Das nationalsozialistische Wien

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DER BEUTEZUG

Unter jenen Parteigenossen, die nach dem „Anschluss“ aus dem „Altreich“ nach Wien zurückkehren und hier ihr Glück schmieden wollen, ist auch ein Mann namens Johannes Katzler. Der 1900 in Wien geborene „Legionär“ träumt von einer Karriere als Buchhändler, seine Erfahrungen in der Branche sind allerdings mehr als bescheiden: In München war er Mitarbeiter des Zentralverlags der NSDAP Franz Eher, seine Aufgabe war es, diverse Werbebriefe an die österreichischen „Volksgenossen“ zu verfassen; 1933 trat er der SA bei. Johannes Katzler ist ein Mann ohne Skrupel, seine Devise lautet: Jetzt oder nie!

Eine Buchhandlung in bester Lage soll es gleich zum Auftakt sein: der Laden des Juden Richard Lányi. Lányi (1884 – 1942), der 1912 die 1789 gegründete Buchhandlung „Robert Friedländer in der Kärntner Straße 44“ übernommen hat, ist den Nazis schon lange ein Dorn im Auge, er gilt ihnen als Symbolfigur für die „Verjudung“ des Wiener Buchhandels. Sie werfen ihm vor, ein „pornographischer Buchhändler“ zu sein, sein „Vergehen“ besteht allerdings nur darin, in dem der Buchhandlung angeschlossenen Verlag zahlreiche Werke von Karl Kraus publiziert zu haben, außerdem hat Lányi, der auch ein bedeutender Sammler ist, Zeichnungen Egon Schieles, den er persönlich gekannt hat, auf Postkarten vertrieben. Gleich nach dem „Anschluss“ wird die Buchhandlung von einer Meute marodierender HJ-Jugendlicher heimgesucht, Bücher, die der tumben braunen Weltsicht nicht konform gehen, werden auf die Straße geworfen, ein Teil des Lagerbestandes wird beschlagnahmt, das Geschäft für drei Tage gesperrt. Richard Lányi wird verhaftet, nach einigen Tagen aber wieder freigelassen. Mit der Führung des Betriebes wird sein Angestellter Lothar Watzke betraut.

Ja sagen und „Teilchen einer riesigen, gebändigten Flut werden“: Titelseite der „Wiener Neuesten Nachrichten“ zum „Tag der großdeutschen Volksabstimmung“ am 10. April 1938.

Watzke, seit 1923 bei Lányi in leitender Stellung tätig, macht sich selbst Hoffnungen auf den Betrieb, doch da taucht Anfang Mai 1938 Johannes Katzler in der Kärntner Straße auf. Er sei, so gibt er vor, vom Zentralverlag Franz Eher damit beauftragt, die Buchhandlung zu übernehmen. Es kommt zu Gesprächen mit Lányi, bei denen Katzler dem hilflosen Buchhändler, den er als „Saujuden“ beschimpft, mit Gestapo und KZ droht, Lothar Watzke wird Zeuge, wie Lányi vor dem „Ariseur“ niederkniet und ihn mit aufgehobenen Händen bittet, nichts gegen ihn zu unternehmen. (Zeugenaussage von Lothar Watzke, Landesgericht für Strafsachen Wien, Vg lf Vr 5194 / 46) Das brutale Vorgehen Katzlers hat Erfolg: Lányi unterzeichnet einen Vorvertrag, in dem er diesem die Buchhandlung für 40.000 Reichsmark mit allen Passiva und Aktiva überträgt. Am 11. Mai 1938 lässt die Gestapo das Geschäft schließen, zwei Tage später wird es wieder geöffnet – in der Auslage steht eine Hitlerbüste und auf den Eingangstüren prangt der Name des angeblich neuen Inhabers der nunmehr „arischen Firma“: Johannes Katzler. Tatsächlich hat dieser zwar noch keinen Rechtstitel auf das Unternehmen, gebärdet sich jedoch wie der neue Eigentümer. Vor allem weiß er sich bei seinen Kumpanen zu bedanken: Einige wertvolle Gemälde und Bücher wandern zu den Freunden von der Gestapo, andere wiederum lässt er in seine Privatwohnung bringen. Für die Angestellten gibt es dagegen eine böse Überraschung, wie später die Mitarbeiter zu Protokoll geben werden: „Die Angestellten können mir den Buckel runterrutschen, sie müssen froh sein, dass sie überhaupt amtieren können. Ich habe in der Partei so viel zu tun, daß ich auf das Geschäft schon pfeife. Der Laden wird wahrscheinlich geschlossen, mit Herrn Lanyi [sic!] wird etwas geschehen und die Angestellten werden dann gar nichts haben. Außerdem werden die Gehälter ab 1. Juli rückwirkend gekürzt. (Zitiert nach Pawlitschko, Jüdische Buchhandlungen in Wien.) Lothar Watzke, der zusehen muss, wie Katzler die Buchhandlung sehenden Auges in den Ruin führt, indem er etwa „kistenweise aus dem Magazin Bücher an die Deutsche Buchvertriebs- und Verlagsgesellschaft m. b. H.“ verramscht, beschwert sich vergeblich bei Gauleiter Odilo Globocnik – Katzlers Rückhalt in der Partei ist zu stark.

