Read the book: «Donau-Radtouren (eBook)»
ars vivendi
Johannes Wilkes
Donau-Radtouren
In 4 Tagen
mit dem Fahrrad
von Ulm in den Schwarzwald
Ein ars vivendi Freizeitführer
Bei der Realisierung dieses Buches ließen wir größtmögliche Sorgfalt walten. Falls dennoch Informationen falsch oder inzwischen überholt sein sollten, bedauern wir dies, können aber auf keinen Fall eine Haftung übernehmen.
Korrekturvorschläge und Anmerkungen an: info@arsvivendiverlag.de
Bildnachweis:
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Alle übrigen Fotografien stammen von Johannes Wilkes.
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen
Originalausgabe (1. Auflage 2021)
© 2021 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG,
Bauhof 1, 90556 Cadolzburg
Alle Rechte vorbehalten
Cover und Illustrationen:
Designbüro Franziska Mariella Schatz, franziskaschatz.com Kartographie: Kartographisches Büro Dieter Ohnmacht Satz: Christine Richert, typoholica mediengestaltung
Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag
eISBN 9783747203361
Inhalt
1 Bevor die Reise beginnt
2 Erster Reisetag Faszinierende Kunstwerke, Einstein und die schwäb’sche Eisebahne: vom stolzen Ulm nach Munderkingen Ulm Der Ulmer Schwörmontag Die Ulmer Schule Der schwäbische Ikarus Woher hat die Donau ihren Namen? Die Ulmer Schachtel Die Pfeifenkammer der Martin-Luther-Kirche Wiblingen Der vergessliche Mönch Erbach Auf de schwäb’sche Eisebahne Griesingen Ehingen »-ingen« Die schwäbisch-alemannische Fastnacht Donauschwaben Rottenacker Die mutigen Frauen von Rottenacker Munderkingen Donaustädte Paula Bosch
3 Zweiter Reisetag Romantische Täler und steile Berge, Römer und Kelten: von Munderkingen über Zwiefalten nach Sigmaringen Pfarrkirche St. Dionysius Die Schwäbische Alb Die Ur-Donau Die Wimsener Höhle Zwiefalten Die grauen Busse von Zwiefalten Riedlingen Die NSU Motorenwerke Zeitreise I: die Kelten Welche Farbe hat die Donau? Mengen Zeitreise II: die Römer Sigmaringen Sigmaringen und die Hohenzollern
4 Dritter Reisetag Wilde Romantik und einsame Klöster, der Durchbruch der Donau und ihr Verschwinden: von Sigmaringen über Tuttlingen nach Kirchen-Hausen Inzigkofen Amalie Zephyrine von Salm-Kyrburg Der Donaudurchbruch Naturpark Obere Donau Beuron Die Erzabtei Beuron Edith Stein Die Donauversinkungen Fridingen Mühlheim Der Tod von Papa Kretschmann Tuttlingen Eberhard im Bart Kannitverstan Der Tuttlinger Stadtbrand Karl Storz’ Endoskope Baden oder Württemberg? Möhringen Der Gütezustand der Donau Hipparion primigenius Immendingen Der Streit ums Donauwasser
5 Vierter Reisetag Karl der Dicke und fürstliches Bier, Schwarzwaldtäler und Waldromantik: von Kirchen-Hausen über Donaueschingen zu den Quellen im Schwarzwald Geisingen Neudingen Pfohren Das Ende Karls des Dicken Donaueschingen Anselm Kiefer Der Donaubach Wie schwarz ist der Schwarzwald? Hüfingen Brigobannis Bräunlingen Das Fürstlich Fürstenberger Bier Hammereisenbach Die Brigach Vöhrenbach Der Vöhrenbacher Silberrausch Furtwangen Der Kuckuck und seine Uhr – ein Quiz Das Modell Furtwangen Am Ursprung der Donau
6 Praktische Hinweise
7 Literatur
8 Danksagung
Bevor die Reise beginnt
