Das nationalsozialistische Wien

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Pramergasse 10: eine Reitmanege als „Sammelstelle“

Das mächtige Neorenaissance-Haus Pramergasse 10, der „Lohner-Hof“, ist heute ein schön restauriertes Gebäude, errichtet 1884 von Alois Sallatmeyer als Zinshaus für den Karosseriefabrikanten Franz Lohner, dessen Porträt, so der Dehio, im Keilstein des hohen Rundbogenportals zu sehen sein soll. Nach dem Tod seines Vaters Heinrich Lohner leitete Franz Lohner zusammen mit seinem Bruder Jakob die legendäre Wagenfabrik der Familie in der nahen Porzellangasse 2. Das Besondere der Lohnerwerke, die später nach „Neuleopoldau“, heute Donaufeld, übersiedeln: Die gesamte Produktion – von der Planung bis zur fertigen Pferdekutsche – erfolgt im Haus. Um 1900 steigt man auf den Bau von Automobilen um, einer der Mitarbeiter ist Ing. Ferdinand Porsche.

Die Pramergasse, Querverbindung von der Porzellangasse zum Donaukanal, hieß ursprünglich Kothgasse, und der Name war kein Zufall, doch das ist 1938 schon längst vergessen. Nur ein einziges Detail verrät dem Wissenenden noch, dass der „Lohner-Hof“ während des Novemberpogroms eine zentrale Rolle spielte: Oberhalb des Rundbogenportals ist im Bogenfeld des Torblatts ein großer geschnitzter Pferdekopf zu sehen – letzte Reminiszenz daran, dass sich im Hoftrakt der Anlage seit dem Jahr 1913 die Reitschule der Reiterstaffel der Wiener Sicherheitswache befindet.

Wir haben Glück: Zufällig ist der Rauchfangkehrer im Haus und er öffnet uns das Eingangstor, sodass wir die Möglichkeit haben, einen Blick hinter das Haus zu werfen. Von der ehemaligen Reitschule keine Spur mehr, ein modernes Wohnhaus hat sich vor jede Erinnerung geschoben.

Für Ernst Benedikt und viele andere verhaftete Juden wird die Reitschule im November 1938 zur ersten Leidensstation. In seinen Erinnerungen berichtet er von der Ankunft: „Wir eilten unter dem brüllenden Zuruf der SS-Leute – ‚Tempo, Tempo!‘ – in das Gebäude, das uns als Kerker dienen sollte. Durch einen ziemlich breiten Eingang rannten wir geradeaus und kamen in einen Riesensaal, der in diesem Augenblick noch völlig leer war. Sofort wurden wir – etwa fünfzehn Leute – an die Wand gestellt und mussten in tiefer Kniebeuge mit ausgestreckten Armen unsere Personaldaten mitteilen – wohl eine der seltsamsten Positionen, die für solche Zwecke ausgesucht werden können. Und merkwürdigerweise wir alle – Nichtturner von Beruf und in begreiflicher Erregung – wir taten das Befohlene – der ältere Herr, der Mensch mit der Krampfader, der Philosoph wie der Arzt. Sie konnten es, weil eben die Angst – wir sollten dies noch gut erfahren – ein starker Motor ist. […] Die ganze Nacht, bis in den Morgen dauerten diese Prozeduren mit immer neuen Abteilungen und ich hatte Zeit genug, um das Milieu zu besichtigen, in das von Minute zu Minute mehr Menschen kamen, alle sichtlich unter dem Eindruck des ‚Tempos‘. Also totenblaß, nach Atem ringend, von Angst erschüttert. Der Raum, in dem wir uns befanden, war ein Saal von gewaltigen Dimensionen. Es war ein Rechteck, groß etwa wie der Saal der Hofstallungen und der Vergleich stimmte fast in jeder Richtung, denn wir waren in der Reitmanege der Polizei, in der Pramergasse im neunten Bezirk gelegen. Dünner Sand bedeckte den Boden, ein mächtiges Tor war jenem gegenüber, durch dessen Öffnung wir gekommen waren. Ganz in der Höhe des immerhin etwa zwei Stock hohen Raumes waren die Fenster angebracht und glücklicherweise zum größten Teil während der ganzen Zeit unserer Haft geöffnet. Es war ein milder Novembertag gewesen und auch die Nacht war mild, wir froren nicht und hatten ziemliche Freiheit zu tun, was wir wollten, da das immer dichter werdende Gedränge jede Disziplin im ernsterem Sinne verhinderte. Wir waren schließlich 2.800 Menschen – so lautete die Schätzung, die allgemein verbreitet war in dieser Menge.“


Nichts erinnert mehr an die „Epidemie des Irrsinns“ im November 1938: das mächtige Portal des „Lohner-Hofs“ mit dem Porträt des Karosseriefabrikanten Franz Lohner.