Richard Lányi, formal noch Eigentümer der Buchhandlung, muss schließlich Konkurs anmelden, Raubritter Katzler ist pünktlich zur Stelle: Er kauft das verbliebene Warenlager um 20.000 Reichsmark auf. Für Lányi wird das Konkursverfahren zur tödlichen Falle: Da er seine Steuerschulden nicht bezahlen kann, bekommt er keine Genehmigung zur Ausreise und so fällt auch er den Häschern Adolf Eichmanns zum Opfer: Lányi wird am 2. Februar 1942 nach Auschwitz deportiert. Als er im Vernichtungslager beim Diebstahl von Kartoffeln erwischt wird, lautet das unmenschliche Urteil: 300 Stockschläge. In einem Bericht in der Zeitung Die Woche vom 26. Mai 1946 heißt es über seinen Tod am 28. Mai 1942: „Ob er, eine blutige Masse, noch lebend ins Krematorium geschleppt wurde, konnte mein Gewährsmann, der es mitansehen mußte, nicht feststellen.“ (Zitiert nach Murray G. Hall, Jüdische Buchhändler und Verleger im Schicksalsjahr 1938 in Wien.) Lányis Frau Anni ist „Arierin“ und bleibt unbehelligt, 1948 wird sie die Republik erfolgreich auf Rückstellung der von Katzler gestohlenen Bilder klagen.


Plötzlich will auch der Wiener Buchhandel mit jüdischen Kollegen und Autoren nichts mehr zu tun haben. Auslage der „arisierten“ Buchhandlung Alois Reichmann in der Wiedner Hauptstraße 18 – 20.

Johannes Katzler hat inzwischen seine nächste Beute im Visier: die Buch- und Antiquariathandlung Alois Reichmann in der Wiedner Hauptstraße 18 – 20. Felix Reichmann, der Sohn des 1936 verstorbenen Gründers Alois Reichmann, ist bereits im März 1938 nach Dachau deportiert worden, seine Mutter Emilie hat den Machenschaften der „Ariseure“ nur wenig entgegenzusetzen. Der „kommissarische Leiter“ Karl Günther, langjähriger Mitarbeiter der Buchhandlung und seit 1937 Mitglied der NSDAP, will den Betrieb an Lányi-Mitarbeiter Lothar Watzke übergeben, den Zuschlag erhält am 26. Oktober 1938 wieder Johannes Katzler, der die bei Lányi aufgekauften Restbestände nun in die Wiedner Hauptstraße bringen lässt. Ablöse zahlt Katzler keine, aus der Buchhandlung Reichmann wird die Buchhandlung Johannes Katzler, ein „arisches deutsches Geschäft“, das zügig mit neuer Ware bestückt wird: Noch im Herbst 1938 wird die Verlagsbuchhandlung Josef Kende am Opernring 17 geschlossen, Mitbesitzer Josef Kende, ein 70-jähriger Jude, stirbt im Oktober 1938 im KZ Buchenwald, die verbliebenen Bücher wandern in die Wiedner Hauptstraße.