Die Donau muss 2857 Kilometer fließen, bis sie sich ins Schwarze Meer ergießt. Grund genug, ihren Lauf in Flussabschnitte einzuteilen. Jede Einteilung jedoch entbehrt nicht einer gewissen Willkür, liegt es doch im Wesen eines jeden Flusses, keine Grenzen zu kennen und ungestört dahinzuströmen. Und doch kennt auch ein Fluss verschiedene Lebensalter. In seiner Jugend oft ungestüm und wild, wird er im Laufe der Zeit ruhiger und gelassener, geht zunehmend in die Breite, wird träger und träger, bevor er sich mit einem größeren Gewässer vereint. Die Jugendjahre der Donau sollen Inhalt dieses Reiseführers sein, die Strecke von Ulm zu den Quellen, denn was fasziniert uns mehr als die Ursprünglichkeit? »Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne«, sagte Hermann Hesse, der nicht weit von den Donauquellen entfernt geboren wurde. Den Zauber der jungen Donau mit dem Fahrrad zu entdecken, ihre Landschaften, Anwohner, Städte und Kunstschätze, das ist unser Ziel. Machen wir uns auf den Weg!
Erster Reisetag
Faszinierende Kunstwerke, Einstein und die schwäb’sche Eisebahne: vom stolzen Ulm nach Munderkingen
Erster Reisetag
Faszinierende Kunstwerke, Einstein und die schwäb’sche Eisebahne: vom stolzen Ulm nach Munderkingen
Ulm
Hinauf oder hinunter? Wie bereist man einen Fluss am besten? Viele entscheiden sich dafür, dem Lauf des Wassers zu folgen. Sportlicher jedoch ist die Fahrt »zurück zu den Quellen«, zumal der Plural in diesem Fall treffend ist, bringen doch bekanntlich Brigach und Breg die Donau zu Weg. Es gibt noch ein weiteres Argument für den Weg gegen den Strom: Die Donau ist einer der wenigen Flüsse, bei dem die Flusskilometer von der Mündung aus aufwärts gezählt werden, die Quellen also erst am Ende sprudeln. Zudem gibt es noch einen praktischen Grund: Der Startbahnhof Ulm ist leicht zu erreichen – will man hingegen mit dem Zug zur Quelle (etwa von Triberg), kommt man schwer ins Schwitzen. (Wer dennoch bei den Quellen starten möchte: das Buch einfach rückwärts lesen!)
Unser Startpunkt zur Erkundung der jungen Donau ist das stolze Ulm. Hier ist die Donau Grenzfluss. Im nördlichen Teil des Flussbetts würden die Fische schwäbeln, im südlichen würden sie bayerisch sprechen, wenn sie denn könnten. Obwohl, die Menschen schwäbeln lustig an beiden Ufern. Zwar läuft die politische Grenze zwischen Bayern und Baden-Württemberg mitten durch die Donau, Dialekte aber haben ihre eigenen Gesetze. Sie sind fröhliche Anarchisten und scheren sich nicht um Politik.
Wir sind mit der Bahn angereist und schwingen uns auf unsere Räder. In der Nähe des Ulmer Hauptbahnhofs plätschert die Blau vorbei, ein Nebenfluss der Donau. Nomen est omen, schon im nahen Blautopf, der Quelle der Blau, leuchtet die Blau so blau. Das macht wohl der Kalk, den die Blau mit sich führt, vielleicht auch irgendein anderer Blaumacher, wer weiß das schon so genau.
Mit unseren Rädern folgen wir dem Lauf der Blau in die Stadt hinein, mitten durch das malerische Fischerviertel, wo die Fachwerkhäuser über dem Wasser hängen und sich auf schmalen Brücken die Touristen drängeln, um einen Blick auf die Idylle zu werfen, besonders auf das Schiefe Haus.