Ernst Benedikt nützt die Gelegenheit, um mit den „Mithäftlingen“ über ihre Erlebnisse zu reden, und muss erkennen, dass ein wahrer „Glücksstern“ über ihn gewaltet hatte. So erfährt er, dass es in diversen Kellern zu den „infamsten perversen Szenen“ gekommen sei, auch „homosexuelle Excesse“ seien geschehen, viele in „diesen Marterkammern“ stundenlang zu dem bei der SS beliebten „Wippen“ gezwungen worden. Der Aufenthalt im Reitsaal der Pramergasse wird zur „Epidemie des Irrsinns“: Der folgende Tag und die folgende Nacht vergehen, ohne dass die Festgehaltenen etwas zu essen bekommen, ein ungenießbares Stück Brot ist „offenkundig“ mit „irgendeiner Droge“ versetzt, „um unseren Widerstand zu lähmen und unseren Willen zu vergewaltigen“. Erst nach 48 Stunden werden Semmeln verteilt, sie werden den Verteilern von der „dichten Schar der Tobenden“ förmlich aus den Händen gerissen, der „eiserne Hohn der von der Estrade niederblickenden Beobachter vervollständigte die Hässlichkeit der Szene“.

Vor der Überstellung in die Kenyongasse gibt es schließlich noch eine Tasse Tee und ein Stück Weißbrot, dann geht es zu den Lkws, wieder beginnt das „Regime des Tempos“: „Wer spricht, wird erschossen, wer zum Fenster geht, wird erschossen, wer nicht gehorcht, wird erschossen.“

Die berittene Abteilung der Wiener Sicherheitswache, 1938 noch eine Stütze der Polizeiverwaltung, hat im nationalsozialistischen Wien keine Zukunft: 1940 / 41 wird sie schrittweise aufgelöst, in der ehemaligen, nunmehr zur Garage umfunktionierten Reitmanege, parken die Jeeps und Lkws der U.S. Army.


Grundlage für einen „lebenswichtigen Unterricht“: „Die einfachen Zeichnungen werden sich dem Gedächtnis des Schülers weit besser einprägen als der beste Vortrag.“ (Aus dem Geleitwort Sepp Burgstallers)

Jüdinnen müssen nackt tanzen

Charakteristisch für das Novemberpogrom ist das brutale Vorgehen gegen jüdische Frauen. Zum Schauplatz von Misshandlungen wird u. a. die Brigittenau. In einem großen Saal haben SS-Männer etwa 200 Jüdinnen zusammengetrieben. Plötzlich flammt ein Vorschlag auf, der begeisterte Zustimmung findet: Die Jüdinnen sollen sich ausziehen und nackt auf den Tischen tanzen. Unter dem Gejohle der SS-Männer müssen sich die „Judenhuren“ ihrer Kleider entledigen, auf die Tische steigen und zu tanzen beginnen. Eine der Frauen weigert sich, dem Befehl nachzukommen – sie wird gepackt und auf einen der Tische gebunden, dann müssen die anderen Frauen an der Unglücklichen vorbeidefilieren und ihr ins Gesicht spucken.

„Ich möchte kein Jude in Deutschland sein“

Die Maßnahmen zur Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung gehen nach dem Novemberpogrom unvermindert weiter: Juden wird die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen untersagt, am 28. Dezember hebt Göring den Mieterschutz für Juden auf – damit soll der jüdische Hausbesitz endgültig „arisiert“ werden. Am 30. April 1939 folgt das Gesetz über die „Mietverhältnisse mit Juden“, das die Grundlage dafür wird, dass die meisten Juden ihre Wohnungen verlassen müssen.

