung von Herrn Dr. Eibenstein und gleich anschließend ist der Notartermin wegen unserer Erbschaft. Könnten sie uns da bitte zwischen 11:00 und 16:00 freistellen?“

„Geht in Ordnung Carlo. Markus ist ja jetzt da.“

Es war gerade 16:00 vorbei, als das Handy vom Chef den Eingang einer neuen, von Herrn Rehm weitergeleiteten Nachricht der Entführer signalisierte. Das Video zeigte die gleiche Situation, wie das vom Vormittag. Ralph war noch immer auf einen Stuhl gefesselt und machte einen extrem ängstlichen Eindruck. „Tobias soll das Geld in seine Sporttasche packen und seinen eigenen Wagen nehmen. Er soll um 16:45 losfahren Richtung Innenstadt. Weitere Infos kommen per SMS auf sein Handy. Bitte macht genau, was die sagen.“

„Der Punkt geht an sie, Markus“, grinste der Chef. Dann wählte er Tobias' Handy an. „Okay Tobias, sind sie bereit?“

„Ja, Herr Harms. Ich bin gerade noch unterwegs etwas besorgen; aber ich werde pünktlich losfahren.“

„Gut, dann melden sie sich kurz bei mir, bevor sie abfahren. Wichtig ist, dass sie alle SMS sofort an mich weiterleiten, und sie sich genau an die Anweisungen der Entführer halten. Unterlassen sie jegliche Eigenmächtigkeiten, und spielen sie vor allem nicht den Helden. Haben sie das verstanden?“

„Habe ich! Sie können sich auf mich verlassen.“

„Also gut, dann viel Glück!“

„Danke, Herr Harms.“

Als Tobias nach Hause kam, hatte sein Vater das Geld schon in die Sporttasche seines Sohnes gepackt. „Wo bleibst du denn so lange?“, fragte Herr Rehm ärgerlich. „Sorry Papa, bin aufgehalten worden wegen einer Straßensperrung.“

 

Tobias verstaute die Tasche im Kofferraum seines Polos und setzte sich pünktlich um viertel vor fünf Richtung Zentrum in Bewegung. In Carlos Büro verfolgten die Beamten seine Route mit Hilfe der Ortungs-App auf ihrem Rechner und dirigierten die Fahndungsteams über Funk. Tobias passierte Winterhude auf der B 5 in südlicher Richtung.

Nachdem er den Osterbek-Kanal überquert hatte, traf seine erste weitergeleitete SMS auf dem Handy des Chefs ein: „rechts ab in die zimmerstr.“

Aus der Zimmerstraße erreichte die Polizisten schon der nächste Befehl an Tobias: „rechts ab in den hofweg, dann links in die faehrhausstr.“

„Was wird das für ein Zick-Zack-Kurs?“, wunderte sich Markus. Carlo zuckte die Schultern. „Das geht in Richtung Islamisches Zentrum, aber was sollten die dort wollen?“

In der Fährhausstraße kam die nächste Anweisung: „parken an der iranischen moschee.“ Weisungsgemäß parkte Tobias sein Fahrzeug in der Nähe der Moschee.

Der letzte Befehl, den die Beamten von Tobias' Handy erhielten, lautete: „handy im fahrzeug lassen. geldtasche nehmen. neues handy unter abfalleimer am touribus-stop. um 17:30 in den roten hopp-on-hopp-off-bus einsteigen.“

Der Chef stöhnte. „Hatten wir ja befürchtet, dass die ziemlich gerissen sind. Jetzt können wir nur hoffen, dass die Zivilfahnder an ihm dranbleiben.

Carlo meldete sich telefonisch beim Leiter der Fahndungs-Teams. „Habt ihr Kontakt zur Zielperson? Ist der in den Bus gestiegen?“, fragte er die Kollegen und stellte sein Handy laut.