Dicht am Flussufer machen wir einen Einkehrschwenk und stärken uns mit Spätzle und einer Maultaschensuppe für die Reise. Die schwäbische Küche scheint für Radfahrer wie gemacht, Kohlenhydrate sind optimale Energielieferanten. Eine mit Kopfsteinen gepflasterte Rampe läuft hinter unserem Tisch in die Blau hinein. Vermutlich eine mittelalterliche Slipanlage, um Fischerboote zu Wasser zu lassen. Ein Spatz nutzt die Stelle als Badeplatz. Er putzt so hingebungsvoll sein Gefieder, dass wir uns schwören, nie wieder von einem Dreckspatz zu sprechen.
Zum Spatz hat Ulm ein besonderes, ja fast schon intimes Verhältnis. Beim Bau des Ulmer Münsters habe ein mächtiger Balken nicht durch das Stadttor gepasst. Als man das Tor schon einreißen wollte, sah man, wie ein Spatz beim Durchfliegen eines Mauerlochs das Köpfchen so zur Seite drehte, dass der Strohhalm, den er im Schnabel hatte, mühelos hindurchpasste. Was der Spatz kann, das können wir schon lange, dachten sich die Ulmer und legten den Balken der Länge nach auf die Kutsche. Schon konnte es mit dem Bau des Münsters weitergehen.
Weiter geht es auch für uns. Wir kurven an modernen Gebäuden vorbei, an einer gläsernen Bibliothek und einem Kunstmuseum – Ulm kann auch Moderne! – und gelangen zum Weinhof, dem ältesten Teil der Stadt. Hier stand einst eine Königspfalz, ein Hotel für die reisenden Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, am 22. Juli 854 wurde in diesem Haus eine Urkunde besiegelt, welche die Existenz Ulms zum ersten Male nachweist. Eine Stadt mit langer Tradition.
Lange Tradition besitzt auch die Arkade, die an den Turm der Pfalzkapelle angebaut ist, das Schwörhäuslein. Turm und Kapelle ließ man später abreißen und durch ein neues Schwörhaus ersetzen. Was hat es mit dem Schwörhaus auf sich?
Schiefes Haus: Keine Angst – die Hotelbetten stehen gerade!Zentralbibliothek: Wo sich Tradition in der Moderne spiegelt
Der Ulmer Schwörmontag
»Reichen und Armen ein gemeiner Mann zu sein in allen gleichen, gemeinsamen und redlichen Dingen ohne allen Vorbehalt.« Jedes Jahr am vorletzten Montag im Juli betritt der Ulmer Oberbürgermeister den Balkon des Schwörhauses, hebt die rechte Hand und spricht die Eidesformel. Diese ist viele Jahrhunderte alt, weshalb man sie in modernes Deutsch übersetzen musste. Allerdings hat man sich nicht getraut, auch das Wort gemein zu modernisieren, weshalb es gelegentlich zu Missverständnissen kommt. Gemein ist nicht im Sinne von böse zu verstehen, sondern im Sinne von gemeinsam. Der Bürgermeister gelobt also, sich in gleicher Weise für die Reichen wie für die Armen einzusetzen, keineswegs eine Selbstverständlichkeit im Mittelalter.
Die Schwörformel findet sich bereits in der ersten Ulmer Verfassung, die mit hoher Wahrscheinlichkeit im Jahr 1345 verabschiedet wurde. Spricht man von Griechenland, England oder den Vereinigten Staaten von Amerika als Mutterländern der Demokratie, so hat man auch die Freie Reichsstadt Ulm hinzuzuzählen.
Die Bürger der Stadt waren stolz auf ihre Verfassung, welche die Rechte des Stadtadels, der Patrizier, begrenzte und die Rechte der Handwerker stärkte, die in Zünften organisiert waren. Im ersten Kleinen Schwörbrief war sogar festgeschrieben, dass die Zünfte die Mehrheit im Rat zu stellen hatten, was im Großen Schwörbrief aus dem Jahre 1397 nochmals bestätigt wurde.
