Read the book: «Verräter an Bord»
Johannes Anders
Sternenlicht 8
Verräter an Bord
Saphir im Stahl
Bereits erschienen:
Horst Hoffmann - Insel im Nichts
Johannes Anders - Rücksturz nach Tyros
Johannes Anders - Storm
Peter R. Krüger - Der Fehler im System
Joachim Stahl - Parsifal
Erik Schreiber - Wanderer
Johannes Anders - Feinde des Lebens
Johannes Anders - Verräter an Bord
In Vorbereitung
Peter R. Krüger - Die Soliamit-Krise
Sternenlicht 8
Verräter an Bord
e-book 107
Erste Auflage 01.01.2022
© Saphir im Stahl
Verlag Erik Schreiber
An der Laut 14
64404 Bickenbach
Titelbild: Thomas Budach
Lektorat: Joachim Stahl / Rita Blotz
Vertrieb: Neobooks
Johannes Anders
Sternenlicht 8
Verräter an Bord
Saphir im Stahl
Inhaltsverzeichnis
1 Entführung
2 Queen Anne
3 Die unfruchtbare Sonne
4 Hauch der Äonen
5 Zeit des Untergangs
6 Verräter an Bord
7 Die Rückkehr des Monsters
8 Schmerzende Wahrheiten
9 Ganz nah am Feind
10 Loyalitäten
11 Neue Helden
Biographie
1 Entführung!
Alle waren auf ihren Posten, als die MCLANE Anlauf zum nächsten Sprung nahm, der sie dem Sternenschweifnebel ein Stück näherbringen würde. Swo hatte die Bordkontrolle beendet und lehnte sich entspannt in seinem Sessel zurück. Neno wischte sich gelangweilt eine Strähne seines wohlfrisierten Haupthaares hinter das Ohr, denn zu kommunizieren gab es gerade nichts. Storms blau blinkender Ohrring zeigte an, dass Coach Sturm den Halbroboter führte, während Eden Sturm, seine bessere Hälfte, sich zurückgezogen hatte und höchstwahrscheinlich schlief. Der Coach selbst saß untätig hinter der Armierungskonsole, aber das mochte trügen, denn irgendwelche Berechnungen liefen in seinem Computerhirn wohl immer ab. Kommandantin Zaya Karan stand mit Gael Klein an der Astroscheibe. Die beiden Frauen beobachteten den Flug, dessen Steuerung sie dem Bordcomputer überlassen hatten.
„Wusstest du, dass manche den Sternenschweifnebel auch Silberschweifnebel nennen?“, fragte Gael. „Wegen seines silbrigen Aussehens?“
Zaya lächelte. Als kleines Kind hatte sie den Nebel immer Pferdeschweifnebel genannt, was wohl mehr über sie selbst und ihre Liebe zu den edlen Tieren aussagte, als über den Nebel, dem man die Form eines Pferdeschweifs nur mit Mühe andichten konnte.
„Und hast du von den Geschichten gehört, die man über den Nebel erzählt? Schiffe, die den Kurs unvermittelt ändern? Geisterstimmen, die dich rufen? Verstorbene, die plötzlich wieder leben?“
„Raumfahrergarn von Leuten, die sich wichtig machen wollen.“
Die Crew lachte. Gael stimmt mit Verzögerung ein. Glaubte sie diese Märchen etwa?
„Wahr ist, dass es in der Nähe des Nebels zu minimalen Zeitschwankungen kommen kann“, belehrte Swo die Crew. „Aber die liegen im Bereich von Zeptosekunden.“
„Was für Sekunden? Ist das die kleinste Zeiteinheit?“, erkundigte sich Gael.
„Nein. Aber man kann damit die Zeit messen, die das Licht braucht, um ein Molekül zu durchqueren.“
„Das geht ganz schön schnell, nehme ich an?“
Swo grinste breit. „Ziemlich schnell, ja.“
„Bereit machen zum Sprung!“, meldete sich ALLISTER.
Kurz darauf löste der Bordcomputer Hyperspace plus Schlafende aus. Die Sterne auf der Astroscheibe verschwanden. Der Raum faltete sich vor der MCLANE und das Schiff flog über die Einstein-Rosen-Brücke, um die andere Seite der Raumfaltung zu erreichen, die viele Lichtjahre entfernt lag.
