Read the book: «Legendäre Spionagefälle»

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Johannes Seiffert

Legendäre Spionagefälle

Operationen, Enthüllungen, Mythen:

25 spektakuläre Geheimdienst-Affären

edition berolina

eISBN 978-3-95841-567-6

1. Auflage

© ٢٠٢٠ by BEBUG mbH / edition berolina, Berlin

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Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

Markus »Mischa« Wolf, über Jahrzehnte Chef der DDR-Auslandsspionage, pflegte im privaten Gespräch und später auch in seiner Autobiographie gern die Geschichte wiederzugeben, wie in der Bibel die Anfänge nachrichtendienstlicher Aktivitäten geschildert werden, speziell im Hinblick auf die Verbindung des ältesten (Prostitution) mit dem zweitältesten Gewerbe (Spionage). Im vierten Buch Mose findet sich tatsächlich die Geschichte, wie Mose – im Auftrag des Herrn (!) – zwölf Männer zu Kundschaftern bestimmt. Einem der Männer, Hosea, verleiht er den Decknamen »Joshua«. Als Nachfolger von Moses sendet Joshua später selbst weitere Kundschafter aus, darunter zwei, die in Jericho Kontakt zur Prostituierten Rahab aufnehmen sollen. Als die Polizei sich wenig später dem Bordell Rahabs nähert, versteckt sie die beiden israelischen Agenten auf dem Dach des Hauses und bewahrt sie so vor der Verhaftung. Später revanchieren sich die beiden Kundschafter und retten Rahab das Leben.

Ist somit die Spionage als Profession bereits mehrere Jahrtausende alt, so soll es im vorliegenden Buch um herausragende Spionagefälle der beiden vergangenen Jahrhunderte gehen, die reich an ebensolchen waren, und um Persönlichkeiten, welche die Geschichte der Spionage geprägt haben, erfolgreich oder erfolglos, aber in jedem Falle speziell bis spektakulär. Wenn Sie sich nun fragen, was hat das alles mit heute zu tun, mit dem Hier und Jetzt, dann genügt ein Blick auf die aktuelle Medienberichterstattung zu Vorgängen rund um den Globus, die illustrieren, welche Folgen die Tätigkeit einzelner Spione beziehungsweise einzelner Spionageorganisationen haben kann. Es ist kein Zufall, dass in Hongkong gerade dann 2019 die Unruhen aufflammten, als die Volksrepublik (VR) China vom amerikanischen Präsidenten Trump in einen Handelskrieg mit den USA gezerrt wurde. Seitdem kam Hongkong monatelang nicht zur Ruhe, wurde die VR China an ihrem »weichen Bauch« (wie seinerzeit die So-wjetunion in den islamisch geprägten Landesteilen an ihrer Südgrenze) unter Druck gesetzt, durch gezielt inszenierte Tumulte in Schwierigkeiten gebracht. In Hongkong sind traditionell die britischen, aber eben auch die mit ihnen per UKUSA-Abkommen eng verbündeten amerikanischen Geheimdienste sehr präsent und in der Lage, quasi auf Knopfdruck solche Unruhen auszulösen (oder abzustellen).

Eine weitere solche »Schwachstelle« stellt in Chinas fernem Westen die Uiguren-Provinz Xinjiang dar, die immer wieder von »Unruhen« heimgesucht wird. Hier mischt auch der Bundesnachrichtendienst (BND) mit, der bekanntlich in München eine große Uiguren-Exilgemeinde finanziert und steuert. Und auch in den USA wird dieses »Argument« gern genommen, um die Menschenrechtskeule gegen die VR China zu schwingen – zuletzt sogar unterstützt durch einen einstündigen »Beitrag« des Comedians John Oliver zu bester Sendezeit in den USA. Und kaum waren die Unruhen auf den Straßen Hongkongs abgeklungen, kam mit dem Coronavirus die nächste Plage übers Land. Ein Schelm, wer dabei Böses denkt. Mittlerweile wird in chinesischen Medien – zur Belustigung der sich wie immer ahnungslos gebenden Westblockpresse – offen darüber spekuliert, dass genau vier Wochen vor dem Ausbruch des Virus in Wuhan eine große US-Militärdelegation bei den Militärsport-Weltmeisterschaften in Wuhan angetreten war. Nimmt man nun noch hinzu, dass die USA die Nation ist, die am meisten Geld in die Erforschung von ABC-Waffen, also atomaren, biologischen und chemischen Waffen, steckt, muss man auch hier nur eins und eins zusammenzählen, um zu einem beunruhigenden Befund zu kommen.