Allein, die schönste Verfassung nutzte nichts, wenn sie dem Kaiser nicht gefiel. Im August 1548 vertrieb Karl V. die Vertreter der Zünfte aus dem Rat. Zwar trotzten die Ulmer dem Kaiser bereits wenige Jahre später das Recht ab, erneut Mitglieder der Zünfte in den Rat zu wählen und auch den abgeschafften Schwörtag wiedereinzuführen, jedoch blieb der Rat in seiner Mehrheit von nun an aristokratisch beherrscht.
Das blieb so, bis der letzte römisch-deutsche Kaiser abdanken musste und sich fortan Kaiser von Österreich nannte (was ja auch ein schöner Titel ist). 1802 verlor Ulm den Status als Freie Reichsstadt und wurde bayerisch, wenige Jahre später württembergisch. Von nun an hatte Ulm keine eigene Verfassung mehr. Was nun mit dem Schwörtag? Während die anderen süddeutschen Städte ihren Schwörtag abschafften, hielten die Ulmer unverdrossen an ihrer Tradition fest, Verfassung hin, Verfassung her. Es ging schließlich nicht nur um einen juristischen Akt, es ging vor allem auch um das schöne Fest, das dem Eid folgte. Am Nachmittag nämlich geht’s zum Nabada in die Donau, das fröhlichste sommerliche Fest, das sich denken lässt. Nabada kann man ins Hochdeutsche am ehesten mit Hinab-Baden übersetzen, dem vergnügten Sich-treiben-lassen auf den Donauwellen.
Auch am Ufer geht es bis in die Nacht hoch her und die Ulmer Kinder führen in der Friedrichsau ihre Lampions aus. Am Samstag zuvor werden 8000 Lichter aufs Wasser gesetzt, eine Lichterserenade, die auf der Donau einmalig ist. Und wer zur Schadenfreude neigt, der kommt alle vier Jahre auf seine Kosten: Beim Fischerstechen geht’s stets feucht-fröhlich zu, denn die meisten Fischer landen bei den Fischen in der Donau.
Turm des Ulmer Münsters: Höher geht’s nicht!
Die Schwörformel scheint uns nicht aus der Mode gekommen zu sein. Sich in gleicher Weise für Reiche und Arme einzusetzen, ist auch heute leider keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Wie in allen attraktiven Städten klettern auch in Ulm die Mieten in die Höhe. Eine sozial orientierte Stadtregierung hat die schwierige Aufgabe, für Ausgleich zu sorgen.
Unter solchen Erwägungen erreichen wir den Münsterplatz und müssen den Kopf gewaltig in den Nacken legen. Was für eine Kirche! Ein Besuch des 1377 gegründeten Ulmer Münsters muss einfach sein, ist das Münster doch das schönste bauliche Zeugnis der großen Ulmer Bürgertradition. Keine größere Bürgerkirche findet sich im deutschsprachigen Raum. Und kein höherer Kirchturm auf der ganzen Welt. Und vielleicht kein schönerer. Dieser Goliath muss natürlich bestiegen werden, liebend gerne wollen wir die Donau vor unserer Flussreise doch einmal von oben betrachten.
Zunächst jedoch bleibt unser Blick am Hauptportal der Turmvorhalle haften. Was für eine originell erzählte Schöpfungsgeschichte! Während von der Spitze des Bogenfelds der Teufel aus dem Himmel stürzt, gibt sich Gott redliche Mühe, das Leben auf der Erde zu gestalten. Auch nach der Vertreibung aus dem Paradies steht er dem Menschen hilfreich zur Seite. Besonders anrührend eine Darstellung unten links: Gott betätigt sich als Damenausstatter, indem er Eva in ein hübsches Kleid hilft. Während Eva shoppt, muss Adam rechts zur Hacke greifen, um das Feld zu beackern. So also stellten sich die Ulmer Meister die erste Rollenverteilung der Menschheit vor, Alice Schwarzer würde vor Empörung protestieren.
