Soziale Arbeit

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2 Sozialpädagogik – Geschichte der Jugendfürsorge/Jugendpflege


Abbildung 7: Geschichtliche Wurzeln der Sozialpädagogik

2.1 Öffentliche Hilfe für Kinder (Jugendfürsorge)

Zeitabschnitte

In Kapitel 1 wurde die Geschichte der Sozialarbeit in kurzen Zügen nachgezeichnet. Hier nun geht es um die Geschichte der Sozialpädagogik. Der Vergleichbarkeit wegen wird dieselbe zeitliche Einteilung wie im vorangegangenen Kapitel vorgenommen.

1. Armenfürsorge für Kinder im Mittelalter (12.–13. Jh.) und zu Beginn der Neuzeit (14.–16. Jh.)

2. Jugendfürsorge im Zeitalter der Industrialisierung (18.–19. Jh.)

3. Jugendwohlfahrtspflege für Kinder im 20. Jahrhundert

4. Armut und Hilfe in der bundesrepublikanischen Jugendhilfe/Sozialpädagogik


Um die Geschichte der Sozialpädagogik entwickeln zu können, müssen wir an den Ausgangspunkt zurückkehren. Erinnern Sie sich und skizzieren Sie kurz den Beginn der gemeinsamen Geschichte von Sozialpädagogik und Sozialarbeit.

Sozialarbeit und Sozialpädagogik haben die gleichen geschichtlichen Wurzeln. Als die Familie, die Verwandtschaft, das Dorf, die Zunft und andere traditionelle Gruppierungen des Mittelalters Armut in ihren Reihen nicht mehr ausgleichen konnten, entstand die öffentliche Fürsorge mit ihren Hilfeleistungen. Bei den erwachsenen Armen beschränkte sie sich auf materielle Hilfe, dagegen bedurfte die moralisch-sittliche Not (Verwahrlosung) Jugendlicher (besser: Kinder) einer andersgearteten Hilfe. Bei dieser für Kinder und Jugendliche speziellen Fürsorge ging es primär um Erziehung.

In der öffentlichen Jugendfürsorge des ausgehenden Mittelalters können wir den Beginn der Geschichte der Sozialpädagogik festlegen. Somit zeigt sich, dass Sozialarbeit und Sozialpädagogik zwar die gleichen gemeinsamen geschichtlichen Wurzeln haben, sich jedoch im Laufe der Zeit unterschiedlich entwickelt haben und zu je einem eigenen Berufszweig wurden.

Wie im ersten Kapitel aufgezeigt wurde, sind die drei zentralen Aspekte (Grundmodell) bei der Entstehung der öffentlichen Fürsorge:


Armut – Hilfe – Öffentliche Fürsorge


3. Praxis-Situation: Soziale Arbeit – Finanzen

MitarbeiterInnen einer Jugendeinrichtung hatten die Notwendigkeit erkannt, für Jugendliche eines Stadtteils einen offenen Jugendtreff anzubieten. Sie entwickelten ein Konzept, das sie in einer Gemeinderatssitzung mit der Bitte um finanzielle Unterstützung vorstellten. Die Ratsmitglieder fanden das Konzept auch sehr gut. Doch dann kam das berühmte „Aber“: Es fehlt an Geld, das Projekt kann nicht finanziert werden.

Nach dieser Gemeinderatssitzung sitzt das Team teils ratlos, teils frustriert und wütend zusammen. Sie beklagen die Haltung der Politikerinnen und Verwaltung, die stets das Argument vortragen, dass das für Projekte notwendige Geld fehlt. Sie sind der Meinung, dass dieses Argument so nicht stimmt und das ärgert sie.

Tragen Sie Argumente zusammen, die Sie den Gemeindevertreterinnen vortragen würden, um Ihr Projekt dennoch genehmigt zu bekommen.

In den Modellen der Sozialarbeit ging es um die Frage, ob und wie Erwachsene, die in materielle Armut geraten waren, durch Angebote der öffentlichen Fürsorge Hilfe erhalten sollten.

In diesem Kapitel soll nun die Geschichte der Sozialpädagogik anhand von Erziehungskonzepten beschrieben werden. Es wird der Frage nachgegangen, wie man Verwahrlosung (sittliche Armut) – Hilfe – Jugendfürsorge und ihr Verhältnis zueinander verstanden hat (Abbildung 8).