Im Frühjahr 1939 geht Katzlers Raubzug weiter, für 3.500 Reichsmark kauft er die Bestände der „arisierten“ Verlagsbuchhandlung M. Breitenstein in der Währinger Straße 5 – 7, dann erwirbt er das Lager der Buchhandlung Heinrich Saar in der Mariahilfer Straße 176, ebenso einverleibt wird von ihm der Bestand der Akademischen Buchhandlung Dr. Carl Wilhelm Stern am Dr.-Karl-Lueger-Platz 3.

Zum letzten Opfer Katzlers wird schließlich die 1869 gegründete Buchhandlung Moritz Perles in der Seilergasse 4, ein traditionsreiches Unternehmen, das sich in der Monarchie durch die Herausgabe von Fachzeitschriften und Kalender – etwa des Jagdkalenders – und als Auslieferer wichtiger deutscher Verlage einen Namen erworben hat. Die einstige Großfirma, zu der auch Häuser in der Kärntner Straße und in der Wiesingerstraße gehören, alle im Besitz der Familie Perles, wird Stück für Stück demontiert, mit dem Stichtag 30. September 1938 muss auf Beschluss der Reichsschrifttumskammer der Betrieb eingestellt werden. Das Haus in der Seilergasse erwirbt die Deutsche Werkstätten A. G., eine Möbelfabrik aus Hellerau bei Dresden, die froh ist, dass sich Johannes Katzler bereit erklärt, die vorhandenen Bücherbestände zu übernehmen. Das lukrative Geschäft wickelt Katzler mit dem Anwalt der Firma, Dr. Arnulf Hummer, Maysedergasse 5, ab.

NOVEMBERPOGROM

An jenem 10. November wurden wir morgens aus einem nunmehr schon schwer bedrängten Schlaf gerissen und in den Abgrund eines Höllentraumes gestoßen, aus dem kein gnädiges Erwachen mehr zu hoffen war. Das Furchtbare war geschehen, Qual und Marter machten das Blut erstarren, zermürbte den Verstand und geißelte den Herzschlag zum Zerspringen.

Bericht eines Augenzeugen

Den Sommer 1938 über verschärfen sich die Schikanen gegen die jüdische Bevölkerung. So verfügt Polizeipräsident Otto Steinhäusl, dass die am rechten Ufer des Donaukanals gelegenen Parkanlagen des 1. und 9. Bezirks von Juden „ausnahmslos“ nicht mehr betreten werden dürfen, „Zuwiderhandelnde haben strengste Ahndung zu gewärtigen“.

Bereits in den ersten Monaten seiner Amtsführung leistet „Judenreferent“ SS-Sturmbannführer Adolf Eichmann ganze Arbeit: Mit eiskalter bürokratischer Präzision bringt er die jüdische Bevölkerung um ihr Hab und Gut. Bis Ende Oktober 1938 verlassen 50.000 Juden das Land, doch den neuen Herren geht das zu langsam und so inszeniert man am 5. und 6. Oktober 1938 „spontane Kundgebungen“ des „Volkes“ gegen die Juden, die so zur Emigration gezwungen werden sollen. Eichmann unterstützt die „Aktionen“ durch Zwangsräumungen von jüdischen Wohnungen; die Gewaltbereitschaft wächst, angeheizt nicht zuletzt durch die von Globocnik am 2. August miteröffnete Ausstellung „Der ewige Jude“ in der Nordwestbahnhalle. Am 7. Oktober wüten in der Stadt SA und HJ: Jüdische Passanten werden auf den Straßen überfallen und jüdische Geschäfte und Wohnungen zerstört.