„Moin Carlo, das ist 'ne Riesenscheiße“, kam es von seinem Gesprächspartner. „Der ist nicht in den Bus, sondern hat im letzten Moment die Kurve gekratzt und ist auf die ‚Isebek' Richtung Winterhuder Fährhaus gesprungen. Von uns hat 's leider keiner geschafft. Wir konnten ja nicht zu dicht an ihn ran.“

Markus blickte in die Runde. „Und jetzt?“

„Haben wir ein Fahrzeug drüben am Fährdamm?“, fragte der Chef. Carlo schüttelte den Kopf. „Damit hat natürlich keiner gerechnet. Bis da ein Mann von uns ankommt, ist der Dampfer doch mindestens schon wieder am Mühlenkamp.“

„Schick trotzdem einen Wagen hin und auch an die anderen nächsten Haltestellen. Die sollen Stellung beziehen.“

Carlo hatte gerade die entsprechenden Anweisungen an alle eingesetzten Kollegen-Crews erteilt, als sein Handy schon wieder klingelte. Der Kollege vom Fahndungs-Team war wieder dran. „Du wirst es nicht glauben, unsere Zielperson ist schon wieder zurück hier am Uhlenhorster Fährhaus. So, wie es aussieht, ist der Tobias am Fährdamm in die entgegenkommende ‚Saselbek' umgestiegen, und jetzt ist er wieder hier; aber ohne die Tasche!“

Fassungslos gab Carlo die Nachricht an seine Kollegen weiter.

„Sollen bleiben, wo sie sind. Wir kommen.“ Der Chef war stinksauer, „da verarscht uns doch einer nach Strich und Faden!“ Aber er konnte den Zivilfahndern nichts vorwerfen. Sie hatten den Sicherheitsabstand eingehalten, und waren nicht nahe genug vor Ort gewesen, um Tobias im Auge behalten zu können. Alle waren davon ausgegangen, dass er einen der Hopp-On-Hopp-Off-Busse genommen hatte und Richtung Zentrum unterwegs war.

Die ‚Isebek‘ hatte zwischenzeitlich ihre Fahrt Richtung Norden fortgesetzt und die Haltestelle, Mühlenkamp passiert. Die Haltestelle, Krugkoppelbrücke konnte von den Fahndern nicht mehr rechtzeitig erreicht werden. So blieb ihnen nur die Endstation am Winterhuder Fährhaus.

Der Chef hatte sich schon wieder beruhigt. „Carlo, versuchen sie Telefonkontakt zum Kapitän der Isebek herzustellen. Vielleicht können die unterwegs irgendwo stoppen.“ Carlo telefonierte und nach zwei Minuten hatte er die Nummer. Er rief den Kapitän direkt an, und er konnte ihn zu einem außerplanmäßigen Zwischenstopp am Anleger Heilwig-Park bewegen. „Warten sie dort, und lassen sie niemanden aussteigen. Wir sind in 10 Minuten bei ihnen.“

Tatsächlich schaffte es das erste Zivilfahnder-Team schon nach fünf Minuten, an Bord der Isebek zu gelangen. Den Beamten fiel sofort die große, prall gefüllte Sporttasche auf, die im Eingangsbereich stand. „Gehört die jemandem von ihnen?“ Niemand meldete sich.

„Bitte bewahren sie Ruhe! Dies ist kein Bombenalarm!“, beruhigten die Beamten zunächst die Passagiere und begannen mit der Aufnahme der Personalien und der Befragung. An den letzten beiden Haltestellen waren viele Passagiere ein- und ausgestiegen. Niemandem der noch an Bord befindlichen Personen war ein Fahrgast mit dieser Sporttasche aufgefallen.

Nach weiteren 5 Minuten trafen der Chef und seine beiden Mitarbeiter ein. Herr Harms wandte sich kurz an die wartenden Fahrgäste. „Moin zusammen, es tut uns leid, dass wir ihnen diese Unannehmlichkeiten bereiten müssen, aber es geht um eine dringende Fahndungsmaßnahme. Sobald wir alle ihre Personalien aufgenommen haben, können sie ihre Fahrt fortsetzen. Wenn ihnen noch irgendetwas im Zusammenhang mit dieser Tasche einfällt, melden sie sich bitte bei uns. Danke für ihr Verständnis.“

„Mich wundert‘s, dass die Tasche noch da ist. Die hatten doch schon zwei Gelegenheiten, damit zu verschwinden“, meinte Markus.