Abbildung 8: Grundmodell

„Erziehungs-Für-Sorge ist eine Daseinsverfassung, ein Existential, sie schafft die Bedingungen der Möglichkeiten von Existenz. Es geht der Für-Sorge um die Verwirklichung des Soseins und des Mitseins des jugendlichen Menschen.“ (Noack 2001, 11 f.)

Obwohl die verschiedenen Fürsorge-Modelle Verwahrlosung (sittliche Armut) von Kindern und Jugendlichen aus unterschiedlichen Positionen sehen, sind sie sich doch in einem Punkt einig: In der Jugendfürsorge geht es stets um erzieherische (vorbeugende) Maßnahmen.

2.2 Armenfürsorge für Kinder im Mittelalter (12.–13. Jh.) und zu Beginn der Neuzeit (14.–16. Jh.)

2.2.1 Findel- und Waisenhäuser

Vormundschaft

Wenn ein Kind einen Elternteil oder gar beide Elternteile verlor, trat im Mittelalter das Gesetz der Vormundschaft der Sippe ein.

„Das Kind, ebenso wie die Frau, stand unter der Munt des Hausherren, unter seiner Schutzgewalt. Fehlte der Vater, so hatte die Sippe die Gewalt über das Kind; nach germanischem Rechtsbrauch war dann der nächste männliche Blutsverwandte aus dem Mannesstamm der ,geborene‘ Vormund. Wo es keinen geborenen Vormund gab, trat die Schutzherrschaft des obersten Sippen- oder Stammeshauptes ein, gegebenenfalls des Königs.“ (Scherpner 1966, 19)

Wer als Vormund galt, nahm das Kind in seine Familie auf. Damit waren im Mittelalter die Waisen fast alle versorgt. Sie wurden vom Vormund dem Stand des Vaters entsprechend aufgezogen. Was geschah aber mit den Kindern, die nicht durch ihre Sippe versorgt wurden?

Die zentrale Einrichtung für Arme war im Mittelalter das Hospital. Hier wurden arme Erwachsene wie auch arme Kinder untergebracht. Zu den armen Kindern gehörten vor allem Findel- und Waisenkinder, d.h. solche Kinder, die nicht von ihrer Familie oder Sippe erzogen werden konnten. Erst als die Hospitäler zu Elendsherbergen Erwachsener wurden, sonderte man die Kinder ab und verwahrte sie nicht mehr im allgemeinen Spital, sondern in besonderen Findel- und Waisenhäuser.

Findel- und Waisenhäuser

Die Findelkinder wurden vor der Kirchentür ausgesetzt, oder man legte sie heimlich vor die Tür der Findelhäuser und zog die Hausglocke. Um die Findel- und Waisenkinder sorgten sich besonders die Orden, wobei vor allem der Orden zum Heiligen Geist zu erwähnen ist. In Deutschland gründete dieser Orden zahlreiche Heilig-Geist-Spitäler (1198). Die Sterbequote in den Findelhäusern war sehr hoch und betrug etwa 70 %.

Familien- und Anstaltserziehung

Für die Findel- und Waisenkinder kannte man zwei Formen der (Ersatz-) Erziehung: Familien- und Anstaltserziehung. In der Regel wurde das Findelkind zunächst in einer Pflegestelle, d.h. bei einer Ziehmutter untergebracht, für welche die Anstalt aufkam. Mit etwa 5 bis 7 Jahren wurde das Kind dann in die Anstalt aufgenommen. Von einem eigentlichen Erziehungsziel in der Fürsorge für Findel- und Waisenkinder kann für das Mittelalter allerdings noch nicht die Rede sein.

Ebenso wie für alle anderen Kategorien von Hilfsbedürftigen strebte man auch für die Kinder allein ihre materielle Versorgung an. Es schien ausreichend, die Kinder zum Almosenheischen anzuhalten, damit sie so zu ihrem Unterhalt selbst beitrugen.

Wollte man dennoch ein Ziel nennen, könnte man es etwa so umschreiben: Die Armut der Kinder führte sie in sittlich-moralische Not, d.h. in die Verwahrlosung. Da man seinerzeit davon ausging, Erwachsene seien fertige Menschen, die man deshalb nicht mehr erziehen sollte, sah man bei den armen Kindern eine Chance, sie durch Erziehung vor der Verwahrlosung zu schützen. Aus dieser Überlegung heraus entstand die Geschichte der Sozialpädagogik als Geschichte der Erziehung armer Kinder bzw. Geschichte der Jugendfürsorge.