Ende des Jahres 2019 bekam das staunende Publikum eine weitere Bilderbuchvorstellung über die Wirkungsweise von Spionagetätigkeit gegen ein Land beziehungsweise gegen eine Partei oder eine einzelne Person. In Bolivien wurde der gewählte Präsident Evo Morales zur Flucht außer Landes genötigt, nachdem der bolivianische Heeres- und der Polizeichef ihn zum Rücktritt aufgefordert und »Aufständische« dem Präsidenten und seiner Familie mit dem Tod gedroht hatten. Wie zu vernehmen war, halfen siebenstellige US-Belohnungsangebote per Telefon dabei, die beiden Funktionäre zum Umdenken beziehungsweise zum Seitenwechsel zu bringen. Jeder Mensch hat seinen Preis, eine der ältesten Grundregeln des Spionagegeschäfts. Und wenn es nicht das Geld ist, dann sind es kompromittierende Dinge aus seinem Privatleben, entweder echt oder täuschend echt nachgemacht oder per raffiniert gestellter Falle gezielt produziert, die ausreichenden Druck auszuüben in der Lage sind.

Interessant sind auch die seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten 2016 nicht verstummenden Gerüchte beziehungsweise Behauptungen, Russland habe massiv und manipulativ in die US-Präsidentenwahl eingegriffen und so erst die Wahl Trumps ermöglicht. Stichhaltige, überprüfbare Beweise hierfür wurden zu keinem Zeitpunkt vorgelegt. Dennoch werden diese Behauptungen mantraartig wiederholt und von den US-Medien und ihrer internationalen Gefolgschaft wiedergekäut. Dass die Kriegstreiberin Hillary Clinton wegen massiver Fehler in der Wahlkampfführung trotz aussichtsreicher Position im Rennen 2016 nicht siegte, muss aus Friedenssicht als großer Glücksfall gelten. Zwar wurde stattdessen mit Trump ein korrupter Clown gewählt, der jedoch zumindest außenpolitisch den Säbel weitgehend aus der Hand gelegt und bislang keinen größeren neuen Krieg vom Zaun gebrochen hat (im Gegensatz zu dem, was Frau Clinton schon im Wahlkampf ankündigte), sondern im Gegenteil den Rückzug der US-Truppen aus Syrien und zuletzt sogar – aus persönlicher Kränkung heraus – den teilweisen US-Truppenabzug aus der BRD befahl. Da nach wie vor und ganz bewusst sowohl eine Sicherungstruppe rund um die Ölquellen im kurdischen Stammesgebiet auf syrischem Boden belassen wird als auch noch über 20.000 US-Soldaten auf dem Gebiet der BRD die größte Ansammlung von US-Truppen außerhalb der USA darstellen, wurde damit die eigentliche Interessenlage der USA einmal mehr offenbar gemacht. Nachdem selbst die offiziellen, gerichtlichen und sonstigen Untersuchungen in den USA keine stichhaltigen, gerichtsverwertbaren Beweise für eine ausländische Manipulation der US-Wahlen erbrachte (sondern einmal mehr die Erkenntnis, dass es dem Populisten Trump 2016 gelungen war, die Stimmung im US-Volke besser zu erfassen und für sich zu nutzen als seiner demokratischen Widersacherin), wurde Trump seit Ende 2019 erneut durch den Kakao gezogen und sogar mit einem am Ende erfolglosen Amtsenthebungsverfahren (Impeachment) bedacht. Grund: Er soll den ukrainischen Präsidenten Selenskyj im Juli 2019 während eines Telefonats um kompromittierendes Material gegen Joe Biden gebeten haben und als Druckmittel dafür 400 Millionen US-Dollar Militärhilfe der USA für die Ukraine (ein neutrales, mit der USA vertraglich nicht verbündetes Land) zurückgehalten haben. Worum geht es, und wer ist dieser Joe Biden? Biden war US-Vizepräsident unter Barack Obama und hat sich gerade in der Ukraine in zweifelhafter Weise betätigt. Zum einen war er 2014 zentral am vom Westen gesteuerten Umsturz, am Putsch gegen den gewählten Präsidenten Janukowitsch beteiligt, der auf illegale Weise zur Flucht gezwungen wurde. Seinerzeit hatten die vom Westblock finanzierten, monatelang in Kiew auf dem Maidan randalierenden Hooligans aus Lwiw (Lemberg) sehr glaubwürdige Todesdrohungen gegen ihn ausgesprochen. Zum anderen erhielt Bidens Sohn Hunter zur Belohnung (hony soit qui mal y pense) direkt nach dem Umsturz ein mit monatlich 50.000 US-Dollar dotiertes Aufsichtsratsmandat der ukrainischen Gasholding Burisma, das dieser erst 2019 aufgab, um seinen Vater im Wahlkampf 2020 von diesem Amtsmissbrauchsvorwurf zu entlasten.