Die Überquerung der Einstein-Rosen-Brücke dauerte einige Stunden, in denen die Astroscheibe keine Außenaufnahmen, sondern errechnete Daten anzeigte. Man sah, wie die MCLANE sich mit unvorstellbarer Geschwindigkeit fortbewegte. Für die Besatzung gab es in dieser Zeit wenig zu tun. Neno blieb als Wache auf der Brücke, die anderen hatten Zeit, sich zu erholen.
*
Als die MCLANE ihren Sprung beendete, hatten sich alle wieder auf der Brücke eingefunden. Sie würden nun eine Weile warten müssen, bis die schlafende Energie aufgeladen war und für den nächsten Sprung auf die Wandler gegeben werden konnte.
In den Holos über Neno Chungs Konsole leuchtete ein grüner Punkt auf und sein virtuelles Headset übertrug ein kurzes Ping. „Die Ortung meldet eine Nachrichtensonde“, teilte er mit.
„Eine Nachrichtensonde?“, fragte Zaya.
„Ja. Nachricht von Admiralin Charlene Armstrong von der FERDINAND MAGELLAN“.
Sie hatten das Mutterschiff erst vor wenigen Tagen verlassen. Was wollte die Admiralin?
„Auf die Astroscheibe!“, befahl die Kommandantin.
Das rotierende Logo der Forschungsflotte leuchtete als Hologramm über der Astroscheibe auf. Dann erschien der Kopf der Admiralin. Sie begann ihre Botschaft mit einem kurzen, betretenen Schweigen. Es schien, als müsse sie sich vor einer unangenehmen Nachricht zunächst sammeln. Und so war es auch: „Vor ein paar Tagen habe ich Ihnen noch für Ihre großartige Arbeit gedankt, Commander Karan“, begann sie schließlich. „Sie haben nicht nur die Kolonie auf Juventor gerettet, sondern die gesamte Sternenlichtvereinigung.“ Sie räusperte sich unbehaglich. „Es gibt aber leider einen winzig kleinen Schönheitsfehler: Sie haben dabei eine Alphaorder von TRAV missachtet.“
Die Admiralin rutschte in ihrem Sessel hin und her, bevor sie fortfuhr: „Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will Ihre Verdienste und die Ihrer Crew in keiner Weise schmälern, aber gewisse Kreise bestehen darauf, dass Ihnen ein Sicherheitsoffizier des SSD zur Seite gestellt wird, um, ich zitiere: Ihr Urteilsvermögen hinsichtlich der Ausführung künftiger Alphaorders zu schärfen. Das sind wie gesagt nicht meine Worte.“
Zaya sackte die Kinnlade herunter. „Das gibt‘s doch nicht …“, murmelte sie. Auch die übrige Besatzung war fassungslos.
„Und nein“, fuhr die Admiralin fort, „diese Anweisung stammt nicht von Chander Nairoby. Auch unser Sicherheitschef ist absolut perplex. Niemand auf der MAGELLAN glaubt, dass Sie das verdient haben. Die Order kommt von Tyros, direkt aus dem Hauptquartier des SSD. Ich schicke im Anhang die Koordinaten mit, an denen Sie sich mit dem SSD-Kreuzer JAGELLOVSK treffen werden. Ein Commander Igor Orlow wird dort zu Ihnen an Bord wechseln.“
„Das … das machen wir nicht!“, rutschte es Bordingenieur Swo raus.
„Das ist so etwas von ungerecht!“, schimpfte auch Gael.
„Ich kann mir denken, dass Sie diese Anweisung des SSD als ungerechtfertigt und ungerecht empfinden, Commander Karan. Und wahrscheinlich ist sie das auch. Aber reißen Sie sich verdammt noch mal zusammen und machen Sie keinen Unsinn. Ich will Sie als Kreuzerkommandantin behalten, Sie sind eine der Besten! Also fahren Sie diesen SSD-Heini ein paar Monate lang spazieren und danach wird alles wieder gut sein. Armstrong Ende.“
Auf der Brücke redeten alle wild durcheinander.