Carlo nickte, „Recht hast du; aber ich denke, dass die sich aus irgendeinem Grund beobachtet fühlten, und die Kurve gekratzt haben.“

„Das bedeutet, die Übergabe ist geplatzt, und wir kriegen den Jungen immer noch nicht frei!?“

Carlo nickte. „Darauf läuft's wohl hinaus. Und leider müssen wir davon ausgehen, dass die spätestens seit jetzt wissen, dass die Polizei eingeschaltet ist. Das wird's nicht leichter machen.“

„Scheiße, aber warum hat das denn nicht funktioniert. Wir haben doch alles nach den Wünschen der Kidnapper arrangiert.“

„Ich weiß es nicht“, meinte Carlo, „braucht ja nur zufällig ein Streifenwagen zur falschen Zeit am falschen Platz gewesen sein, der die Leute aufgeschreckt hat.“

Und welche Chancen haben wir jetzt noch deiner Meinung nach?“

Carlo zuckte nur mit den Schultern, „jedenfalls bedeutend weniger als vorher!“

Markus warf ihm einen enttäuschten Blick zu. Aber auch ihm fiel dazu nichts Besseres ein.

Die Beamten hatten inzwischen alle Personalien aufgenommen. Keine der Personen erschien in irgendeiner Weise verdächtig, und die erste Befragung vor Ort hatte keine Anhaltspunkte ergeben. Das Boot wurde zur Weiterfahrt freigegeben, und der Chef und seine beiden Assistenten machten sich mitsamt der Geldtasche auf den Rückweg. Markus trug die schwere Tasche bis zu ihrem Fahrzeug. Dort hüllte er sie in eine große Plastiktüte ein, und setzte sich damit auf die Rückbank, während Carlo vorne auf dem Beifahrersitz Platz nahm.

Einer plötzlichen Eingebung folgend wandte er sich an seinen Kollegen hinter ihm. „Besser wir schauen gleich mal nach, ob das Geld tatsächlich noch da ist.“ Markus grinste ihn an. „Übertreibst du’s jetzt nicht bisschen?“ Aber dann zog er sich doch Latex-Handschuhe über und öffnete vorsichtig den Reißverschluss der Tasche.

Er staunte nicht schlecht, als er statt der erwarteten Geldscheinbündel lediglich einen großen Packen Zeitungspapier vorfand. „Scheiße!“, entfuhr es ihm, „die haben uns verarscht! Das Geld ist weg!“

Der Chef stieg in die Eisen und hielt am Straßenrand an. Entgeistert guckten sich die drei die Tasche voller alter Tageszeitungen an.

Carlo hatte sich zuerst wieder gefasst. „Das ist doch mal ein richtiges Gaunerstück; Respekt!“

„Wie ist das möglich? Wann hatten die denn die Gelegenheit die Tasche umzupacken?“, fragte Markus.

„Gar nicht“, antwortete der Chef, „es muss zwei Taschen geben. Die haben die einfach auf dem Schiff ausgetauscht.“

„Aber wie und warum?“

Der Chef blickte Carlo an. „Na?“

„Es gab zwei Möglichkeiten, Chef. Entweder die sind am Fährdamm ein- und am Mühlenkamp wieder ausgestiegen, oder sie sind am Mühlenkamp rein und an der Krugkoppelbrücke wieder raus.“

Der Chef nickte zufrieden. „Und?“

„Ich hätte die erste Variante gewählt.“

Der Chef nickte wieder. „Und warum?“

„Es musste schnell gehen. Die mussten ja damit rechnen, dass der Tobias uns vom nächsten Telefon aus anruft.“

„Aber warum zwei Taschen?“, fragte Markus.

„Zur Sicherheit“, antwortete Carlo. „Einem aufmerksamen Beobachter wäre es vielleicht aufgefallen, dass ein Fahrgast ohne Tasche an Bord kommt aber mit einer Tasche wieder geht, und hätte einen Diebstahl vermutet. Dagegen fallen zwei gleiche Taschen kaum auf, wenn sie nicht direkt nebeneinanderstehen.“

„Lasst uns schnell mal zu dem Steg am Mühlenkamp fahren“, meinte der Chef. Da ist doch dieses kleine Bistro. Vielleicht hat einer der Gäste oder das Personal etwas beobachtet.“

Sie fuhren rüber zum Anleger am Mühlenkamp, aber keinem der Befragten war ein Fahrgast mit einer Sporttasche aufgefallen. „Also was haben wir?“, fragte Carlo, als sie wieder im Wagen saßen.