Natürlich ging auch diese angebliche Affäre Trumps wie das Hornberger Schießen aus. Dennoch wird in den US-Medien behauptet, eine solche Manipulation des Wahlkampfs, wie sie Trump vorgehabt habe, sei beispiellos. Dabei muss man nur einige Jahrzehnte in der US-Geschichte zurückgehen (aber so weit reicht das Kurzzeitgedächtnis der Westblockmedien bekanntlich nur, wenn es den eigenen Interessen dient, nicht, wenn es um die Wahrheit geht), um auf einen deutlich massiveren Fall illegaler Absprachen im Rahmen einer US-Präsidentenwahl zu stoßen. 1980 führte Schauspieler Ronald Reagan für die Republikaner einen erbitterten Wahlkampf gegen den Demokraten Jimmy Carter, der zum Ende seiner ersten Wahlperiode vor der in der US-Geschichte eigentlich meist unproblematischen Wiederwahl für die zweite Amtsperiode stand, qua Amtsbonus als Wahlkampfvorteil. Doch die den etwas dümmlichen Reagan steuernden Republikaner konnten dennoch einen überraschenden Sieg erringen. Und zwar dank einer heimlichen Absprache mit den islamischen Revolutionären im Iran, die 1977 den Schah gestürzt und 1979 einige Dutzend Mitarbeiter der US-Botschaft in Teheran als Geiseln genommen hatten.

Carter hatte eine militärische Befreiungsaktion für die US-Geiseln genehmigt, die auf spektakuläre Weise – und möglicherweise absichtlich – scheiterte. Anschließend hielten die Islamisten in Absprache mit dem Wahlkampfteam Reagans für die Dauer des US-Präsidentenwahlkampfs die Geiseln weiter in Haft. Die misslungene Befreiungsaktion Eagle Claw (»Adlerklaue«) und die Tatsache, dass Carter nicht in der Lage war, die Geiseln auf anderem Weg zu befreien, sorgten für den beabsichtigten Stimmungsumschwung im Wahlvolk und sicherten Staatsschauspieler Reagan den Sieg. Die iranischen Islamisten ließen nach seinem Wahlsieg umgehend ihre Geiseln frei. Diese illegale Wahlkampfmanipulation legte im Folgenden die Grundlage für eine weit größere Spionageaffäre, auf die an anderer Stelle ausführlich eingegangen werden soll: die sogenannte Iran-Contra-Affäre. In diesem Zusammenhang wird von Historikern meist die Vorgeschichte übersehen beziehungsweise bewusst ausgeblendet, nämlich dass der vertraute Umgang Reagans mit den Islamisten seit der Geiselnahme und ihrer gezielten Beendigung nach der Wahlniederlage Carters erst das Geschäft Waffen gegen Geiseln möglich machte, das einige Jahre später aufflog und einen weiteren der vielen Schatten auf die Präsidentschaft Reagans warf. Carter wurde so der zehnte US-Präsident, der nach nur einer Wahlperiode sein Amt wieder verlor. Bush senior, George H. W. Bush, war dann der elfte, als er nach zwei Reagan-Amtszeiten und einer ersten eigenen Wahlperiode gegen Teflon-Boy Bill Clinton verlor. Was Bush Senior so wurmte, dass er im Jahr 2000 seinen Sohn in den Wahlkampf schickte, den dieser, George W. Bush, dann 2001 auch gewann.