Auf dem weitläufigen Platz stehen Dutzende von seltsamen Plastikmännchen herum, während ein Mann von einem Bollerwagen weitere Figuren ablädt, schwarze, blaue und grüne. Einsteine! Alles Einsteine! Kunstprofessor Hörl hat wieder einmal zugeschlagen und ein neues serielles Kunstwerk produziert. Nach den Dürerhasen auf dem Nürnberger Hauptmarkt, nachdem er Bayreuth mit Wagner zugestellt hatte, Weimar mit Plastik-Goethes und Franken mit Friedrich-Rückert-Büsten, ist nun Ulm an der Reihe.
Hörls Einstein gefällt uns. Frech und selbstbewusst betrachtet das Physikgenie seine Geburtsstadt und die Ulmer betrachten ihn. So entsteht ein stiller Dialog, an dem sich auch fröhlich die Ulmer Kinder beteiligen, welche die Plastikfiguren in immer neuen Formationen aufstellen, mal als Reihe, mal wie Spieler auf einem Fußballfeld, mal wie Schachfiguren. Einstein lässt alles mit sich machen, ohne zu protestieren. Der Mann hatte Humor. Davon angesteckt, beugen wir uns zu einem kleinen Mädchen nieder und deuten auf die nahestehenden Figuren: »Einstein, Zweistein, Dreistein …« Noch eine weitere Berühmtheit erblickte in Ulm das Licht der Welt. Haben Sie Lust auf ein Rätsel? Hier die erste von drei Infos: Die gesuchte Frau feierte unter dem Pseudonym Ninotschka am Broadway große Erfolge.
Himmlische UmkleidekabineE = mc2
Nun aber ab in die Kirche! Die Räder parken wir am linken Haupteingang, dort geht es auch zum Turm hinauf. Was aber sollen wir mit den Radtaschen machen? Sie im Kirchenschiff der Aufsicht des Heiligen Geistes anvertrauen? Schließlich ist doch Pfingsten, des Heiligen Geistes größte Stunde. Vielleicht aber wird er zu sehr mit ernsteren Dingen beschäftigt sein als mit dem Hüten profaner Ortlieb-Säcke. So suchen wir den Verkaufsshop auf, der im rechten Eingangsbereich untergebracht ist. Die junge Verkaufsdame sagt uns, wir sollten unser Gepäck nur ruhig in eine Ecke stellen, hier sei noch nie etwas weggekommen. Ehrliche Leute, die Ulmer, das gefällt uns.
Von der Last befreit betreten wir das Kirchenschiff. Alles ist in farbiges Licht getaucht. Das liegt an den modernen Kirchenfenstern, durch welche die Mittagssonne fällt. Wir schreiten von einem Fenster zum anderen, beeindruckt von den modernen Interpretationen der uralten biblischen Geschichten. Kirchenfenster sind ja immer auch Filter. Sie wählen sich aus dem Himmelslicht die Farben aus, halten viele zurück, lassen andere passieren und treffen so eine Auswahl, um uns die himmlische Botschaft noch deutlicher zu machen, als es das weiße Himmelslicht vermag. Künstler lieben es, Kirchenfenster zu gestalten. Markus Lüpertz meinte, der Vorteil von Fenstern gegenüber von Bildern sei der, dass man sie nicht so einfach abhängen könne. Die ältesten Fenster des Ulmer Münsters, der größten evangelischen Kirche Deutschlands, geben Lüpertz Recht. In der Besserer-Kapelle – benannt nach einer Patrizierfamilie – stehen die Apostel am Totenbett Mariens. Interessantes Detail: Petrus trägt eine Brille! Vor fast 600 Jahren hat der Künstler Hans Acker dieses Fenster geschaffen, Brillen waren damals noch eine echte Rarität, was zeigt, dass die Donaustadt Ulm schon früh die Nase im Wind hatte.