 

Der Novemberpogrom bedeutet für die jüdische Bevölkerung das Ende aller Illusionen: ausgebrannte Synagoge in der Tempelgasse.


Demonstrative Fürsorge als Instrument der Propaganda: SS-Oberführer Polizeivizepräsident Fitzthum sammelt in der Kärntner Straße für den „Schulverein Ostmark“.

Für einen großen Schlag gegen jüdische Einrichtungen fehlt vorläufig der Anlass, doch dann verübt Herschel Grynszpan am 7. November 1938 in Paris ein Attentat auf den deutschen Botschaftssekretär Ernst vom Rath und damit lässt sich auch in Wien die Pogromstimmung weiter anheizen: Für den 9. November planen die Nazis eine „Aktion“, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen soll. Gauleiter Globocnik will vorbauen und ruft noch in der Nacht vom 8. auf den 9. November seinen Rechtsberater Dr. Viktor Sauer an, um von ihm zu erfahren, wie man es anstellen solle, dass die Täter strafrechtlich nicht belangt werden können. Als Sauer ihn warnt und meint, dass nach geltendem Recht auch die Anstifter strafrechtlich belangt werden könnten, fragt Globocnik „höhnisch, ob auch er eingesperrt werde“ – „mit blutleeren Paragraphenreitern“ sei eben nichts zu machen, er werde „die Sache schon schaukeln“. (Zitiert nach Rosenkranz, Novemberpogrom 1938.) Und er will die „Sache schaukeln“, obwohl er gar nicht in Wien sein wird: Am Nachmittag des 9. November reist er nach München, wo sich die Nazi-Führer mit Hitler im Alten Rathaus zum Gedenken an den Marsch zur Feldherrnhalle 1923 treffen. Als aus Paris die Nachricht vom Tod des Botschaftssekretärs eintrifft, ist die „Judenhatz“ nicht mehr aufzuhalten. Von seinem Hotel aus ruft Globocnik um etwa 22.30 Uhr in Wien an und gibt die Anweisungen zum Losschlagen; am Morgen setzen sich die Rollkommandos der SS in Bewegung, das Ziel: die Zerstörung von Bethäusern und Synagogen. Um 9.35 Uhr brennt in der Neuen Weltgasse 7 der erste jüdische Tempel, insgesamt sind es 42 jüdische Gotteshäuser, die dem „gesteuerten Vandalismus“ zum Opfer fallen. Gleichzeitig werden von SA und Schutzpolizei jüdische Geschäfte demoliert und Tausende jüdische Wohnungen durchsucht und beschlagnahmt, 6.547 Juden, erstmals auch Frauen und Kinder, werden verhaftet, 3.700 von ihnen überstellt man am 13. November 1938 ins KZ Dachau.

Im Laufe des 10. November kehrt Globocnik nach Wien zurück, so wie Reichskommissar Bürckel ist er mit „dem Erfolg der Aktion durchaus zufrieden“; sein abschließender Bericht zur „Kristallnacht“ fasst die aus seiner Sicht „positiven“ Effekte zusammen: So wären von den 5.000 jüdischen Einzel- und Kleinhandelsgeschäften in Wien nun 4.000 „innerhalb kürzester Zeit“ gesperrt und der „arische Kleinhandel dadurch auf eine gesunde Wirtschaftslage gebracht“ worden, ca. 2.000 Parteigenossen hätten durch diese Aktion entsprechende Kleinwohnungen erhalten, die Lagerbestände der demolierten Geschäfte würde man „arischen“ Geschäftsleuten übergeben. Über die „Skandalszenen“ in der „Nacht der langen Finger“ ist man parteiintern nicht unbedingt glücklich, in einer Sitzung im Gauwirtschaftsamt am 12. November ist es vor allem Hermann Göring, der sich gegen die unnötige Zerstörung von „Konsumgütern“ und „Volksgütern“ ausspricht, um dann zynisch zu resümieren: „Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und nicht solche Werte vernichtet.“ Die Herren stimmen dem zu – gemeinsam beschließen sie die sofortige Sperre aller jüdischen Bankguthaben, vor allem auch jener Juden, die von der Gestapo festgenommen worden sind.