Möglicherweise haben aber auch Sie sich gewundert, dass Anfang 2020 in der Medizinischen Hochschule Hannover (Universitätsklinik) knapp drei Wochen lang ein Mafiaboss aus Montenegro, dessen Name als Igor K. angegeben wurde, ob seiner bei heimatlichen Auseinandersetzungen erlittenen Schusswunden behandelt und das Krankenhaus während dieser Zeit mit einem massiven Polizeiaufgebot abgeriegelt wurde. Verweigerte die Polizei zunächst jegliche Auskunft über den Einsatz rund um das Krankenhaus, so sickerte anschließend durch, der Mafiaboss samt Ehefrau sei mit einem Privatflugzeug und in Begleitung von Beamten des Spezialeinsatzkommandos (SEK) nach Hannover gebracht worden. Flug- und Behandlungskosten in Höhe von über 100.000 Euro trug der reiche Mafioso angeblich selbst. Dabei wurde ihm auch ein künstliches Kniegelenk eingesetzt. Die Kosten für das Polizeiaufgebot in Höhe von rund einer Million Euro trug, so die letzte Auskunft, der deutsche Steuerzahler. Alle diese Informationen machen nur Sinn, wenn hier der BND seine Hand im Spiel hatte und somit der Mafiaboss, in welcher Form auch immer, zum lokalen Agentennetzwerk des BRD-Geheimdienstes zählte, was die Sonderbehandlung samt aufwendigster Schutzabschirmung erklären würde. Zwischenzeitlich sollte Igor K. in ein deutsches Gefängnis-Krankenhaus verlegt werden, was aber interessierte BRD-Regierungskreise zu verhindern wussten. Das niedersächsische Innenministerium verfügte Ende Februar 2020 zum großen Ärger des BND, der Mafioso habe die BRD nach erfolgter Behandlung umgehend zu verlassen, sonst werde er abgeschoben. Die Schusswunden soll der Mafioso übrigens im Zuge von Auseinandersetzungen der beiden im örtlichen Drogenhandel konkurrierenden Skaljari- und Kavac-Clans erlitten haben. In Montenegro, einem der Nachfolge-Staaten des vom Westblock erfolgreich desintegrierten Jugoslawiens, sind die westlichen Geheimdienste sehr präsent, um die noch schwankende Bevölkerung von den Vorteilen einer EU- und NATO-Mitgliedschaft und damit der Abkehr von Russland zu »überzeugen«. Und Drogenhandel zählt bekanntlich zu den beliebtesten Neben-Einnahmequellen von Geheimdiensten.

Es gäbe hier noch viel anzuführen, doch belassen wir es bei Obigem und wenden wir uns nun den 25 sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten oder Personengruppen zu, die ich wegen ihrer herausragenden, auf spektakuläre Weise erfolgreichen oder erfolglosen Spionagetätigkeit für dieses Buch ausgewählt habe, um Ihnen einen repräsentativen Eindruck der mit nahezu endlosen Facetten ausgestatteten Spionageprofession zu vermitteln.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre!

Schöneck/Vogtland, im Sommer 2020

Johannes Seiffert

1. Alfred Redl Ein »Jahrhundertverräter«?

Überdurchschnittlich intelligent, schneidig, Absolvent der kaiserlichen Kadettenschule, Karriereoffizier, dreisprachig, homosexuell: Alfred Redl (1864–1913) war das, was man im Wien der Jahrhundertwende einen »Feschak« nannte. Ein hübscher Bursche, dem die Herzen zuflogen, der das Leben in vollen Zügen genoss, sein Schwulsein aber wegen der rigiden Gesetze nur illegal im Rotlichtmilieu ausleben konnte. Das alles wäre noch kein Grund, ihn in die Annalen der legendären Spionagefälle aufzunehmen, wäre da nicht seine langjährige Tätigkeit für den Armeegeheimdienst Österreichs und das unrühmliche Ende seiner Karriere. Als hoher Offizier in der Russland-Abteilung des Evidenzbüros stellte Redl mitsamt seinen »menschlichen Schwächen« eine ideale Zielperson für die Anwerber des zaristisch-russischen Geheimdienstes Ochrana in Wien dar. Beschäftigt war Redl mit dem Sammeln und Auswerten von Informationen über den »Feind im Osten«, aber auch mit verdeckten Aktionen Richtung Russland. Die russischen Werber waren bereit, für valide Informationen reichlich Geld zu bezahlen. Und Redl benötigte viel davon für seinen aufwendigen Lebensstil. Die Falle schnappte nur allzu bald zu.