Gotischer Säulenwald
Die Fenster hatten das Glück, nicht nur dem Schmuck zu dienen, sondern auch dem profanen Zweck, Wind und Regen abzuhalten. Wer weiß, was sonst mit ihnen passiert wäre! In Ulm tobte der protestantische Bildersturm schlimmer noch als anderswo, kostbarste Altäre und Figuren fielen ihm zum Opfer. Viele dieser Kunstwerke wurden von Meistern gestaltet, die man in ihrer Gesamtheit mit einem besonderen Namen bezeichnet.
Die Ulmer Schule
»An ihren Früchten sollt Ihr sie erkennen!«, heißt es in der Heiligen Schrift. An den Früchten der Ulmer Künstler lässt sich ermessen, was für eine großartige Kunstmetropole die Stadt Ulm im Mittelalter war. Was machte das Besondere der in Ulm entstandenen Kunstwerke aus? Schlicht und einfach ihre Qualität. Auch wenn sie sich formal kaum von gotischen Kunstwerken anderer Zentren unterscheiden lassen, ist doch das künstlerische Niveau außerordentlich.
Die Schaffensperiode der Künstler der Ulmer Schule umfasst das 15. und 16. Jahrhundert. Der Begriff der Schule allerdings ist irreführend, die beteiligten Maler, Bildhauer und Bildschnitzer beeinflussten sich zwar wechselseitig, es wäre ihnen jedoch fremd gewesen, eine eigene Schulordnung festzulegen, ein Ausbildungscurriculum etwa oder Ähnliches. Im Austausch standen sie auch mit anderen kunstsinnigen Städten wie Augsburg, Kempten und Nürnberg, wo Albrecht Dürer, Adam Kraft und Veit Stoß wirkten, und darüber hinaus mit Prag, Venedig und Brabant. Auch ohne Internet war die Vernetzung erstaunlich gut. In Zünften organisiert, nahmen sie außerdem Einfluss auf die Stadtpolitik. Vier Beispiele wollen wir nennen, um einen Begriff von den Ulmer Meistern zu vermitteln, Vertreter der vier Generationen.
Zur ersten Generation zählt Hans Multscher (um 1400–1467). Ihm haben wir den Schmerzensmann des Münsters zu verdanken, eine vom niederländischen Realismus beeinflusste Darstellung, welche die Schmerzen Christi in unsagbar mitleiderregender Weise plastisch macht. Früher an der Hauptfassade angebracht, wo ihn heute eine Kopie ersetzt, ist er nun zum Schutz vor Wind und Wetter im Inneren des Münsters zu bestaunen. Der Schmerzensmann bildete den Abschluss der Schöpfungsgeschichte, wie sie das Hauptportal erzählt, die Erlösung von der Schuld.
Der zweiten Generation gehört Michel Erhart an, der von 1469 bis 1522 in Ulm eine große Werkstatt betrieb. Gehen Sie zu dem außerordentlichen Chorgestühl und bewundern Sie die Schnitzereien. Auf der untersten Stufe sind intelligente Köpfe der vorchristlichen Zeit zu sehen, es folgen die Propheten und Prophetinnen des Alten Testaments und in den Kielbögen des Baldachins schließlich die Zeugen für das Christentum, die Apostel und Märtyrer.
Während das Werk als Ganzes Jörg Syrlin dem Älteren zugeordnet wird, stammen die ausdrucksstarken Büsten der antiken Gelehrten wohl sämtlich aus der Hand Michel Erharts. Das Bildprogramm mag erstaunen. Allein, dass sich eine Büste des Terenz findet! Das zeigt, wie weltoffen das als dunkel verschriene Mittelalter gewesen ist. Terenz war schließlich Komödiendichter und Heide noch dazu, ihn in einer christlichen Kirche darzustellen, ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Michel Erhart gelingt eine schlichte, aber überzeugend lebensnahe Interpretation. Das gestaffelte Bildprogramm symbolisiert die Weisheit des Mittelalters: Jede Kultur steht auf den Schultern ihrer Vorgängerin.