„Nichts“, knurrte der Chef, „außer einer Blamage mehr und einer Million weniger.“

„Aber wir haben vielleicht eine kleine Chance. Ich werde so schnell wie möglich ein Bewegungsprofil des Entführer-Handys erstellen lassen. Vielleicht ergibt sich daraus noch etwas.“

Der Chef nickte. „Die Entführer müssen ortskundig sein und den Fahrplan der Alster-Schiffe genau kennen. Der Tobias ist noch am Uhlenhorster Fährhaus?“ Carlo nickte. „Dann fahren wir jetzt dahin und befragen ihn. Wir gehen mit ihm den gesamten Ablauf noch einmal durch. Vielleicht ist ihm ja irgendetwas aufgefallen.“

Sie fanden Tobias zusammen mit den Zivilfahndern am Anleger. Der Chef war schon wieder ganz ruhig. „Also, Tobias, dann erzählen sie mal der Reihe nach ganz genau, was sie in den zehn Minuten auf der Alster gemacht haben.“

Tobias war ziemlich zerknirscht. „Gerne Herr Harms, es war so. Ich hab mich genau an das gehalten, was die von mir wollten. Ich hab die Geldtasche aus dem Kofferraum genommen und bin rüber zur Haltestelle für die Touribusse. Das Handy war mit Klebeband an der Unterseite von dem roten Mülleimer befestigt. Da war auch schon 'ne SMS drauf. Ich sollte warten, nicht simsen und nicht telefonieren. Sie würden mich beobachten. Bis halb sechs war kein Bus in Sicht. Und dann kam plötzlich die nächste SMS. Ich sollte an Bord der ‚Isebek' gehen.

Ich sah das Boot den Steg anlaufen. Ich rannte die 100 Meter und hab's gerade so erwischt. Dann kam schon die nächste SMS. Ich sollte die Tasche am Eingang abstellen und mir ein Ticket kaufen. Hab ich dann so gemacht.

Das Boot war voll; fast nur Familien mit kleinen Kindern an Bord. Dann kam schon wieder 'ne SMS, ich solle drüben am Fährdamm aussteigen, die Tasche an Bord lassen, am Steg warten und in die 'Saselbek' einsteigen. Ich durfte nicht telefonieren und auch nicht simsen. Sie würden mich weiter beobachten. Dann war 'n wir auch schon da, und gleich danach kam auch schon die ‚Saselbek' an, und ich bin sofort drauf und zurück zum Uhlenhorster Fährhaus. Als wir gerade mitten auf der Alster waren, haben die noch gesimmst, ich solle das Handy sofort über Bord werfen. Hab ich gemacht und das Handy weggeschmissen. Drüben haben mich dann gleich ihre Leute in Empfang genommen.“

„Ist ihnen irgendetwas aufgefallen; hat sie jemand beobachtet?“, wollte der Chef wissen. „Es war sehr voll auf den Booten. Ich hab mich so darauf konzentriert, keinen Fehler zu machen. Da hab ich nichts bemerkt.“

„Gut, dann fahren wir jetzt erst mal zu ihren Eltern; die werden sich große Sorgen machen.“

Sie fuhren alle gemeinsam zu den Rehms. Frau Rehm begrüßte die Polizisten mit verweinten Augen. Auch der Vater sah ziemlich mitgenommen aus und warf den Männern einen fragenden Blick zu.

 

Der Chef erstattete einen kurzen Lagebericht. „Die Lösegeldübergabe hat also geklappt; allerdings haben wir die Spur der Entführer verloren. Wir können nur auf deren Goodwill hoffen, dass sie ihren Jungen jetzt schnell freilassen. Hoffentlich hatte der Ralph keine Gelegenheit, die Leute zu erkennen. Die Entführer sind wirklich sehr gerissen und hatten ein perfektes Timing.“

„Wie geht es jetzt weiter, Peter?“, fragte Herr Rehm.