Doch zunächst zur Vorgeschichte. Redl stammte aus Lemberg, der Hauptstadt des österreichischen Kronlands Galizien (Lwiw in der heutigen Ukraine), und war der Sohn eines Berufsoffiziers der k. u. k. Armee. Vater Redl erzog seine Kinder konsequent dreisprachig − polnisch, ukrainisch und deutsch. Redl lernte später noch Tschechisch und Französisch. Mit 17 Jahren trat er in eine kaiserliche Kadettenschule ein. Nach zwei Jahren Ausbildung verließ der 19-jährige Redl die Schule 1883 als Kadett-Offi-ziersstellvertreter mit sehr guten Noten. Im heimatlichen Lemberg avancierte er in den nächsten vier Jahren zum Leutnant. 1887 bewarb er sich 23-jährig in der »Reichshauptstadt« Wien um die Zulassung zur k. u. k. »Kriegsschule« in der Lehárgasse 4 im 6. Gemeindebezirk. Hier wurden Offiziere für den Generalstabsdienst, die Spitze der militärischen Karriereleiter, ausgebildet. Als einer von fünfundzwanzig Offizieren des gesamten k. u. k. Reichs wurde Redl 1894 zum Generalstab versetzt. Zwischendurch musste sich der Lebemann wegen einer syphilitischen Erkrankung ärztlich behandeln lassen. Redl wurde nun zum Eisenbahnbüro des Generalstabs abkommandiert, wo man gegnerische Transport- und Aufmarschplanungen auskundschaftete beziehungsweise aufklärte. Dies war hinsichtlich Russlands von besonderer Bedeutung, unterlagen Landkarten im Zarenreich doch strikter Geheimhaltung, so dass man den Verlauf von Bahnstrecken vielfach nur durch persönliches Bereisen feststellen konnte. 1899 wurde der 35-jährige Redl zu einem »Sprachkurs« nach Russland geschickt. Üblicherweise waren solche Aufenthalte auch mit Aufklärungs- beziehungsweise Spionageaufträgen verbunden. Im ostrussischen Kasan konnte sich Redl während des einjährigen Aufenthalts (Mai 1899 bis Mai 1900) auf diese Weise eine sechste Sprache aneignen.

Solche Aufenthalte in einem Zielland waren und sind nicht ungefährlich, sowohl für den Betreffenden als auch für sein Heimatland. Denn es besteht die Gefahr, dass eine aufmerksame Spionageabwehr beziehungsweise Gegenspionage des Gastlands ihrerseits »Reisende« umzudrehen und anzuwerben versucht. Ob Redl möglicherweise schon hier für den russischen Geheimdienst tätig wurde, konnte bisher nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden. Seine frisch erworbenen Russischkenntnisse waren jedenfalls der Schlüssel zu seiner nächsten Karrierestufe, dem im Jahr 1900 erfolgten Dienstantritt in der »russischen Gruppe« des Wiener Evidenzbüros im k. u. k. Generalstab. Der 36-jährige Redl war damit Teil eines Teams von nur zwanzig Offizieren – der deutsche und der russische Generalstab hatten ein Vielfaches an Personal für die jeweiligen Feindbelange zur Verfügung.

Redl avancierte weiter. Wenige Monate später rückte er ins übergeordnete Kundschaftsbüro auf, welches die eintreffenden nachrichtendienstlichen Informationen aller Regional- und Ländergruppen des Evidenzbüros sammelte. 1907 übernahm er 43-jährig die Leitung des Kundschaftsbüros. Doch damit nicht genug. Wenige Monate später stieg er erneut auf und wurde nun Oberstleutnant im Generalstab (i.G.). Nach seiner Beförderung zum Oberst im Mai 1912 war der 48-jährige Redl nunmehr »kommandoberechtigt« und wurde am 18. Oktober desselben Jahres Generalstabs-chef des VIII. Armeekorps in der k. u. k. Metropole Prag.

Gegenspieler auf russischer Seite war einesteils die zaristische Geheimpolizei Ochrana, die für die zivile Auslandsspionage zuständig war, sowie anderenteils die Abteilung für Kundschafterwesen im russischen Generalstab. Die Österreich-Abteilung der Ochrana residierte im damals noch russischen Warschau, fünfzig Angestellte arbeiteten hier an der Informationsbeschaffung aus Österreich, unterstützt von weiteren hundertfünfzig Spionen vor Ort.