„Zeichenskizzen für den Schulgebrauch“: Sepp Burgstallers Einführung in „Erblehre, Rassenkunde und Bevölkerungspolitik“, 1941.

Mit gnadenloser Konsequenz wir die Ausschließung von Jüdinnen und Juden aus dem Berufsleben betrieben. Mit 31. Jänner 1939 verlieren die Zulassungen für jüdische Zahnärzte, Veterinäre und Apotheker ihre Gültigkeit, jüdischen Privatgelehrten, Künstlern, Schriftstellern, Handelsagenten und Maklern wird die Befreiung von der Umsatzsteuer entzogen, jüdische Musiker und Komponisten werden aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen. Auch gegen die jüdischen Familien geht man vor: Ihnen wird die Kinderermäßigung entzogen, jüdische Familienväter werden in die höchste Steuerstufe von Ledigen transferiert. Wer umziehen will, muss eine Steuer von 100 Prozent auf den Wert der mitgeführten Gegenstände zahlen. Eine neue Steuer oder besser Kontributionszahlung wird von Hermann Göring unmittelbar nach dem Novemberpogrom erfunden: die „Judenvermögensabgabe“, kurz „Juva“ genannt, die bis zum 15. November 1939 zu zahlen ist. An Zynismus ist diese Göring’sche Perfidie, die von Hitler und Goebbels gedeckt wird, nicht mehr zu überbieten: Als „Sühneleistung“ für die „feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk“ wird eine Zahlung von einer Milliarde Reichsmark verhängt, die sich später noch auf 1,25 Milliarden erhöhen wird. In der diesbezüglichen „Besprechung über die Judenfrage“ am 12. November erklärt Göring sein Vorhaben: „Ich werde den Wortlaut wählen, dass die deutschen Juden in ihrer Gesamtheit als Strafe für die ruchlosen Verbrechen usw. usw. eine Kontribution von 1 Milliarde auferlegt bekommen. Das wird hinhauen. Die Schweine werden einen zweiten Mord so schnell nicht machen. Im übrigen muss ich noch einmal feststellen: Ich möchte kein Jude in Deutschland sein.“

Hitler braucht dringend Geld für die Aufrüstung der Wehrmacht, die Juden sollen sie mitfinanzieren. Auch wer sein Geld in einer Stiftung angelegt hat, bleibt daher nicht verschont: Mit Erlass des Reichsinnenministeriums vom 8. Mai 1939 werden Juden vom Genuss der Stiftungsmittel allgemeiner Stiftungen oder solcher für Juden und Nichtjuden gegründeter ausgeschlossen, rein jüdische Stiftungen dürfen nur mehr für den Zweck weiter bestehen, die jüdische Auswanderung zu unterstützen bzw. jüdische Fürsorgeeinrichtungen wie Krankenhäuser und Schulen zu unterhalten.

 

Reichsstatthalter Arthur Seyß-Inquart wartet mit einer weiteren Schikane auf: Mit einem Gesetz über die Änderung von Familien- und Vornamen, verlautbart am 24. Jänner 1939, verfügt der „Anschluss“-Kanzler, dass Jüdinnen und Juden die zusätzlichen Vornamen „Sara“ bei den Frauen und „Israel“ bei den Männern in ihren Kennkarten und anderen offiziellen Dokumenten eintragen müssen, die Frist dafür erstreckt sich bis zum 1. April 1939. Auch für den Fall, dass manche Juden die Vornamen nicht eintragen werden, hat man vorgesehen: Die Anführung der Vornamen wird im Rechts- und Geschäftsverkehr zur verpflichtenden Maßnahme erklärt.

Bis zum Kriegsausbruch am 1. September 1939 werden es insgesamt 250 antijüdische Gesetze sein, mit denen die jüdische Bevölkerung ausgegrenzt, diskriminiert, in ihrer Mobilität eingeschränkt und entrechtet wird.

DIE VERWANDLUNG DER STADT UND IHRER MENSCHEN

Es verwandelte sich die Stadt und es verwandelten sich die Menschen: Aus Ärzten wurden Mörder, aus Polizeibeamten willfährige Folterknechte, aus wohlbestallten Richtern Handlanger der Nazi-Todesmaschine, aus der Hausfrau von nebenan eine gefürchtete Denunziantin.