Zu Beginn der frühen Neuzeit, d.h. also bereits im 16. Jahrhundert, war man bemüht, auch den Kindern armer Menschen eine Schulbildung zu vermitteln und sie durch eine Berufsausbildung auf ihr Leben ohne Betteln vorzubereiten.

2.2.2 Erziehungskonzept von Juan Luis Vives (1492–1540)


Um der Armut von Kindern zu begegnen, sah man zu Beginn der Neuzeit zwei Wege. Welche erzieherischen Angebote würden Sie armen Kindern machen, um sie vom Betteln abzuhalten?

Die Pädagogik des ausgehenden 16. Jahrhunderts stützte sich auf den, bereits in Kapitel 1 vorgestellten, Humanisten Juan Luis Vives in unterschiedlicher Weise. Sie erkannte in ihm einen der Vorläufer von Daniel Schleiermacher (1768–1834), Johann Friedrich Herbart (1776–1841) und Johann Amos Comenius (1592–1670). Die weithin bekannteste pädagogische Schrift von Vives war das Werk zur Erziehung christlicher Mädchen „de institutione feminae christianae“ (1523) (Zeller 2006, 18).

Vives befasste sich innerhalb seines umfangreichen wissenschaftlichen Lebenswerkes auch mit sozialen Reformen und der Kinderfürsorge. Die Findel- und Waisenkinder sollten bis zum 6. Lebensjahr von Frauen erzogen, danach in einer öffentlichen Schule unterrichtet werden. Durch eine solche Anstaltserziehung sollten arme Eltern von der Sorge für ihre Kinder entlastet und gleichzeitig die Kinder auf diese Weise der Gefährdung entzogen werden, der sie in ihrer Herkunftsumgebung ausgesetzt waren.

 

Familien- und Anstaltserziehung

Für die Erziehung der Mädchen forderte Vives, dass sie wie die Jungen zwar Unterricht erhalten, dann aber weiter auf ihre Rolle als Mütter und Hausfrauen vorbereitet werden sollten. Der Unterricht für Jungen und Mädchen umfasste Lesen, Schreiben und christliche Unterweisung. Begabte Jungen verblieben in der Schule, um später Lehrer oder Geistliche werden zu können. Die übrigen sollten ein Handwerk erlernen.

Das ist – kurz dargestellt – das Programm, das Vives für die Erziehung der armen Kinder aufstellte. Seine Forderungen und Pläne gehen weit darüber hinaus und zeigen seine tiefe Überzeugung von der Notwendigkeit der Erziehung. Die programmatischen Erziehungsgedanken von Vives fanden in der Praxis allerdings nicht die notwendige Anerkennung und Verbreitung.


In der Erziehung der Armen und der Kinder sieht Vives den einzigen Weg, Armut in der Gesellschaft erfolgreich zu bekämpfen. Kern einer pädagogischen Arbeit sollte sein: Nicht, was einer fordert, muss man ihm geben, sondern was ihn fördert.

2.3 Jugendfürsorge im Zeitalter der Industrialisierung (17.–18. Jh.)

2.3.1 Hallesche Anstalten von August Hermann Francke (1663–1727)

Pietismus

Der Pietismus verstand sich als Gegenbewegung zum Lutherischen Kirchentum. Denn im Luthertum entwickelten sich die Waisenhäuser zu bloßen Wirtschaftsunternehmen. Gegen diese Tendenz erarbeitete der Pietismus eine ganz neue Konzeption, in der es nicht primär um Arbeit, sondern um Erziehung ging. Nach Auffassung der Pietisten, etwa des eigentlichen theologischen Führers Philipp Jacob Spener (1635–1705), musste Betteln streng verboten werden.

August Hermann Francke

August Hermann Francke (1663–1727) entwickelte ein neues Konzept für Waisenhäuser. Er übernahm die Armenpflegeidee des Humanisten Juan Luis Vives, wobei der Erziehungsgedanke zum wesentlichen Bestandteil der Kinderfürsorge gemacht wurde. Es entwickelte sich ein neuer Typ des Waisenhauses.

1. Francke entwickelte einen neuen Organisationstyp, der darin bestand, dass erstmalig eine Einzelpersönlichkeit eine Anstalt organisierte. Neu ist die Art der Organisation, die durchaus planmäßig und rationell, aber immer an den augenblicklichen Bedürfnissen orientiert ist (Scherpner 1966, 72).