Brutale Hiebe, fließendes Blut: Notarrest Kenyongasse 2 – 4

Es ist der 12. November 1938. Die Männer von der 3. Kompanie der in der Radetzkykaserne stationierten SS-Standarte „Der Führer“ sind in ihrem Element. Über 2.000 Juden hat man im Laufe des Nachmittags im Gebäude der ehemaligen Klosterschule in der Kenyongasse 4 zusammengetrieben. Das Haus steht leer, den Schwestern der „Kongregation der Töchter des Göttlichen Heilands“ hat man schon bald nach dem Anschluss das Recht zur Lehrtätigkeit entzogen, die ordenseigenen Gebäudebereiche stehen nun den neuen Herren zur Verfügung, die Schwestern dürfen die ehemaligen Schulräume nicht mehr betreten und sich nur mehr im Kloster und im Keller aufhalten. Im Oktober sind hier kurz sudetendeutsche Flüchtlinge einquartiert gewesen, doch jetzt hat man eine bessere Idee: Warum nicht hier die Juden unterbringen, die man in diesen Tagen der Willkür zusammentreibt?


Das Schulgebäude in der Kenyongasse 2 – 4 wird während des Novemberpogroms zum „Notarrest“: Über 2.000 Juden werden hier zusammengepfercht, gedemütigt und misshandelt.

Die Revolver der beiden Wache schiebenden SS-Männer Otto Seethaler und Heinz Eichler sitzen locker: Als der gefangene Jude Dr. Gottfried Abraham, Jahrgang 1883, wohnhaft in der Taborstraße 27, sich zu wehren versucht und einem der SS-Wächter das Bajonett entwenden will, zögern die beiden nicht lange und eröffnen das Feuer. Dr. Abraham wird tödlich getroffen, zwei weitere Juden, der 31-jährige Friedrich Schönfeld aus der Castellezgasse und ein gewisser Ferdinand Löw, geboren 1903 in Wien, werden ebenfalls getötet. Der Jude Greif Mendl, geboren 1891 im galizischen Kolomea, ein Kaufmann aus der Laurenzgasse, wird mit einem Kopfschuss ins Sophienspital geschafft, erliegt aber noch am selben Tag seiner schweren Verletzung. Der Totenschein vermerkt für die Opfer lapidar „Schädelschuss“, die näheren Umstände werden diskret verschwiegen.

Jeweils bis zu 200 Menschen werden in die Klassenzimmer gepfercht, zur Begrüßung gibt es für die Gefangenen Hiebe, dann müssen sie sich auf den Boden legen und bekommen die „Hausordnung“ erklärt. Die SS-Männer bestimmen jeweils einen Inhaftierten zum Zimmerkommandanten, der auf Verlangen mit einem „Tagesbericht“ aufwarten muss. Der Rechtsanwalt Siegfried Merecki, Jahrgang 1887, der bereits eine Schiffskarte für die Überfahrt nach Amerika besitzt und später tatsächlich emigrieren kann, erinnert sich: „Einmal verlangte ein SS-Mann vom Kommandanten den Tagesbericht. Dieser sagte: ‚Melde gehorsamst, hier sind 137 Mann.‘ Darauf erhielt er einen Schlag übers Gesicht, so dass er wiederholte, und es kam die Antwort: ‚Hier sind nicht 137 Mann, sondern 137 jüdische Schweine.‘ Als dann ein anderer Soldat kam, sagte unser Kommandant diesmal schon belehrt: ‚Melde gehorsamst, hier sind 137 Juden.‘ Für diesen Bericht bekam er erst recht Schläge, denn dieser SS-Mann war wiederum der Meinung, dass er Späße mache.“ (Zitiert nach Gerhardt/Karlauf, Nie mehr zurück in dieses Land.)