Die Nazis halten sich zugute, dass sie die Wiener aus ihrem etwas lethargischen Alltagstrott gerissen haben, jetzt wollen sie zeigen, dass es auch zackiger geht. Einer jener, der den Wienern die Gemütlichkeit austreiben will, ist der Ratsherr und umtriebige Kulturfunktionär Hans Berner, ein Freund von Josef Bürckel und Mitglied der NSDAP seit 1930. In seiner Broschüre Reichsstadt Wien zieht er gegen dieses „Zerrbild“ des Wieners zu Felde, das von den „Juden und ihren separatistischen Helfershelfern“ bewusst propagiert werden würde. Der Wiener sei eben nicht nur der „blöd lächelnde und idiotisch witzelnde Backhendel fressende und Heurigen sumpfende ‚liebe Kerl‘“, sondern wisse sehr wohl, was seine Pflicht ist, „wenn es um die großen Belange von Volk und Reich geht“. Ja, der Wiener wisse „nicht nur zu leben, sondern auch zu sterben“, wie er das als Soldat des „Großdeutschen Reiches“ an „allen Fronten des großdeutschen Freiheitskampfes“ auch beweise.

Berner, der später in die Parteizentrale nach München übersiedelt, spielt eine besonders unrühmliche Rolle im „Kesseltreiben“ gegen den Lehrer und Schriftsteller Max Stebich, der nach dem „Anschluss“ als Geschäftsführer der Reichsschrifttumskammer (RSK) Landesleitung Österreich den Aufbau der RSK in der „Ostmark“ organisieren soll, auf Betreiben Berners und anderer „Alter Kämpfer“ jedoch fristlos entlassen wird.

Gauleiter Odilo Globocnik spricht auf einer der zahlreichen Kundgebungen im Sommer 1938. Foto: Heinrich Hoffmann.

Aktiv strahlende Augen, ein kleines quadratisches Oberlippenbärtchen und der strenge Seitenscheitel: Die Attribute des „Führers“ werden zum modischen Vorbild.

Alle wollen Führer sein

Jeder kann jetzt zu einem „Führer“ werden und so ein wenig Anteil haben an Glanz und Macht des einen strahlenden Übermenschen. Wer „Führer“ ist, ist kein Knecht mehr, sondern Herr, kein Sklave, sondern „Tatmensch“. Er darf sich eins fühlen mit den neuen Machthabern, die durch ihr zackig-resolutes Auftreten den Eindruck vermitteln, dass es für sie nichts Unmögliches gibt. Ein Führeramt vermittelt Sozialprestige, schmeichelt der Eitelkeit, man spielt mit in der neuen Welt. Es gibt wieder Hoffnung für die eigene Zukunft, an die man schon nicht mehr glauben mochte. So haben die „Führermacher“ jetzt Konjunktur und bald macht sich ein Heer aus großen und kleinen und kleinsten „Führern“ in Stadt und Land breit, kein Bereich des Lebens, der nicht durch das Führerprinzip eine Neuordnung erfährt. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt: Tausende Positionen in Wirtschaft und Verwaltung, in Kultur und Wissenschaft werden mit „Führern“ und auch mit „Führerinnen“ besetzt, vom „Betriebsführer“ bis zur „Verwaltungsführerin“, vom „Sportgauführer“ bis zum „Gaukriegerführer“, vom „Jungbannführer“ in der Hitlerjugend bis zu den zahllosen „Gefolgschafts“- und „Kameradschaftsführern“.

Wer „Führer“ sein will, muss auch sein körperliches Erscheinungsbild anpassen, es gilt, sich die Attribute des „Führers“ anzueignen. Gerne wäre man auch so eine unbeugsame „Stahlnatur“, wie Hitler zu sein vorgibt, und so lassen sich die kleinen „Führer“ kleine quadratische Oberlippenbärtchen wachsen und üben sich in einer markigen Sprechweise. So wie ihr großes Vorbild wollen sie auch durch ihren Blick beeindrucken, das aktiv strahlende Auge kündet ja in der Sicht der Faschisten von der Kraft des Übermenschlichen, von jenem Mythischen, das Privileg des „Führers“ ist und ihn zur Herrschaft prädestiniert. Alle kennen die Auftritte Hitlers und sein Bestreben, durch das Schweifen des prüfenden, unerbittlichen Blickes die Zuhörer vor ihm in seinen Bann zu ziehen.