„Das können wir uns nicht bieten lassen!“, schimpfte Swo.
„Die Alphaorder zu ignorieren war völlig richtig!“, bestärkte Eden Sturm die Kommandantin. „Sonst wäre alles Leben in diesem Sektor ausgelöscht worden!“
„Auf keinen Fall treffen wir uns mit der JAGELLOVSK!“, forderte Neno.
„Niemals!“, unterstützte ihn Swo.
„Beruhigt euch, Leute!“ Zaya war bemüht, die Wogen zu glätten. „Was soll denn das? Wollt ihr euch von der Flotte lossagen? Wie kann das funktionieren? Natürlich befolgen wir die Befehle.“ Sie lächelte. „Aber bei der Ausführung darf ja wohl jeder seinen persönlichen Stil entwickeln.“
*
Die MCLANE musste einen erheblichen Umweg in Kauf nehmen, um das befohlene Rendezvous zu erreichen. Eine Verspätung von einigen Tagen konnte man da durchaus rechtfertigen. Die Crew schöpfte diesen Spielraum voll aus, um die JAGELLOVSK warten zu lassen.
An den Zielkoordinaten befand sich allerdings kein SSD-Kreuzer namens JAGELLOVSK. Über Funk meldete sich ein Kleintransporter namens SPRING BRAUNER.
„Commander Sidney Blum bittet, an Bord kommen zu dürfen“, meldete sich ein Sicherheitsoffizier mit kurzen, schwarzen Haaren und einem ebenso penibel gestutzten Vollbart.
Die Crew stand um die Astroscheibe herum und betrachtete argwöhnisch das Holo des Mannes.
„Tut mir leid“, lehnte Zaya ab. „Uns wurde ein Commander Orlow von der JAGELLOVSK angekündigt und kein Commander Blum von der SPRING BRAUNER. Erlaubnis nicht erteilt.“
„Die JAGELLOVSK hatte ein Problem mit ihrem Beta-7-Stabilisator und konnte deshalb nicht rechtzeitig eintreffen. Ich bin die Vertretung.“
„Beta-7? – So gut wie alle Schiffe benutzen den Beta-5-Stabilisator, manche sogar noch den alten Beta-3! Was erzählen Sie für einen Unsinn?“
Der Sicherheitsmann seufzte. Man sah ihm an, dass er überhaupt keine Lust hatte, sich auf so eine Diskussion einzulassen. Aber er überwand sich. „Die JAGELLOVSK war veraltet und wird nun zum modernsten Schiff des Sicherheitsdienstes umgebaut. Dabei kommt Technik zum Einsatz, die Sie noch gar nicht kennen. Und jetzt lassen Sie mich endlich an Bord!“
„Keine Chance“, lehnte Zaya ab. „Autorisieren Sie sich oder bleiben Sie mir vom Hals! Sonst wird mir wieder vorgeworfen, dass ich irgendwelche Vorschriften nicht beachte.“
„Na schön, Commander. Ich sende eine Kuriersonde zum Ende der Relaiskette bei Kappa 2. Dort wird die Sonde das Hauptquartier kontaktieren und mit einem Autorisierungscode direkt zu Ihnen zurückkehren. Das wird einige Tage dauern. Und dann werden Sie mich an Bord nehmen und herausfinden, dass ich auch zickig sein kann.“
„Wir befolgen nur die Vorschriften. Karan Ende.“
Kaum war die Verbindung unterbrochen, tanzte die Crew auf den Tischen.
„Das hast du super gemacht, Zaya!“, jubelte Neno.
„Genial!“, befand auch Gael.
„Schampus! Her mit dem Schampus!“, verlangte Swo.
„Dem haben wir es gezeigt“, klatschte Neno sich in die eigene Hand.