2. Nicht nur die Organisationsform, sondern auch die Art der Finanzierung war neu. Francke glaubte, dass ein gutes Werk auch einen Spender finden würde. Träger der Waisenhäuser waren nicht mehr eine Gemeinde, Stadt oder religiöse Gruppe, sondern ein Kreis Gleichgesinnter aus allen Schichten. Bei dieser Art der Finanzierung taucht der Begriff private Fürsorge zum ersten Mal auf, nämlich in dem Sinne, dass ein Einzelner Notstände erkennt, sich um ihre Beseitigung bemüht und mit der persönlichen und finanziellen Anteilnahme von Gesinnungsgenossen rechnen kann (Scherpner 1966, 73).


Für seine Anstalten, in denen über 2.000 Jungen lebten, entwarf Francke eine im Vergleich zu anderen Einrichtungen seiner Zeit neue Konzeption, die folgende Punkte umfasste:1. Es ging um eine religiöse Erziehung. Franckes pädagogische Grundhaltung lautete:„Der natürliche Wille muß gebrochen werden und das Kind muß lernen, dem Gebot Gottes ohne Zwang zu folgen auf Grund der vom Verstand erfaßten heilsamen Lehren der wahren Gottseligkeit und der christlichen Klugheit.“ (Scherpner 1966, 74)2. Die rationale Erforschung des Handelns durch eine geschulte Aufmerksamkeit war ebenfalls entscheidend. In Franckes pietistischer Erziehung ging es darum, Kinder zu einem rational kontrollierten Leben zu führen (Scherpner 1966, 75).3. Pietistischer Auffassung entsprach das Prinzip der ständigen nützlichen Beschäftigung. Müßiggang war Sünde, und man musste die Kinder und Jugendlichen vor dieser Sünde schützen. Für Francke ging es nicht nur um Erwerb und Lebensunterhalt, sondern um die Bildung der Kinder. Allen Waisenkindern wurde ein Wissen vermittelt, das im alltäglichen Leben nützlich war, z. B. wurden sie über die Polizeiordnung informiert, sie lernten, wie man reisen sollte, wie sie einen Acker ausmessen und einen Kalender gebrauchen konnten.4. Die körperliche Pflege und Erziehung war ebenfalls ein wichtiger Baustein des Konzeptes. Dazu gehörten saubere und luftige Räume, Ordnung der Kleidung, Bewegung in den Freistunden. Den Gesundheitszustand der Kinder sollte der Erzieher gut überwachen und, wenn er Anzeichen von Schwächlichkeit oder Krankheit bemerkte, sofort den Arzt zu benachrichtigen (Scherpner 1966, 78).5. An die Erzieher stellte Francke hohe Anforderungen. Die Erzieher sollten nicht Zuchtmeister, sondern Väter sein. Sie sollten sich um die Eigenart, die Individualität jedes Kindes bemühen und diese fördern.Konzeption von Francke

Die Halleschen Anstalten (Waisenanstalt, Schulen, Lehrerausbildungsstätten und Landgüter) hatten auch nach dem Tod von Francke weiterhin Bestand, seine Idee breitete sich rasch über ganz Deutschland aus.



2.3.2 Hamburgische Armenreform: Caspar Voght (1752–1839)

Armenschulsystem

Caspar Voght

Unter dem Gedanken der Aufklärung entwickelte man in Hamburg eine Armenreform (1788), die für die ganze Aufklärungszeit zum Vorbild wurde. Das Besondere des neuen Ansatzes, der von Caspar Voght entwickelt wurde, ist das Konzept der Arbeitserziehung. Bei dem planvollen Einbau der Kinderfürsorge in das neue System der Armenpflege ging es darum, nicht nur die unmittelbar hilfsbedürftigen, sondern alle armen Kinder, auch vorbeugend, zu erfassen. Kinderfürsorge war also nun auch vorbeugende Armenpflege (Scherpner 1966, 100).

Arbeitserziehung

Im Mittelpunkt der Hamburgischen Armenkinderfürsorge stand ein umfassendes Armenschulsystem, das Arbeiterausbildung, Erwerbsarbeit und Lehrschule miteinander verband und durch Abend- und Sonntagsschulklassen ergänzt wurde.