Das Haus in der Kenyongasse bleibt bis 1945 in den Händen der Nazis: auffälliges Fliesenmuster mit stilisierten Hakenkreuzen?

Die Prügel in den Klassenzimmern sind jedoch nur der Auftakt zum großen Spaß am Abend. „Turnübungen für die Juden“ heißt die Parole: Die SS-Männer treiben einen Teil der Gefangenen in den Turnsaal der Schule, die „Übungen“ beginnen mit dem beliebten „Wippen“, wer vor Erschöpfung nicht exakt mitmacht, wird von den Wachen gnadenlos mit Peitschenschlägen traktiert. Emanuel Fuchs, der 20-jährige Sohn eines Buchbinders aus der Leopoldstadt, wird Zeuge dieser Torturen. So zwingen die SS-Männer einen beleibten jüdischen Rechtsanwalt, eine Leiter hochzuklettern und sich dann nur mit den Händen an einer Sprosse festhaltend runterhängen zu lassen – dann prügeln sie mit Stöcken auf ihn ein, so lange, bis der Unglückliche sich nicht mehr halten kann und von der Leiter fällt. Andere Inhaftierte wiederum werden dazu gezwungen, wie Gladiatoren gegeneinander zu einem Zweikampf anzutreten, wer zuerst blutig geschlagen zu Boden geht, hat verloren. „Immer wahnsinniges Geschrei im Hause, brutale Hiebe, fließendes Blut, waren das noch Menschen?“, wird sich später ein Überlebender fragen.


Da ist die Welt noch in Ordnung: Ernst Benedikt mit seiner Frau Irma und den vier Töchtern. Foto: Hermann Kosel, 1927.

Unter jenen Wienern jüdischer Abstammung, die aus der Sammelstelle in der Pramergasse 10, der Reitschule der Wiener Berittenen Polizei, in die Kenyongasse gebracht werden, ist auch Ernst Benedikt (1882 – 1973), der ehemalige Herausgeber und Chefredakteur der Neuen Freien Presse, dem später zusammen mit seiner Familie die Flucht nach England und weiter nach Schweden gelingen wird. Er ist am Morgen des 10. November von einem Wachmann aus seinem Haus in der Himmelstraße 55 in Döbling abgeholt worden, nicht ahnend, welch Terror ihm bevorstehen würde; die Warnung vor einer „Nacht der langen Messer gegen die Juden“ hat er, das schwedische Visum bereits zugesichert, leichtfertig in den Wind geschlagen. Zusammen mit 105 anderen Gefangenen landet auch er in einem Klassenzimmer, in dem er und seine Leidensgenossen von einem „Sportlehrer“ mit diversen Übungen schikaniert werden: „Er schrie, daß unsere Fensterscheiben zitterten, er warf sich bei jeder Meldung in die Brust, als stünde er vor einem Feldmarschall. […] Tiefe Kniebeuge, zehn Mal, zwanzig Mal wurde gefordert. Niederwerfen auf den Boden ohne Rücksicht auf das Bein oder die Arme des Nachbarn, zehn Mal, zwanzig Mal, wie Rekruten bei einer ernsten Felddienstübung. Liegestütz als Strafe für jene, die der leichteren Gymnastik nicht oder nicht gut mächtig waren. Fünf oder sechs Stunden dauerte diese, zum Teil auch von einem Wachmann geleitete ‚Unterhaltung‘.“