Coach Sturm war zurückhaltender. „Ich weiß nicht, ob wir uns damit einen Gefallen getan haben“, überlegte er. „Wir werden mit ihm auskommen müssen.“
Zaya selbst wirkte ebenfalls nachdenklich. „Er wäre sowieso nicht unser Freund geworden“, befand sie schließlich. „So haben wir uns wenigstens von Anfang an etwas Respekt verschafft.“
*
Die Stimmung war eisig, als der SSD-Offizier zur MCLANE übersetzte. Da das Rendezvous im Weltraum stattfand, hatte Zaya eine Phönix geschickt, die ihn abholte. Als sie sich in der MCLANE einschleuste, ließ sich niemand zur Begrüßung blicken. Der Sicherheitsoffizier musste seinen Weg alleine finden.
„Commander Blum meldet sich zum Dienst!“, grüßte er zackig, als er schließlich die Brücke betrat. Dabei stand er so steif, als hätte er einen Besenstiel verschluckt. Bei der Astrogatorin Gael Klein löste das zwiespältige Gefühle aus. Natürlich hasste sie ihn pflichtgemäß, aber er war ein gut aussehender Kerl und seine Korrektheit wirkte anziehend auf sie. Wenn man ihr die Wahl zwischen ihm und Bordingenieur Swo mit seinen Frittenflecken auf der Uniform lassen würde … Sie schüttelte den Kopf und vertrieb energisch diesen abseitigen Gedanken.
„Willkommen an Bord!“, begrüßte Zaya ihren neuen Aufpasser, ohne sich aus dem Kommandosessel zu erheben, und deutete zur Seite. „Nehmen Sie Platz im Besucherbereich.“
„Danke, Commander, aber ich ziehe es vor, an der Astroscheibe zu stehen.“
„Wie Sie wünschen.“
„Ich habe mir diese Mission nicht ausgesucht, Commander Karan. Lassen Sie uns das Beste daraus machen.“
„Wir werden Sie selbstverständlich mit aller Kraft unterstützen, wie es von uns erwartet wird“, antwortete Zaya, ohne eine Regung zu zeigen.
Sie wussten beide, dass es so nicht laufen würde.
*
Während die MCLANE wieder über die Einstein-Rosen-Brücke flog und sich mit unglaublicher Geschwindigkeit dem Sternenschweifnebel näherte, passte Bordingenieur Swo die Kommandantin an der Kaffeemaschine ab.
„Wir dürfen so einem dahergelaufenen Typen keinen Einfluss auf unsere Mission geben“, redete er auf sie ein.
„Er wurde vom SSD autorisiert.“
„Was bedeutet das schon: ein Passwort, das über tausende von Relais übertragen und dann auch noch mit einer Nachrichtensonde spazieren geflogen wurde und dabei in falsche Hände geraten sein kann?“
„Das wissen wir nicht.“
„Komm, Zaya, gib es zu! Ich weiß doch, dass du den Kerl am liebsten auf den Mond schießen würdest!“
„Ich weiß nicht, von welchem Mond du redest“, wiegelte die Kommandantin ab.
„Wir sollten ihn in seine Kabine sperren, bis wir die HAWKING gefunden haben. Dann kann nichts schiefgehen.“
„Nein, das machen wir nicht. Oder willst du künftig auf der SPRING BRAUNER Dienst schieben?“
„Gott bewahre!“, brummte Swo mürrisch.
Währenddessen erinnerte ein helles Ping daran, dass das Ende des Sprungs bald erreicht war. Swo und Zaya begaben sich mit ihrem Kaffee wieder auf die Brücke und gesellten sich an die Astroscheibe, natürlich mit gebührendem Abstand zu Sicherheitsoffizier Blum.
Kurz darauf zeigte die Astroscheibe wieder Sterne an. Der Sprung war planmäßig verlaufen, alles war in bester Ordnung.
Fast alles.
Sicherheitsoffizier Sidney Blum atmete tief durch und wandte sich an die Kommandantin: „Commander Karan, ich muss Ihnen nun eine vom SSD autorisierte Alphaorder übergeben. Mein Auftrag ist, die Order direkt auf Ihren Bordcomputer zu überspielen.“ Er hantierte an seinem Armcomputer herum.
„Warten Sie!“, verlangte Zaya. „Sagen Sie uns erst, was die Order beinhaltet!“
„Das weiß ich selbst nicht“, lehnte Blum ab.
Zaya stoppte ihn mit einer Handbewegung.