„Wir prüfen zunächst die Logins der Entführer. Es war ja sicher wieder ein anderes Prepaid mit neuer SIM, aber ein Bewegungsprofil sollten wir trotzdem bekommen. Und du machst dir bitte mal Gedanken darüber, wer in Frage kommen könnte von den Leuten, die du früher mal einkassiert hast, und die kürzlich Haftentlassung hatten. Ihr müsst auf jeden Fall hier zu Hause warten, falls der Ralph sich meldet. Hoffen wir, dass es ihm gut geht und er schnell freikommt.“

Die drei Polizisten verabschiedeten sich und fuhren mit der gefakten Geldtasche zurück ins PK. Dort brachte Markus die Tasche direkt in die KTU, die allerdings schon Feierabend hatte.

Im Büro nahm Carlo wegen der Verbindungsdaten sofort Kontakt mit dem Provider von Tobias' Handy auf. „Das Prepaid, das wir suchen, ist sicher gestohlen. Uns interessiert die IMEI und vor allem die Logins“, gab er seinen Gesprächspartner zu verstehen. Der machte ihm vor Dienstag allerdings keine Hoffnung.

„Was ist IMEI?“, wollte Markus wissen.

Carlo klärte ihn auf: „International Mobile Equipment Identity, sozusagen die IP-Adresse eines Handys. Die Nummer ist in jedem Teil fest programmiert.“

„Ich denke, das war's für heute“, brummte der Chef, „es hat keinen Sinn, hier noch länger die Stellung zu halten. Fahrt nach Hause, aber haltet Euch bitte bereit. Eventuell brauche ich euch sofort, falls der Junge auftauchen sollte.“

„Geht klar, Chef. Wir bleiben rund um die Uhr auf Empfang.“ Dann verließen sie gemeinsam das PK und verabschiedeten sich in der Tiefgarage.

„Grüß bitte Tommy von mir, wenn du ihn morgen siehst.“

„Richte ich aus, Markus. Dir noch einen schönen Abend!“

„Dir auch!“

Carlo fuhr direkt nach Hause, wo Maria ihn schon erwartete. Sie begrüßte ihn an der Tür: „Hallo mein Schatz, das ist ja wieder mal spät geworden. Wart ihr denn erfolgreich?“ Carlo gab ihr einen Begrüßungskuss. „Leider nein, das Lösegeld ist weg, und der Junge ist immer noch nicht frei. Wir haben uns von denen verarschen lassen. Ich bin nur froh, dass der Chef diesmal direkt beteiligt war. Sonst hätten wir uns ganz schön was anhören müssen.“

„Und wie geht es Thomas?“

„Dem geht's schon wieder ganz gut. Der wird seine Rippen sicher noch ein paar Wochen lang spüren, aber sonst ist er ok, auch psychisch. Jedenfalls können wir zusammen am nächsten Mittwoch wie geplant auf Kostjas Beerdigung gehen und anschließend noch zum Notar wegen der offiziellen Testamentseröffnung.“

„Dann wirst du jetzt tatsächlich ein Millionär?“

„Nicht ganz. Nach Bezahlung der Erbschaftssteuer wird es keine Million mehr sein. Aber das Tollste ist doch, dass wir bald ein eigenes Zuhause haben werden.“

„Ja und ganz dicht bei Tommy und seinen Eltern. Ich freu mich wahnsinnig, dass wir jetzt endlich eine einzige große Familie werden.“

„Kann sein, dass es morgen noch besser kommt. Toms Mutter möchte mich morgen sprechen.“

„Du weißt, warum?“

„Ich ahne da sowas.“

„Aber du willst noch nicht darüber sprechen!?“

„Ich will Henriette nicht vorgreifen, aber wenn ich richtig vermute, wirst du dich sicher sehr freuen.“

„Hast du Hunger?“

„Für zwei!“

„Na dann ab in die Küche.“

Sie hatte den Abendbrottisch gerichtet, und die beiden konnten sich sofort hinsetzen. „Magst du einen Rotwein dazu?“

„Lieber nicht. Kann sein, dass ich nochmal losmuss, falls der Junge auftaucht.“

„Rechnest du denn damit?“

„Schwer einzuschätzen. Wir wissen bisher praktisch nichts über die Entführer. Nur, dass sie dem Jungen bisher ziemlich übel mitgespielt haben. Der ist zwar schon 18 aber wohl ein ziemliches Muttersöhnchen und ein Weichei. Hoffentlich hält er das durch.“