Die Gefangenen bekommen kaum zu essen, es gibt keine Möglichkeit, sich zu waschen, keine Matratze oder Pritsche, um sich hinzulegen. Das Schlimmste ist jedoch die „Begleitmusik der Himmlergarde“, wie Ernst Benedikt die Demütigungen nennt, die ausgewählte Opfer der SS-Männer über sich ergehen lassen müssen. So erinnert er sich an einen jungen Hebräischlehrer, der für eine „Vorstellung“ auserkoren wird: „Mit ein paar Stößen brachte man ihn auf den Katheder. Was er denn tue, wie er die Christen betrogen, was für Sauereien er betrieben habe. Solche oder ähnliche Fragen beantwortet er entweder schweigend oder in kindlicher Unbeholfenheit. Nun erklärte ihm der nach stärksten Effekten suchende ‚Prüfer‘: ‚Also, du wirst erschossen. Jetzt sing etwas!‘ Der also Angeherrschte zögerte naturgemäß. Singen – da einem der Tod verkündet wird –, wie sollte er das fassen? Da fuhr schon die Hand des Peinigers ihm ins Gesicht und packte seinen Bart. ‚Sing, du!‘ Nun begann er wirklich zu singen. Zuerst zögernd, ersichtlich freier, immer – ich kann es nicht anders sagen – erhabener. Wir alle standen atemlos dieses Schauspiel begleitend, mitleidend, mitweinend und innerlich mitsingend, mit diesem, der wie die Jünglinge im Feuerofen aller Haft und allen Scheußlichkeiten spottete. ‚Andere Platte einlegen!‘, schnarrte der Befehl und wieder begann er ein Lied, immer fröhlicher, immer weniger unter uns verweilend. ‚Was hast du gesungen, was heißt dein Gemauschel?‘ Leise kam die (sehr kluge) Antwort: ‚Der Sinn passt für alle …‘ ‚Jetzt bete mal zu deinem Volke, ehe du erschossen wirst. Du wirst ja erschossen. Los, los, vorwärts!‘, hieß es […] Nun begann er zu beten und noch nie habe ich so viele Augen in Tränen gesehen, nie noch so innig die alten, ehrwürdigen Worte der Überlieferung mitgesprochen, wie damals, da der anscheinend Todgeweihte uns sagte: Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzem Vermögen. So segne der Herr deinen Eingang und deinen Ausgang und gebe dir Frieden. Ich wußte, als dieser Priester nun weggeführt wurde – unbekannt wohin –, daß ich nie seine Worte vergessen würde, daß die an Christus auf manchen Bildern gemahnende Gestalt – Christus von Kriegsknechten verhöhnt, bespien und gepeitscht – mir nie aus der Seele schwinden wird, da er uns allen durch seine Freiheit die Freiheit gab.“

 

Unter den verzweifelten Häftlingen kommt es zu Selbstmordversuchen. So versucht am Abend des 12. November Dr. Max Oberjäger, wohnhaft in der Schubertgasse 8, aus dem Fenster eines Zimmers im dritten Stock zu springen, wird aber von seinen Mithäftlingen im letzten Moment noch zurückgehalten. Oberjäger zieht sich schwere Schnittwunden durch splitterndes Glas zu und wird auf die 1. Unfallstation des Allgemeinen Krankenhauses gebracht, von dort überstellt man ihn in die psychiatrische Abteilung. Die Versorgung für den eingelieferten Juden ist jedoch „mangelhaft“ – Max Oberjäger verstirbt noch am selben Tag.


Leidensstation Pramergasse 10: Durchgang zur ehemaligen Reitschule der Wiener Sicherheitswache, einer der „Sammelstellen“ während des Novemberpogroms.