Der Chef des Kundschafterwesens im Generalstab hatte 1901 einen gutaussehenden, perfekt deutschsprechenden Balten-Baron als »Urlauber« nach Wien geschickt. Dessen Aufgabe war es gewesen, einen möglichst hochrangigen Zuträger des Evidenzbüros anzuwerben. Auf seiner Suche nach Offizieren mit Schwachstellen war er angeblich 1903 auf Redl gestoßen – einen idealen Zuträger. Laut einer verbreiteten Legende soll der russische Agent seine Zielperson Redl mit dem Wissen um dessen homosexuelle Umtriebe im Rotlichtmilieu erpresst und zur Spionage für die Ochrana genötigt haben. Neuerliche Recherchen in Wiener und Moskauer Archiven ergaben jedoch keinerlei Hinweise auf eine solche Erpressung beziehungsweise eine solche Anwerbeoperation. Wahrscheinlicher ist, dass die wachsame russische Gegenspionage schon 1900 auf den »Sprachurlauber« Redl in Kasan aufmerksam geworden war und einen langfristig angelegten Anwerbeversuch unternommen hatte, verbunden mit hohen Geldversprechungen bei entsprechend attraktiven Lieferungen an Material. Nicht ausgeschlossen ist sogar, dass die Initiative zur Zusammenarbeit von Redl selbst ausgegangen war. Redl hatte hohen Geldbedarf, um seinen aufwendigen Lebensstil zu finanzieren – mit Villa, Automobilen, zahlreichen Bediensteten und regelmäßigen Besuchen exklusivster Restaurants.

Zu den von Redl verkauften Informationen gehörten Mobilmachungspläne, Truppenstärken, Inspektionsberichte und Festungspläne sowie die Operationsplanungen gegen Russland, Serbien und Italien. Redl fotografierte die Unterlagen und entwickelte die Aufnahmen selbst. Als Mitglied der Russlandgruppe bekam Redl auch alle Zusammenarbeitsangebote von russischen Überläufern und Verrätern vorgelegt und leitete deren Namen prompt nach Moskau weiter. Natürlich blieb es nicht aus, dass die seit dem Aufstieg Redls gehäuften Rückschläge bei der gegen Russland gerichteten österreichischen Spionagetätigkeit auffielen. Redl und seine russischen Führungsoffiziere verstanden es allerdings, diese Rückschläge durch vermeintlich »erfolgreiche Aktionen« zu kompensieren. Dazu wurden angeblich streng geheime (falsche) russische Dokumente zur Verfügung gestellt und russische Agenten »enttarnt«, die ohnehin geopfert werden sollten. Redls ungeniert zur Schau gestellter Reichtum wurde niemals ernsthaft untersucht, kein Ruhmesblatt für die österreichische Spionageabwehr. Selbst handfeste Hinweise auf einen »Maulwurf« im Evidenzbüro konnten Redl nicht schaden. So etwa, als der österreichische Militärattaché in St. Petersburg, Major Lelio Graf Spannocchi, von dem mit ihm befreundeten britischen Militärattaché 1909 erfuhr, ein hoher österreichischer Generalstabsoffizier verkaufe Russland streng geheime militärische Unterlagen. Spannocchi telegrafierte das umgehend an den Chef des Evidenzbüros, Oberst Hrdlicka, der Spannocchi bat, sich an Oberst Redl, den Russland-Experten des Evidenzbüros, zu wenden. Redl gelang es in der Folge, Spannocchis Abberufung aus Moskau zu erreichen.

Material- und Geldübermittlungen erfolgten seit Redls Versetzung nach Prag 1912 meist per Post. Der in Prag dienstlich länger als vorgesehen festgehaltene Generalstabschef versäumte es im selben Jahr jedoch, eine solche postlagernde Geldsendung, gerichtet an seinen Tarnnamen »Nikon Nizetas«, auf dem Hauptpostamt in Wien rechtzeitig abzuholen. Daher wurde der Brief nach Ende der Abholfrist als unzustellbar an das Herkunftspostamt im ostpreußischen Grenz-ort Eydtkuhnen (heute: Tschernyschewskoje, Oblast Kaliningrad, Russland) zurückgesendet. Interessant ist, dass die russische Seite das am Grenzübergang zu Russland gelegene Eydtkuhnen als Postamt zur Absendung solcher Nachrichten ausgewählt hatte. Man wollte damit wohl die Postkontrolle umgehen, die alle direkt aus Russland ins deutsche Kaiserreich beziehungsweise nach Österreich-Ungarn geschickten Brief- und Paketsendungen betraf.