Mit der Ernennung zum „Führer“ wird der damit Ausgezeichnete über die „Masse“ hinausgehoben, er kann sich als „Erwählter“ fühlen, als jemand, der für die große „Lichtgestalt“ die Last der Verantwortung mitträgt.

Das „Führerprinzip“ gibt die Möglichkeit, die Machtverhältnisse in der Gesellschaft neu zu ordnen. Die Qualifikationen von gestern – Bildung, Leistung – zählen nur mehr wenig, „Führer“ kann auch der brutale Schläger, die verkrachte Existenz, der machtgeile Sadist werden. Jetzt ist die Stunde all jener gekommen, die glauben, zu kurz gekommen zu sein, und es ist die Stunde der „soldatischen Männer“ (Klaus Theweleit), die ihre Gewalt- und Vernichtungsfantasien bald in die Tat umsetzen werden können. Die Führerämter korrumpieren das Gewissen, viele verlieren den Sinn für Recht und Unrecht. Es ist die Menschlichkeit, die im Wettlauf der vielen „Führer“ auf der Strecke bleibt.

Verkehrsplan des „Reichsgaues Wien“. „Groß-Wien“ ist flächenmäßig knapp dreimal so groß wie das heutige Wien und reicht im Süden fast bis Baden, im Westen bis weit in den Wienerwald hinein.

Groß-Wien und die NS-Bürokratie

Mit der Neugliederung der „Ostmark“ am 24. Mai 1938 wird Wien zum „Reichsgau Wien“ erklärt. Im Oktober 1938 wird das Stadtgebiet durch die Eingemeindung von 98 niederösterreichischen Gemeinden auf 1.218 km2 erweitert, die Einwohnerzahl von „Groß-Wien“ steigt damit auf 2,1 Millionen Menschen, Orte wie Mödling, Klosterneuburg oder Korneuburg sind nun ein Teil von Wien, das in 26 Bezirke geteilt wird. Doch damit nicht genug: Die Nazis überziehen Wien mit ihrer ausgeklügelten Bürokratie, die das Fundament der Diktatur bildet. Die Bezirke werden in zehn „Kreise“ geteilt, wobei der Kreis I die Innenstadt sowie die Bezirke Mariahilf, Neubau, Josefstadt und Alsergrund umfasst. Jeder Kreis wird von einem „Kreisleiter“ geführt, dem ein „Organisationsleiter“ zur Seite steht. Der Sitz der Kreisleitung I befindet sich in der Spiegelgasse 21, Kreisleiter ist ab Oktober 1943 der Lehrer Hans Arnhold, ein „alter Kämpfer“, der in der illegalen Zeit bereits das Amt eines stellvertretenden Gauleiters ausgeübt hat und dem Stab Bürckels bei der Vorbereitung der „Volksbefragung“ vom 10. April 1938 angehört. Arnhold wird zum Ratsherrn ernannt und später „Beauftragter für die Koordination der Aufgaben des Wehrmachterkundigungseinsatzstabes und der Organisation Todt für die Planung des Südostwalles“.


Um die Bevölkerung noch enger und systematischer mit Herrschaft und Ideologie durchdringen zu können, wird jeder Kreis in „Ortsgruppen“ geteilt, im Kreis I sind es z. B. 32 Ortsgruppen, im Kreis IX, zu dem Klosterneuburg gehört, 39. Jede Ortsgruppe, die nicht mehr als 1.500 Haushalte umfassen soll, wird von einem „Ortsgruppenleiter“ geführt. Die Ortsgruppe gliedert sich wiederum in acht „Zellen“, die jeweils von einem „Zellenleiter“ geführt werden. Ihm unterstellt sind die „Blockleiter“ oder „Blockwarte“, wobei sich eine Zelle in vier bis acht Blocks gliedert. Ein Blockwart, der rangniedrigste Parteifunktionär, betreut etwa 40 bis 60 Haushalte, er ist jener Mann, der unmittelbar an der „Front“ steht und für die Menschen seines Bereichs der erste Ansprechpartner ist. Die Blockwarte einer Zelle treffen einander zu gemeinsamen Besprechungen, bei denen auch der Zellenleiter anwesend ist, der wiederum an den Ortsgruppenleiter berichtet.