Wie Ernst Benedikt in seinem Bericht hervorhebt, sehen sich die Gefangenen physischen und psychischen Misshandlugen gegenüber, denen sie kaum gewachsen sind. Menschen wie ihre Peiniger haben sie bisher nicht gekannt, „Zorn und Ekel“ sind die dominierenden Empfindungen: „Ich sehe ihn noch vor mir – ich höre noch seine krachende Stimme –, wie dieser Riese mit dem blutrünstigen flachen Kindergesicht, seinen seltsam gestielten, runden Augen – ähnlich gewissen Fleischern oder Saufbolden – auf seine Opfer losfuhr, Gemeinheit und Hohn in jeder Faser seines Wesens. Hohn mit einer Art pseudoliterarischer und gleichzeitig obszöner Finesse, etwa wie ein Zuhälter, der vor einem Lustmord etwas aus ein paar Magazinen oder ein paar Bildungsbrocken zum Besten gibt. Unmöglch, die Fülle dieses Unflats wiederzugeben.“

Ein Teil der festgehaltenen Juden wird einige Tage später wieder in die Reitschule in der Pramergasse überstellt und von dort nach Dachau geschickt, andere landen zunächst im Polizeigefangenenhaus auf der Elisabethpromenade und müssen von hier den Weg ins bayrische KZ antreten. „So absurd es klingt“, wird der oben zitierte Überlebende in seiner Zeugenaussage feststellen, „für uns Insassen der Kenyongasse war nach den vielen unmenschlichen und unberechenbaren Ausschreitungen Dachau fast eine Erholung.“ (Yad Vashem, Bericht 02 / 455, zitiert nach Safrian/Witek, Und keiner war dabei.) Ähnlich ergeht es Ernst Benedikt, der von der Kenyongasse für einen „kurzfristigen Aufenthalt“ in eine Zelle des Landesgerichts gebracht wird. Hier, zusammen mit „wirklichen Verbrechern“ wie einem Totschläger und einem Brandstifter, genießt er die „gemütliche Atmosphäre“ – dann geht es für ihn zurück nach Hause und zwei Tage später ins Spital: Die Folgen des „Notarrests“ machen sich unter anderem mit Blutungen und eitriger Bronchitis bemerkbar.

Nach dem Abtransport der Juden steht das Schulgebäude Kenyongasse 4 wieder leer, eine Schwester, die sich verwegen in die verlassenen Räume vorwagt, stößt auf durch Pistolen- und Gewehrschüsse durchbohrte Fenster und Türen, die Wände in den Klassen sind mit Blut bespritzt (Gedenkdienst Nr. 1a/11). Das Haus geben die Nazis jedoch nicht mehr aus der Hand. Vom Dezember 1938 bis August 1939 macht sich hier die „Deutsche Arbeitsfront“ breit, die eine Höhere Fachschule der Gastwirtgenossenschaft betreiben will, abgelöst wird sie von der Heeresstandortverwaltung mit ihrer Standortgebührenstelle; in der Kenyongasse 6 und 8 befindet sich ab dem 1. April 1940 die Wehrmachts-Unterkunftststelle Westbahnhof und im Exerzitienhaus der Ordensschwestern in der Kaiserstraße 25 und 27 wird 1941 ein Reservelazarett eingerichtet. Nach einer neunmonatigen Ausbildung, ausgestattet mit einem „Verwendungsbuch“, einer Ausweiskarte, einer Erkennungsmarke und zwei Armbinden, dürfen sie nun verwundete Soldaten pflegen …

Heute ist die Schule in der Kenyongasse mit über 1.000 Jugendlichen ein stark frequentiertes Gebäude. Da ist einiges los! Eine Gedenktafel, die an das Geschehen in den Novembertagen 1938 erinnert, sucht man jedoch vergeblich. Wir haben nachgefragt – angeblich hat man das Anbringen einer Gedenktafel bereits einmal angedacht. Dem Projekt fehlte es aber an entscheidender Unterstützung.

Der Zutritt zu den Kellern wird vom Betriebsleiter nicht gestattet. Ein Detail lässt uns allerdings stutzig werden: Bodenfliesen, deren Ornamente an stilisierte Hakenkreuze erinnern. Sind das Fliesen aus der NS-Zeit?