Das Neue des Hamburger Modells war, dass man hier den ersten Versuch unternahm, die Kinder- und Jugendfürsorge aus der Armenfürsorge herauszunehmen und als ein eigenes Gebiet gesellschaftlicher Hilfeleistung zu erkennen und zu organisieren (Scherpner 1966, 110).Die Armenkinder wurden der Schule unterstellt und der Erziehungsbehörde zugeordnet. Der Ansatz zu einer neuen Organisation der Kinderfürsorge war damit gegeben. Voght verwies darauf, dass die Aufgaben der Kinderfürsorge „himmelweit“ verschieden von denen der Armenpflege waren. Neben den Armenbezirken sollte es ähnlich organisierte Schuldistrikte geben, die unter der Leitung von Mitgliedern der Schuldeputation standen.

Nach Meinung von Scherpner hatten die führenden Männer der Hamburgischen Armenreform eine imposante Leistung vollbracht. Sie hatten die gesamte Fürsorge für Kinder- und Jugendliche unter der Leitung einer einzigen Behörde zusammengefasst und planmäßig nach einheitlichen erzieherischen Gesichtspunkten organisiert (Scherpner 1966, 116).


Die öffentliche Fürsorge, die bisher von der städtischen Obrigkeit oder den Kirchen durchgeführt wurde, erhielt eine weitere Ausprägung. Eine Einzelperson engagiert sich und errichtet z. B. ein Waisenhaus bzw. eine Anstalt für arme Kinder. Im Mittelpunkt dieser neuen Konzeption steht der Erziehungsgedanke, d.h. die Vorbereitung auf den konkreten Alltag. Kinderfürsorge sollte nicht mehr der Armenfürsorge unterstellt werden, sondern einer Erziehungsbehörde.

2.3.3 Rettungshausbewegung/Rauhes Haus in Hamburg: Johann Hinrich Wichern (1808–1881)


Will man in einem Kinderheim sinnvoll pädagogisch arbeiten, muss man es nach Kleingruppen, ähnlich einer Familie organisieren. Wann fand diese Erkenntnis Eingang in das pädagogische Denken? Was schätzen Sie?

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts engagierten sich bedeutende Persönlichkeiten im Bereich der Kinderfürsorge.

Christian Heinrich Zeller

Aus der Erweckungsbewegung bzw. der süddeutschen Rettungshausbewegung entwickelte Christian Heinrich Zeller (1779–1860) die Idee der Familienerziehung. Die Erziehungsanstalten sollten die Familie ersetzen, und dies konnten sie nur, wenn sie selbst wie Familien organisiert waren.

Johannes Falk

Johannes Falk (1768–1826) widmete sich der Erziehung in Pflegefamilien und entwickelte ein entsprechendes Konzept.

Von besonderer Bedeutung ist das Werk von Johann Hinrich Wichern (1808–1881), dem Begründer der Inneren Mission. Die von ihm gegründete Einrichtung nannte er „Rauhes Haus“. Seine Vorstellungen von Kinder- und Jugendfürsorge verbreiteten sich in ganz Deutschland (Giesecke 1997, 73–102; Niemeyer 2010, 45–77).


Wicherns Konzept beinhaltete folgende Punkte:1. Die Erziehung in einem Erziehungsdorf musste freiwillig geschehen. Sie durfte nicht als Strafe angesehen werden. Deshalb mussten die Eltern in einem Aufnahmekontrakt die elterlichen Rechte auf die Anstalt übertragen.2. Sein Plan war, ein Erziehungsdorf mit kleinen Familienhäusern aufzubauen. Jede Familie umfasste 10–12 Kinder, geleitet von einem erwachsenen elterlichen oder geschwisterlichen Freund. „Das Leben in dieser Rettungsanstalt sollte weniger das Leben in einer Familie darstellen, als vielmehr das Zusammenleben mehrerer Familien.“ (Scherpner 1966, 140)3. Ziel der Rettungsarbeit war es, das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern wieder zu ordnen und auf die Rückkehr des Kindes in das Elternhaus hinzuarbeiten. Aus dieser Aufgabe erwuchsen Besuchs- und Beratungstätigkeiten außerhalb des Hauses.4. Geleitet wurden die Familiengruppen von Brüdern, die ebenfalls im Rauhen Haus ausgebildet wurden.

Das Erziehungssystem des Rauhen Hauses, das bis in jedes Detail auf die individuelle Pflege und Behandlung eines jeden Zöglings abgestellt war, hatte sich bewährt (Scherpner 1966, 148).