Als man 1913 in Eydtkuhnen die Postsendung auf der Suche nach Hinweisen auf den Absender öffnete, kamen ein hoher Bargeldbetrag und mehrere Adressenlisten zum Vorschein. Das Postamt leitete den Brief sicherheitshalber an den deutschen Militärgeheimdienst weiter. Dessen Chef, der im Zusammenhang mit der Russischen Revolution 1917 bedeutsam werdende Major Walter Nicolai (zuständig für die Finanzierung der Bolschewiki vor 1917 – vgl.: Johannes Seiffert: Die größten Täuschungen der Geschichte, 2. Aufl., Berlin 2019, S. 173–217), fand im Brief bekannte russische Spionage-Tarnadressen. Er informierte umgehend das Wiener Evidenzbüro. Der Brief wurde erneut verschlossen und nach Wien transportiert und, dort angekommen, abermals im Hauptpostamt hinterlegt. Die österreichische Staatspolizei ließ das Postamt sechs Wochen lang überwachen, dann schnappte die Falle zu. Als Redl am 24. Mai 1913 das Schreiben am Schalter abholte, wurde er anschließend beschattet und anhand der Abhol- und Aufgabescheine, die er weggeworfen hatte, als Adressat identifiziert. Neben dem Geheimnisverrat an sich drohte nun bei einer öffentlichen Untersuchung, dass Versäumnisse des Generalstabs hinsichtlich der Sicherheitsüberprüfung von Offizieren in Schlüsselpositionen bekannt würden. Daher wurde eine umfassende Nachrichtensperre zum »Fall Redl« verhängt. Eine Offiziersdelegation erhielt den Auftrag, Redl in seinem Wiener Domizil, dem luxuriösen Hotel Klomser (Palais Batthyány) in der Herrengasse, festzunehmen. Die Delegation traf Redl in seinem Hotelzimmer an. Redl wusste sofort, was die Stunde geschlagen hatte. Er gestand (allerdings nur einen verkürzten Zeitraum angebend), dass er 1910 und 1911 Geheimnisse an fremde Staaten verraten habe, dabei aber stets und ausnahmslos ohne Komplizen vorgegangen sei. Einer der Offiziere übergab Redl eine Pistole und ein Päckchen Gift und ließ Redl dann allein, um ihm die Möglichkeit zu geben, seinem Leben selbst ein Ende zu bereiten. Bei der Rückkehr eine Stunde später fand man dann Redls Leiche mit einer Schusswunde im Kopf. Franz Conrad von Hötzendorf, Chef des k. u. k. Generalstabs, berichtete seinem Vorgesetzten, dem Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand, Generalinspektor der k. u. k. Armee, Redl habe sich »aus bisher unbekannter Ursache« erschossen. Der Kaiser wurde in ähnlicher Form informiert. Eine Mitteilung identischen Inhalts ging einen Tag später an die Presse.

Redls Prager Wohnung wurde zeitgleich durchsucht. Davon bekam der »rasende Reporter«, Egon Erwin Kisch, Wind. Er erfuhr von dem Schlosser, der in staatlichem Auftrag die Tür zu Redls Wohnung geöffnet hatte, dass Spio-nage und Homosexualität im Spiel gewesen seien. Kisch verfiel auf einen genialen Ausweg, wie er diese Sensationsmeldung trotz der in Österreich-Ungarn herrschenden Militärzensur publizieren könne: Er druckte die Meldung in Form eines Dementis: Von hoher Stelle werden wir um Widerlegung der speziell in Militärkreisen aufgetauchten Gerüchte ersucht, dass der Generalstabschef des Prager Korps, Oberst Alfred Redl, der vorgestern in Wien Selbstmord verübte, einen Verrat militärischer Geheimnisse begangen und für Russland Spionage getrieben habe. Dieses »Dementi« sorgte für großes Aufsehen; auch Kaiser und Thronfolger erfuhren auf diese Weise von Redls Verrat. Das Kriegsministerium reagierte erst drei Tage später. Nun musste man zugeben, dass Redl sich das Leben genommen habe, weil man im Begriffe war, ihn wegen homosexueller Verfehlungen und Geheimnisverrat an fremde Mächte zu überführen. Die österreichische Spionageabwehr überprüfte nun Redls Konto, das seit 1905 Einzahlungen von insgesamt mehr als 100.000 Kronen aufwies. Es stand somit fest, dass Redls Verrat deutlich früher begonnen hatte.