„Was wollen Sie denn noch, Kommandantin?“, beschwerte er sich. „Sie wissen selbst, dass der SSD ermächtigt ist, Alphaorders zu erteilen.“
Zaya gab ihren Widerstand auf. Der SSD-Mann vollendete, was immer er an seinem Armcomputer begonnen hatte, und die Verbindung mit dem Bordrechner kam zustande.
„Alphaorder erhalten“, bestätigte ALLISTER. „Kursänderung auf 2 - 9 - 4 - 19 - 30 - 37 - 3.“
Die Crew sprang auf.
„Was?“, schrie Zaya den SSD-Mann an. „Sie können nicht einfach den Kurs ändern! Was ist mit der STEPHEN HAWKING? Mit unserer Mission?“
„Es ist eine Alphaorder“, erinnerte Blum die Kommandantin.
„Und wo fliegen wir nun hin?“
„Ist das von Belang? Wir folgen den Befehlen.“
„Wir folgen nicht blind irgendwelchen Befehlen! Sagen Sie uns sofort, wohin Sie wollen, oder wir nehmen wieder Kurs auf den Sternenschweifnebel!“
„Wo wir hinfliegen, weiß ich nicht, und wenn ich es wüsste, wäre ich wahrscheinlich nicht autorisiert, es Ihnen mitzuteilen, Commander Karan!“
„Das können Sie mit uns nicht machen!“, lehnte Zaya ab.
„Da machen wir nicht mit“, unterstützte sie Swo.
„Auf gar keinen Fall!“
Wie ein Bollwerk stand die Mannschaft hinter ihrer Kommandantin.
„Nichts anderes habe ich von Ihnen erwartet, Commander Karan“, erwiderte der Sicherheitsoffizier. „Sie haben das Konzept Alphaorder immer noch nicht verstanden. Treten Sie zurück!“ Dann wandte er sich an ALLISTER: „Bordcomputer, Commander Zaya Karan ist mit sofortiger Wirkung des Kommandos enthoben. Als neuer Kommandant des Raumkreuzers MCLANE wird Sicherheitsoffizier Sidney Blum eingesetzt.
Die Crew fiel in Schockstarre.
2 Queen Anne
Queen Annes Mund formte übelste Flüche, galten dem, was sie durch die Sichtscheibe sah: den Roboterarm des Monsters, das sich auf ihr Schiff geschlichen hatte. Der Arm bewegte sich wie in Zeitlupe auf den Notfallknopf .
Sie griff nach etwas, um sich festzuhalten, aber als das Schleusentor hinter ihr aufflog, wurde sie mitsamt der Luft ins All gerissen. Indem sie zuließ, dass das Vakuum ihren Atem aus den Lungen saugte, verlängerte sie ihr Leben um Sekunden, denn der Innendruck hätte ihre Lungen platzen lassen. Der Atmungsprozess kehrte sich um: Statt Sauerstoff ins Blut zu transportieren, gaben ihn die Lungenbläschen ab. Ihr blieben 15 Sekunden, bis das sauerstofflose Blut ihr Gehirn erreichte und sie das Bewusstsein verlieren würde. Zugleich blähte der niedrige Druck des Alls ihren Körper auf und senkte den Siedepunkt des Wassers auf unter 37°. Sie spürte, wie der Speichel auf ihrer Zunge zu kochen begann. Ihr Blut und alle Körperflüssigkeiten würden bald ebenfalls kochen, Blutgerinnsel würden die Adern verstopfen, Schlaganfälle drohten ...
Endlich schlossen sich die Energiefelder des Notpacks, das sie rein zufällig erwischt hatte, als sie sich in der Schleuse festkrallen wollte. Kurz wurde ihr noch schwarz vor Augen, dann begann ihr Körper sich zu normalisieren. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Erleichtert atmete sie einige Male tief ein und aus.
Es war vielleicht nur ein kurzes Glück, das ihr vergönnt war. Die Manövrierfähigkeit des Notpacks war auf wenige hundert Meter begrenzt und der Sauerstoff reichte nur für 10 Minuten. Verzweifelt sah sie sich um. Die Schleuse der HAPPY DELIVERY war durch die Notfallöffnung blockiert, dort kam sie nicht mehr hinein. Unterhalb des Schiffs aber glitzerte etwas im Licht der weit entfernten Sterne. Mangels Alternative beschleunigte sie in diese Richtung.