2.3.4 Kindergartenbewegung: Wegbereiter und Friedrich Fröbel (1782–1852)


„Wollen wir tüchtige Kinderschulen haben, dann müssen wir erst besser, tiefer ausgebildete Erzieherinnen haben und nicht jede Person, die sich als Erzieherin anmeldet, sogleich als solche annehmen.“

Dieser Satz ist bei der Suche nach qualifiziertem Personal im Kindergarten hoch aktuell. Was schätzen Sie, zu welcher Zeit wurde diese Forderung und von wem gestellt?

 

Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1821)

1. Wegbereiter: Die ersten Ansätze für eine Kleinkindererziehung findet man bei Johann Friedrich Oberlin (1740–1826). Er initiierte 1770 so genannte Strickschulen. Neben Oberlin ist Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1821) zu nennen, dem es vor allem um die mütterliche Erziehung in der Wohnstube ging. Pestalozzi hat die Rettungshausbewegung und damit Wichern, Zeller, Falk u. a. entscheidend beeinflusst. Ohne den Begriff Sozialpädagogik zu verwenden, haben Pestalozzi und Wichern mit ihren Schriften die Ideengeschichte der Sozialpädagogik bis in die Gegenwart hinein geprägt (Engelke et al. 2014, 97–111; Thole 2012, 32–34).

Julius Fölsing (1818–1882)

Einer der bedeutendsten Vorschulerzieher des vorigen Jahrhunderts war der Lehrer Julius Fölsing (1818–1882). Er richtete 1843 in Deutschland eine Kinderschule für Kinder höherer Stände ein. An diese Schule schloss er gleichzeitig eine Ausbildungsstätte für Erzieherinnen an.

Theodor Fliedner (1800–1864)

Einen besonders starken Einfluss auf die Entwicklung der Kleinkinderschulen und die Ausbildung von Erzieherinnen nahm Theodor Fliedner (1800–1864). Er richtete 1836 in Kaiserswerth eine Kleinkinderschule und eine Diakonieanstalt ein, denen er ein evangelisches Seminar für Kleinkinderlehrerinnen angliederte. Fliedner war im Gegensatz zu Wichern der Meinung, dass die Leitung von Kleinkinderschulen nicht von Männern, sondern von Frauen übernommen werden sollte.



Fliedners Konzept der Kleinkinderlehrerinnenausbildung gab der weiteren Entwicklung wichtige Impulse.

Ergänzung zur Familienerziehung

2. Friedrich Fröbel (1782–1852): Etwa zur gleichen Zeit wie Fliedner versuchte Friedrich Fröbel (1782–1852) ein Konzept für eine frühkindliche Erziehung auszuarbeiten. Er ging davon aus, dass die häusliche Erziehung allein für die Entwicklung des Kindes nicht ausreichte. Vielmehr müssten die Kinder schon früh in der Gemeinschaft Gleichaltriger ihre Erfahrungen sammeln und ihre Umwelt erforschen. Fröbel wollte die Familienerziehung erweitern und ergänzen.

Kindergarten

„1840 legte Fröbel den Entwurf eines Plans zur Begründung und Ausführung eines allgemeinen deutschen Kindergartens vor ... Was Fröbel mit dieser Wortschöpfung im Sinn hatte, umschrieb er so: Wie in einem Garten unter Gottes Schutz und unter der Sorgfalt erfahrener, einsichtiger Gärtner im Einklang mit der Natur, so sollen hier die edelsten Gewächse, Menschen, Kinder als Kleine und Glieder der Menschheit, in Übereinstimmung mit sich, mit Gott und der Natur erzogen werden.“ (Metzinger 1993, 47)

drei Funktionen

Nach Fröbel erfüllte der Kindergarten drei Funktionen:

■ In ihm werden Kinder im Vorschulalter durch angemessene Beschäftigung und durch Spiele allgemein gefördert und somit für die Schule und für die weiteren Lebensphasen vorbereitet.

■ Der Kindergarten selbst ist eine Ausbildungsstätte für junge Männer und Frauen, in der sie für Erziehungsaufgaben ausgebildet werden.

■ Ferner soll geeignetes Spielmaterial entwickelt werden und die fachliche Diskussion durch die Herausgabe einer Zeitschrift gefördert werden (Müller 1985, 88).