Redls Leiche wurde heimlich auf dem Wiener Zentralfriedhof (Gruppe 79, Reihe 27, Nummer 38) beigesetzt. Einen später aufgestellten Grabstein ließen die nationalsozialistischen Behörden kurz vor Kriegsende im April 1945 zerstören. Heute ist das Grab neu belegt, Redls Gebeine ruhen jedoch immer noch dort. Von einigen Historikern wird Redl bis heute für die verheerenden Niederlagen Österreich-Ungarns zu Beginn des Ersten Weltkriegs verantwortlich gemacht. Dank Redl habe Österreich-Ungarn sich falsche Vorstellungen von den Kräfteverhältnissen gemacht und die russische Armee als viel schwächer angenommen, als sie eigentlich war. Vereinzelt wurde sogar behauptet, dass die österreichische Kriegserklärung nicht erfolgt wäre, wenn die realen Informationen vorgelegen und Redl nicht für deren Verschleierung gesorgt hätte – mithin sei er also für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verantwortlich. Selbst CIA-Chef Allen Dulles bezeichnete Redl Jahrzehnte später noch als »Erzverräter«. Allerdings stehen dem die österreichischen Siege von Kraśnik und Komarów zu Beginn des Ersten Weltkriegs entgegen, die es demzufolge nicht hätte geben dürfen. Bis heute ungeklärt ist, wie auch nach dem Tod Redls weiterhin »Informationsabflüsse« aus dem Evidenzbüro Richtung Russland erfolgen konnten. Es muss also noch weitere, bis heute unbekannte »Redls« dort gegeben haben.

2. Mata Hari Tänzerin und Amateur-Agentin

Am Montag, dem 15. Oktober 1917, wird in den frühen Morgenstunden dieses kühlen, nebligen Herbsttages eine etwas verlebt aussehende Frau mittleren Alters in den Hof des französischen Forts Vincennes, unweit von Paris, geführt. Vor einer Mauer ist ein Pfahl in den Boden gerammt, an den sie gefesselt wird. Ein Peloton Soldaten marschiert auf und lädt die Gewehre. Auf den Befehl eines Offiziers hin legen die Soldaten an, zielen auf die Frau und drücken ab. Von vielen Kugeln getroffen, sackt sie zusammen. Auf diese Weise endet das Leben einer der schillerndsten Frauengestalten der Spionagegeschichte, das Leben der Mata Hari, die in Wirklichkeit Margaretha »Grietje« Geertruida Zelle hieß.

Zelle wird 1876 als einzige Tochter und erstes Kind eines Hutmachers und seiner Frau im niederländischen Leeuwarden (Provinz Friesland) geboren. Ihre Mutter stammt von exotischen Vorfahren ab, deren Wurzeln in der damals niederländischen Kolonie Java liegen. Zwei Jahre nach Margaretha wird ihr Bruder Johannes geboren, und 1881 kommen ihre Zwillingsbrüder Ari und Cornelis zur Welt. Grietje besucht zunächst die Volksschule und ab 1890 – mit 14 Jahren – die Mittelschule. Sie lernt dort Englisch, Französisch und Deutsch. Ihr Vater ist als Aufschneider bekannt, der sich gern »Baron« nennen lässt, trotz fehlender Adelsahnen. 1890 lässt sich Grietjes Mutter von ihrem Hallodri-Gatten scheiden, stirbt aber schon ein Jahr später an Tuberkulose. Der bald neu verheiratete Vater nimmt nur zwei seiner Kinder zu sich, Grietje und einer ihrer Brüder kommen zu anderen Verwandten. Grietje beginnt nun gemäß dem Willen ihres Patenonkels, der sie aufnahm, eine Ausbildung zur Kindergärtnerin, bricht sie jedoch bald ab. Erst Jahrzehnte später kommt heraus, dass die 15-Jährige offenbar vom Direktor der Ausbildungsschule missbraucht wurde. Grietje, die sich standhaft weigerte, die Schule weiterhin zu besuchen, wurde innerhalb der Verwandtschaft weitergereicht, diesmal an einen Onkel in Den Haag.

1895 entdeckt die 19-Jährige eine Zeitungsanzeige, in der ein aus England stammender Offizier der niederländischen Kolonialarmee eine Ehefrau sucht. Rudolph MacLeod ist zwanzig Jahre älter als Grietje, ein Griesgram, der an Rheuma und Diabetes leidet. Grietje ist das egal. Die Eheschließung bietet ihr die Chance, aus der holländischen Provinz herauszukommen, da MacLeod in Niederländisch-Indien stationiert ist und nach seinem Heimaturlaub dorthin wieder zurückzukehren beabsichtigt. Die 19-Jährige heiratet den 39-Jährigen im Sommer 1895, Ende Januar 1896 bringt sie einen Sohn zur Welt. Die Ehe steht unter keinem guten Stern, ihr Ehemann stellt sich als Alkoholiker heraus, der sie oft schlägt.