Das Schicksal musste es an diesem Tag unermesslich gut mit ihr meinen! Im Näherkommen erkannte sie den Speedster 9000. Wenigstens war es einmal ein solcher Scooter gewesen, bevor ein Bautrupp daran herumgebastelt hatte. Nun war im Wesentlichen ein starkes Triebwerk übrig, auf dem man zwei Sättel befestigt hatte. Und das Beste an dem Gerät war der Sauerstoffvorrat, an den sie sich anstöpseln konnte.
Den Speedster hatte Anne eigentlich als Fluchtfahrzeug für ihren Mann besorgt. Aber Oliver Le Vasseurs Gefängnisausbruch war schiefgegangen und statt seiner war dieses Monster mit dem Gefährt angekommen, das sie aus der Schleuse geworfen hatte.
Was konnte sie als nächstes tun? Sollte sie an Bord der DELIVERY zurückkehren und das Monster bekämpfen? Anne war sich nicht sicher, ob eine Revanche vorteilhafter für sie enden würde. Besser, sie suchte sich Verbündete. Und um die Verbündeten zu überzeugen, musste sie wissen, was mit ihrem Mann geschehen war.
Ihr Vertrauter Benito de Soto hatte herausgefunden, dass ihr Mann auf der Krankenstation der Gefängnisfregatte BLACK JOKE versorgt wurde. Queen Anne machte sich dorthin auf den Weg und landete den Speedster in einem Hangar. An Bord des Gefängnisschiffes hatte der Widerstand gegen Admiral La Buse mehr Unterstützer, als dieser wahrhaben wollte. Eine Angestellte, die ihr oberflächlich ähnlich sah und zum Widerstand gehörte, lieh ihr ihren Bordausweis, und so gelangte die Queen unbehelligt zur Krankenstation.
*
„Bist du verrückt?“, schimpfte Oliver Le Vasseur. „Warum kommst du hierher? Du weißt doch, dass ich bei meinem Onkel in Ungnade gefallen bin! Wenn er erfährt, dass du hier bist, wird er dir die Garde auf den Hals hetzen!“
„Ich muss wissen, was mit dir passiert ist! Dein Kumpel Omega hat mich aus einer Luftschleuse geschmissen – ohne Raumanzug!“
„Zur Hölle mit dem Mistkerl! Mich hat er den Wachen vor die Füße gestoßen, während sie mit ihren HM-6 auf uns feuerten. Und dabei hat er mir noch mein Amulett abgerissen!“
„Ist er ein Agent deines Onkels?“
„Ich glaube nicht. Ich habe keine Ahnung, welche Ziele das Arschloch verfolgt.“
„Wir sollten jetzt abhauen!“ Queen Anne hielt Oliver die Hand hin, um ihn aus dem Bett zu ziehen.
„Vergiss es!“, zischte Oliver und zog die Decke zurück.
Anne schlug schockiert die Hände vor den Mund: Oliver Le Vasseur hatte nur noch ein Bein!
„Bevor ich fliehen kann“, sagte er, „brauche ich eine Prothese. Geh bitte!“
„Nicht ohne dich!“
„Doch, es muss sein!“
„Ich kann dich nicht hier liegen lassen! Was, wenn dein Onkel dich umbringen will?“
„Dann läge ich nicht auf der Krankenstation, sondern im Krematorium. Und jetzt geh bitte und mach das Monster fertig!“
„Das kann warten!“
„Nein, kann es nicht. Wir können nicht an zwei Fronten kämpfen, gegen Omega und meinen Onkel. Also zeig‘s dem Arschloch. Tu es für mich! Sprich mit Benito, der wird dir helfen!“
„Ich …“ Queen Anne kamen die Tränen. Würde sie ihren Mann jemals wiedersehen? Aber da er es so wollte, riss sie sich los und schlich zurück Hangar, in dem sie den Speedster geparkt hatte.