Hauptvertreter der dritten Generation ist der Bildhauer Niklaus Weckmann, der von 1481 bis 1526 in Ulm arbeitete. Ihm haben wir den Sebastiansaltar des Ulmer Münsters zu verdanken, auch die 17 Figuren des Westportals stammen aus seiner Werkstatt.
Zur vierten und letzten Generation der Ulmer Schule gehört Daniel Mauch. Um das Jahr 1477 geboren, verließ er Ulm im Zuge der Reformation; ihrem fanatischen Bildersturm fielen auch viele seiner Werke zum Opfer. Die Ulmer Schule musste schließen. Maler, Schnitzer und Bildhauer waren in Ulm nicht länger gefragt. – »Jeder gute Baum bringt gute Früchte hervor«, heißt es in der Bibel. Betrachtet man all die noch verbliebenen Werke, so muss die Ulmer Schule ein sehr guter Baum gewesen sein.
Ulmer Schule: Chorgestühl mit meisterlichen Schnitzereien
Von Daniel Mauch soll sich im Donaustädtchen Munderkingen eine Darstellung des Heiligen Sebastian erhalten haben. Munderkingen liegt auf unserer Reiseroute. Vielleicht gelingt es uns, einen Blick auf Mauchs Meisterwerk zu werfen. Wer sich ausführlicher mit der Ulmer Schule beschäftigen möchte, der besuche das schöne Ulmer Museum.
In einer Ecke im rechten Seitenschiff treffen wir einen alten Bekannten, den Ulmer Spatz. Aus Stein gemeißelt, hält er weiter mit keckem Blick seinen Halm im Schnabel. Sympathische Geste der gotischen Baumeister, sich selbst auf den Arm zu nehmen.
Nun aber hinauf auf den Turm! Nach einigen Versuchen akzeptiert die Schranke unsere Eintrittskarten, die wir wie beim Flughafen-Check-in vor ein Lesegerät halten müssen. Dann wendeln wir uns die enge Treppe hinauf. Wir wendeln und wendeln und wendeln …, es scheint kein Ende zu nehmen, wir bekommen den Drehwurm und müssen uns beim Blick durch das durchbrochene Maßwerk immer wieder vergewissern, wie hoch wir schon gekommen sind. Der höchste Kirchturm der Welt! Wahrscheinlich wird er für alle Zeiten auch der höchste bleiben. Wo entstehen schon noch neue Kirchen, und wenn welche entstehen, so doch keine Kathedralen mehr. Ulm wird seinen Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde auf alle Zeiten behalten.
Der Spatz: das Wahrzeichen von Ulm
Ein Zwischengeschoss ist erreicht. Wir kommen an einem großen Korb vorbei, der an einem Seil hängt. Mit ihm konnte sich der Glockenmeister hinablassen, wenn sich ein Klöppel verklemmt hatte. Die älteste und wichtigste der 13 prächtigen Glocken ist die Schwörglocke, die nur von Hand und nur am Schwörmontag geläutet wird. Sie ist sogar älter als das Münster und hing früher in einer »Kirche über dem Feld« außerhalb der Stadtmauern.
Weiter geht’s dem Himmel entgegen. Treppenlaufen soll ja sehr gesund sein. Unser alter Doktorvater hat uns den Rat gegeben, niemals einen Aufzug zu nehmen und wo immer möglich das Treppenhaus zu erstürmen. Es soll schon Wettkämpfe in dieser Disziplin geben. Das Ulmer Münster aber bietet sich hierfür nicht an, an ein Überholen ist aufgrund der Enge nicht zu denken.