Für Fröbel war es entscheidend, dass die MitarbeiterInnen der Kindergärten gut ausgebildet wurden. Hierfür entwarf er ein Konzept, das er auch selbst umsetzte. Nach seiner Meinung kamen für den Beruf nur Frauen in Frage, weil er für die Altersstufe der 3- bis 6-Jährigen den mütterlichen Umgang für angemessen hielt. Dieser Gedanke gilt nahezu ausschließlich noch bis heute.


Mit der Ausbildung von Kleinkinderlehrerinnen (Fliedner) und der Ausbildung von Kindergärtnerinnen (Fröbel) war für die Kleinkindererziehung neben dem Lehrer ein neuer Berufszweig entstanden. Darauf aufbauend entwickelte sich später das Berufsbild der Jugendleiterin (seit 1911).Der führende Pädagoge der Romantik, Fröbel, gilt in Verbindung mit Pestalozzi, bei dem Fröbel eine Zeit lang hospitiert hatte, als Begründer nicht nur der Kindergartenpädagogik, sondern auch der Sozialpädagogik.

Die Ideen von Fröbel fanden großen Anklang, erweckten aber auch Misstrauen. So wurde 1851 in Preußen der Kindergarten verboten – allerdings aufgrund eines Missverständnisses, weil Fröbel mit seinem sozialistischen Namensvetter Julius Fröbel verwechselt wurde. 1860 wurde dieses Verbot wieder aufgehoben, und seit dieser Zeit verbreitete sich der Kindergarten in ganz Deutschland.

Henriette Schrader- Breymann

Einen entscheidenden Beitrag zur Verbreitung leistete die Nichte Fröbels, Henriette Schrader-Breymann. Sie gründete in Berlin das Pestalozzi-Fröbel- Haus, das als „Mutterhaus“ der Erzieherinnenausbildung in Deutschland betrachtet werden kann. Statt der Bezeichnung Kindergärtnerin wünschte sie sich den Namen „Volkserzieherin“ der sich allerdings nicht durchsetzte.

2.3.5 Kirchliche und staatliche Kinderfürsorge

zwei Ausbildungskonzeptionen

Kirchliche Kinderfürsorge: Zur Zeit des Verbots der Kindergärten war es vor allem die evangelische Kirche, die sich verstärkt um die Kleinkindererziehung bemühte. Im ausgehenden 19. Jahrhundert gab es bereits 2.000 von Diakonissinnen geführte Kleinkindereinrichtungen. Vorbild für die Ausbildung war das Konzept von Fliedner, das dieser für die Ausbildungsstätte in Kaiserswerth entwickelt hatte. Mit dem Engagement der evangelischen Kirche im Kleinkindbereich entstanden zwei deutlich zu unterscheidende Ausbildungskonzeptionen: die diakonisch-sozial-christlich eingestellte Kleinkinderschule und der pädagogisch-orientierte Kindergarten nach Fröbel (Metzinger 1993, 82).

Im Vergleich zur evangelischen Kirche war das Bemühen der katholischen Kirche um die Kleinkindererziehung eher gering. Die Leitung in den Kleinkinderbewahrungsanstalten wurde von Ordensschwestern übernommen. Man kann zusammenfassend sagen, dass die Mehrzahl der Kleinkindereinrichtungen im 19. Jahrhundert von Organisationen der beiden Kirchen getragen wurden.

Schutzmaßnahmen

Staatliche Kinderfürsorge: Der liberale Rechtsstaat hielt sich in der Fürsorgearbeit weitestgehend zurück und überließ den freien, privaten und kirchlichen Trägern die Initiative. Allerdings wurde der Staat um die Mitte des 19. Jahrhundert gezwungen, seine Zurückhaltung aufzugeben. Anlass war eine militärische Musteruntersuchung junger Männer im rheinischen Industriegebiet. Bei dieser Untersuchung stellte man schwere Gesundheitsschäden fest, die man auf die weit verbreitete Kinderarbeit zurückführte. Auf diesen Befund gingen die Schutzvorschriften über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken (1839) zurück. Die gewerbliche Arbeit für Kinder unter 9 Jahren und die Nacht- und Sonntagsarbeit für 9- bis 12-Jährige wurde gänzlich verboten und die Arbeitszeit der Jugendlichen auf zwölf, später auf zehn Stunden beschränkt. Weitere Schutzmaßnahmen waren:

■ Pflegekinderschutz (1840): Die Lage der Pflegekinder stellte ebenfalls einen Notstand dar, den es galt, durch polizeiliches Eingreifen abzustellen. Der Pflegekinderschutz wurde zu einer fürsorgerischen Maßnahme, die nicht nur Schäden verhindern, sondern die Lage der Kinder verbessern sollte.