Der Vorteil dieser fein verästelten hierarchischen Struktur: Für jeden, der mitmachen will, findet sich auch ein Amt, in dem er „Leiter“ oder „Führer“ sein und sich wichtig machen kann.

Die Stadterweiterung wird am 15. Oktober 1938 mit einer Triumphfahrt von Gauleiter Odilo Globocnik gefeiert. Zum Empfang vor dem Rathaus in Perchtoldsdorf gibt es für den neuen Herrn ein Glas Wein. Foto: Heinrich Hoffmann.

Versprechen werden nicht gehalten

Groß-Wien soll Schauplatz einer gigantischen Bautätigkeit werden, pompöse Pläne werden gewälzt: Nicht weniger als 60.000 Wohnungen in großen Siedlungsanlagen sollen errichtet werden. Vizebürgermeister Thomas Kozich (1901 – 1983), der als ehemaliger Spieler der Vienna auch „Sportgauführer“ Wiens ist, kündigt im Herbst 1938 das Programm an: „Lichte, sonnige Räume müssen geschaffen werden, die einen behaglichen Aufenthalt ermöglichen und eine günstige Entwicklung der heranwachsenden Generation gewährleisten […] das Recht des schaffenden Menschen auf würdige Wohnräume muß in die Tat umgesetzt werden.“ Bürgermeister Hermann Neubacher, bis 1934 Generaldirektor der Gesiba, will den Bau dieser Siedlungen forcieren, muss aber bald erkennen, dass die hochfliegenden Pläne nicht realisierbar sind. Immerhin, er darf den Spatenstich für die Erweiterung der Siedlung Lockerwiese im 13. Bezirk vornehmen, 116 Häuser sollen hier von Architekt Karl Schartelmüller errichtet werden. Als erste „nationalsozialistische Siedlung der Ostmark“ wird im Herbst 1938 die „SA-Dankopfer-Siedlung in Leopoldau“ eröffnet, ein Bauvorhaben, das allerdings noch auf die sozialdemokratische Verwaltung Wiens zurückgeht. Der Völkische Beobachter jubelt am 1. November dennoch: „Wir sehen, wie der sehnsüchtige Drang des deutschen Menschen zum Boden Erfüllung findet in einer Art, die die heimische Landschaft veredelt. Die Haustypen wiederholen sich nicht eintönig, sondern sind reizvoll abgewandelt, um ein harmonisches Gesamtbild zu erzielen.“


Führerpose: die Ankunft Globocniks in Perchtoldsdorf. Foto: Heinrich Hoffmann.

Ausgedehnte Siedlungen sollen vor allem in den neu eingemeindeten Stadterweiterungsgebieten errichtet werden, einige wie die Holzweber-Siedlung am Eichkogel in Guntramsdorf und die Dr. Ley-Siedlung in Ebergassing werden zumindest teilweise gebaut, von den 5.000 geplanten Wohnungen der Holzweber-Siedlung werden knapp 300 fertiggestellt. Am Wienerberg wird der Bau der Siedlung Wienerfeld (Ost und West) begonnen, geplant sind hier 4.000 Wohnungen. Im Juli 1939 kann Bürgermeister Neubacher noch das Richtfest für 202 Häuser feiern, dann bleiben die Bauarbeiten allerdings stecken, bis 1942 sind es nur mehr 53 weitere Häuser, die fertiggestellt werden – der Krieg zwingt zu anderen Prioritäten: Anstatt der „lichten, sonnigen Räume“ werden nun unterirdische Bunkeranlagen gebaut und riesige Geschütz- und Feuerleittürme für die Luftverteidigung. Statt neuer Siedlungen gibt es primitive Barackenlager für Juden und Zwangsarbeiter aus den besetzten Gebieten. Zur Verfügung stehen den „Volksgenossen“ auch die 70.000 Wohnungen, die durch die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung „frei“ geworden sind.

 

Von „Arbeit und Brot“ bis zum „Ehestandsdarlehen“: das große Versprechen des „Führers“ zur Volksabstimmung am 10. April 1938. („Wiener Bilder“, 3. April 1938)