Endlich endet die Treppe. Doch noch sind wir nicht oben, sondern erst auf einem Sockel, über dem sich die filigrane Turmkonstruktion erhebt. Ein Schwabe erklärt zwei Japanern auf Englisch die Geschichte der Kirche. Wir schieben uns schnaufend vorbei und nehmen das Finale in Angriff. Einige Minuten später ist es geschafft. Wir sind oben. Ganz oben. Und schauen durch ein Sicherungsgitter in die Tiefe. Nichts für Schwindler. Klein wie Ameisen bewegen sich die Menschen auf dem Münsterplatz, die Einsteine sind zu winzigen Punkten geschrumpft. Wir aber haben nur eines im Sinn: die Donau. Anmutig schlängelt sich ihr silbernes Band von Westen nach Osten, herrlich weit geht der Blick in die Ferne, im Süden sind im Dunst die Alpen zu erahnen. Alle ihre nordöstlichen Wasser strömen der Donau zu. Wie heißt noch gleich der Spruch? »Iller, Lech, Isar, Inn fließen rechts zur Donau hin, Altmühl, Naab und Regen kommen ihr von links entgegen.« Der alte Schülerreim ist natürlich eine grobe Verkürzung, wird doch die Blau glatt unterschlagen und mit ihr zahlreiche andere Nebenflüsse. Aber so ist die Welt, was zählt, ist nur die Größe.
Donauabwärts ist mit Neu-Ulm bereits eine bayerische Stadt zu erkennen, exakter müssen wir natürlich von einer bayerisch-schwäbischen Stadt sprechen, denn die bayerisch-baden-württembergische Staatsgrenze ist ja keine Sprachgrenze. Auch an den bayerischen Ufern der Donau wird weiter kräftig geschwäbelt, im ganzen Donau-Ries, bis es hinter Donauwörth dann plötzlich heißt: »Mia san mia!« Ein Stück donauaufwärts glauben wir die Iller zu erkennen, kurz vor Ulm schmiegt sich von Süden kommend ein grünes Band an das Donauufer heran. Nun, wir werden der Sache nachgehen, verläuft doch unsere Fahrt in genau diese Richtung, also nach Westen.
Knappe 300 Flusskilometer liegen vor uns, ein Zehntel der gesamten Donau. Neun Zehntel liegen donauabwärts, mit stolzen 2811 Kilometern (plus Breg!) ist die Donau nach der Wolga europäischer Vizemeister. Und sie wird immer länger! Auf ihrem langen Weg nach Osten schwemmt sie, allen Wehren zum Trotz, jede Menge Material mit sich und schiebt ihr Delta immer weiter ins Schwarze Meer hinein. So kommt es, dass sich der Leuchtturm von Sulina, offiziell die Stromkilometer-Null-Markierung, heute dafür schämen muss, viele Kilometer von der Mündung entfernt einsam und ziemlich sinnfrei im Binnenland herumzustehen.
Schmal ist es hier oben auf der Galerie um die Turmspitze, sehr schmal. Kommt einem jemand entgegen, muss man den Bauch einziehen. Wir werfen einen letzten Blick hinab. Vergebens suchen wir beim Blick über das Dächermeer das Haus, in dem der von uns gesuchte Star seine ersten Schreie getan hat. Hier die versprochene zweite Information: Es handelt sich um eine Schauspielerin und Sängerin. Eines ihrer Chansons trug den Titel »Für mich soll’s rote Rosen regnen«.
Blick vom Münsterturm: Die Donau lockt in die Ferne
Im Jahr 1811 hatte ein Mann ernsthaft vor, vom Turm des Ulmer Münsters abzuheben. Der Turm war zwar damals »nur« 100 Meter hoch, dennoch sind die Ulmer Ratsherrn als weise zu loben, dass sie dem Luftikus keine Starterlaubnis für den Münsterturm erteilten.