■ Reichsstrafgesetzbuch (1871): Es regelte die Strafmündigkeit von Kindern. Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr waren nicht strafmündig. Die 12- bis 18-Jährigen sollten nur bedingt strafmündig sein.

■ Zwangserziehung: Die strafunmündigen Kinder unter 12 Jahren, die erhebliche Straftaten begangen hatten, wurden in Erziehungs- oder Besserungsanstalten untergebracht, was man heute Fürsorgeerziehung nennt.

„Das Neue an dieser Erziehung der Fürsorge für verwahrloste Kinder war, daß die Entscheidung über ihre Unterbringung in Anstalts- oder Familienpflege in die Hand des Vormundschaftsgerichtes [...] gelegt wurde und daß, organisatorisch noch wichtiger, eine eigene Erziehungsbehörde ihre Erziehung lenkte und überwachte. Damit trat der Staat unmittelbar in das Gebiet der Jugendfürsorge und der Erziehung der gefährdeten und verwahrlosten Jugend ein.“ (Scherpner 1966, 163)

Kinderschutzgesetze

Die wichtigsten Entwicklungsstufen der Kinderschutzgesetzgebung hat Wolf zusammengestellt.

1839 Preußisches Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter: Kinderarbeit in Berg- und Hüttenwerken verboten; dreijähriger Schulunterricht garantiert.

1854 Verordnungen in Bayern zum Schutz schulpflichtiger Kinder unter 10 Jahren: täglich bis maximal neun Stunden Arbeitszeit.

1861 Gewerbegesetz in Sachsen: Kinder unter 12 Jahren dürfen in keinem Gewerbe arbeiten.

1862 Jugendschutzbestimmungen zur Gewerbeordnung in Baden und Württemberg: Kinder unter 12 Jahren dürfen nicht im Gewerbe eingesetzt werden.

1869 Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes: Kinder unter zehn Jahren dürfen nicht, Kinder zwischen 10 und 12 Jahren täglich maximal sechs Stunden gewerblich beschäftigt werden.

1878 Kontrolle der Kinderarbeit durch die Gewerbeaufsichtsämter.

1900 Gewerbeordnung: schulpflichtige Kinder dürfen bis auf wenige Ausnahmen nicht gewerblich beschäftigt werden (d.h. niemand unter 14 Jahren).

1903 Gesetz über Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben: generelles Verbot der Kinderarbeit in Fabriken (Wolf 1977, 68).


Die Konzeptionen von Wichern, Fliedner und Fröbel haben einen entscheidenden Einfluss auf die Erziehung von Kindern ausgeübt. Ausgebildete Erzieherinnen sollten die Kinder auf die Schule und den neuen Lebensabschnitt vorbereiten. Das Neue an diesen Konzepten war:

1. die Ausbildung von Kleinkinderlehrerinnen/Kindergärtnerinnen und

2. die positive Einstellung zu den Kindern.


4. Praxis-Situation: Berühmte Persönlichkeiten

Sie studieren an der Universität Soziale Arbeit. In der Mittagspause gehen Sie zur Mensa, holen sich Ihr Essen und suchen einen Platz. „Um diese Zeit sollte ich nicht in die Mensa gehen. Es ist viel zu voll und einen Platz finde ich auch nicht“, geht es Ihnen durch den Kopf. Sie finden schließlich einen freien Platz. An dem Tisch sitzen bereits drei Studenten. Sie unterhalten sich über berühmte Pädagogen (Pestalozzi, Herbart, Humboldt, Schleiermacher u. a.). „Studenten, 1. Semester, Geschichtsseminar über Pädagogen“, geht es Ihnen durch den Kopf. Während Sie sich Ihrem Essen widmen, wendet sich ein Student an Sie: „Und

Du, was studierst Du?“ Mit vollem Mund bringen Sie hervor: „Soziale Arbeit.“ Neugierig fragt der Student weiter: „Gibt es bei Euch auch so berühmte Persönlichkeiten wie bei uns in der Pädagogik?“ Was würden Sie antworten?

2.4 Wohlfahrtspflege für Kinder im 20. Jahrhundert

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