„Unser Tommy ist ja auch ein Muttersöhnchen, aber doch bestimmt kein Weichei!?“

Carlo schüttelte den Kopf. „Tom ist sensibel aber trotzdem hart im Nehmen, sonst hätte er diesen Anschlag auf sein Leben nicht so weggesteckt. Und dass er seine Mutter liebt, macht ihn noch nicht zum Muttersöhnchen.“

„Dich liebt er jedenfalls noch mehr!“

Carlo nickte. „Darüber bin ich auch sehr froh. Der Schock vorgestern Nacht hat mir gezeigt, dass ich mir ein Leben ohne ihn heute gar nicht mehr vorstellen könnte.“

Maria lächelte. „Ich mir auch nicht!“

Carlos Handy klingelte; Toms Mutter war dran. „Hallo mein Großer, kann ich dich morgen zum Kaffee einplanen?“ „Moin Henriette, ich denke schon, wenn nicht noch etwas dazwischenkommt.“

„Dann ist der Junge noch nicht frei!?“

„Nein, nur das Lösegeld ist weg!“

„Na, da wird sich Peter ja geärgert haben.“

„Kannst du laut sagen; aber die Entführer sind ziemlich gerissen.“

„Kommt Maria morgen mit?“

„Wenn sie darf.“

„Natürlich darf sie. Was ich mit dir zu besprechen habe, geht auch sie etwas an.“

„Na gut. Ist 15:00 okay für euch?“

„Passt prima!“

„Wie geht's meinem kleinen Bruder?“

„Der ärgert sich, weil er noch kein Hanteltraining und keine Liegestütze machen kann. Die Rippen tun ihm noch weh, aber sonst ist er gut drauf. Ich habe ihn gerade ins Bett geschickt. Wir müssen dankbar sein, dass ihm nicht mehr passiert ist.“

„Wem sagst du das. Ich darf gar nicht dran denken.“

„Na dann tu's auch nicht!“

„Okay, dann bis morgen, und grüß Tom von uns.“

„Mach ich. Wir freuen uns auf euch, grüß Maria!“

Carlo richtete seiner Freundin die Grüße aus. „Was meinst du? Ich könnte 'ne Mütze Schlaf vertragen; damit ich fit bin, falls heute Nacht doch noch etwas passiert.“

„Maria grinste, „keine Einwände. Wie wär's mit etwas Kuscheln?“

„Sehr gerne!“

„Na dann komm!“

Im Bett nahm er sie in die Arme und küsste sie zärtlich. „Dorme bem, meu pequena!“

„Tu também, meu amor!“

OSTERSONNTAG, 08.04.2012

Die Nacht verlief ohne Zwischenfälle, und Carlos Telefon war stumm geblieben. Maria hatte ihn lange schlafen lassen und überraschte ihn mit einem schön gedeckten Frühstückstisch. Es duftete nach frisch aufgebackenen Brötchen und nach Kaffee.

Er gab ihr einen Kuss. „Bom dia, meu querida! Bin gleich wieder da.“ Er verschwand für ein paar Minuten im Bad; dann setzte er sich zu ihr an den Tisch.

„Hast du heute noch etwas in der Stadt zu tun?“, fragte er.

„Eigentlich nicht. Warum fragst du?“

„Ich würde noch gerne ein paar Blumen für Henriette besorgen, wenn wir nachher zu ihr fahren.“

„Dann fahren wir am Bahnhof vorbei. Da haben alle Läden offen.

Was meinst du, soll ich für Tommy schnell noch seinen Lieblingskuchen backen? Ich hätte alles da.“

Carlo lächelte seine Maria an. „Du bist wirklich ein Schatz. Kann ich dir dabei helfen?“

„Dabei nicht, aber...“ Sie drückte ihm ein Staubtuch in die Hand, ...du könntest im Schlafzimmer anfangen.“

Carlo grinste. „Den ‚Schatz' nehm ich aber deswegen nicht zurück.“

Sie begab sich in die Küche und er sich ins Schlafzimmer. Nach einer Weile, als er zwischenzeitlich im Wohnzimmer zugange war, drang ihm der köstliche Duft des frischen Apfelkuchens in die Nase. Er steckte den Kopf zur Küchentür herein. „Da wird sich aber jemand freuen“, grinste er, „wie lange muss er noch?“

„10 Minuten.“

„Sollen wir Tommy davon schon mal ein Foto schicken, damit er weiß, was auf ihn zukommt?“