Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion

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From the series: Orbis Romanicus #15
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Biomacht, Biopolitik und Gouvernementalität

Mithilfe der Begriffe Biomacht, Biopolitik und Gouvernementalität soll in vorliegender Arbeit also untersucht werden, inwiefern die dysfunktionale Darstellung von Reproduktion und Elternschaft bei Onetti genderspezifischen Machttechnologien unterworfen ist und wie dieser literarische Diskurs letztlich in einen außerliterarischen gesellschaftspolitischen Kontext gestellt werden kann. Oder als Forschungsfrage formuliert: Wer prägt die reproduktiven Normen innerhalb Santa Marías, welche Rolle spielt dabei das christliche Geschlechterverständnis und an welchen Stellen wird der gesellschaftliche Reproduktionsdiskurs unterlaufen?

Der Weg von einem relationalen Machtverständnis in Foucaults frühen Texten zum Begriff der Biomacht in seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität verläuft über die Sexualität. So wirkt Macht nach Foucault nicht nur produktiv in Bezug auf Wissen, sondern auch auf Sexualität und insofern potentiell auf Reproduktion. Macht bringe, wie Sarasin feststellt, nicht nur Wissen und spezifische Wissensdiskurse hervor, sondern bestimme etwa auch das Verhältnis zwischen Sexualpartner*innen – woraus sich wiederum ein grundlegendes (medizinisches) Wissen um Sexualität als solche ableiten lasse:144 „Um seine – auch persönliche – Frage nach der Erotik der Macht zu klären, will Foucault zeigen, dass die Macht in der Moderne eine ‚Sexualität‘ erzeugt, um den Körper zu beherrschen.“145 Unter dieser Prämisse soll im fünften Kapitel dieser Arbeit weibliche Sexualität, deren Funktion innerhalb eines männlich dominierten Diskursraums sowie deren Verortung innerhalb des Stadtraums diskutiert werden, sprich: An welchen Orten in Santa María ist weibliche Sexualität überhaupt zugelassen und wo wirkt sie zudem subversiv? Diese Fragen geben wiederum Aufschluss über die Organisation des gesellschaftlichen Machtdiskurses innerhalb Santa Marías, insofern Sex und ein daraus abgeleitetes Sexualitätsdispositiv nach Foucault einerseits zu wichtigen Bezugspunkten für Subjektivierungsprozesse und andererseits zu entscheidenden Faktoren einer so genannten Biomacht oder Biopolitik werden:

[D]er Sex […] bildet das Scharnier zwischen den beiden Entwicklungsachsen der politischen Technologie des Lebens. Einerseits gehört er zu den Disziplinen des Körpers: Dressur, Intensivierung und Verteilung der Kräfte, Abstimmung und Ökonomie der Energien. Andererseits hängt er aufgrund seiner Globalwirkungen mit den Bevölkerungsregulierungen zusammen. […] Er gibt […] Anlaß zu umfassenden Maßnahmen, zu statistischen Schätzungen, zu Eingriffen in ganze Gruppen oder in den gesamten Gesellschaftskörper. Der Sex eröffnet den Zugang sowohl zum Leben des Körpers wie [vermittels der Reproduktion, eig. Anmk.] zum Leben der Gattung.146

Das Sexualitätsdispositiv hält Foucault damit nicht nur bezogen auf die einzelnen Körper und die vielfältigen Formen ihrer Disziplinierung (etwa durch Lehranstalten, Militärschulen etc.) für wichtig, sondern auch in Bezug auf ganze Gesellschaften. Sofern der einzelne Körper adressiert wird, handelt es sich dabei vor allem um sexuelle Identität und verschiedene Formen des Begehrens – obschon Foucault sich mit der Ausbildung von sozialem Geschlecht nicht eingehender befasst –, sofern der Gesellschaftskörper betroffen ist, liegt die Betonung auf der gattungserhaltenden Funktion der biologischen Reproduktion.

In Der Wille zum Wissen (2016 [1976]) arbeitet Foucault etwa die bürgerliche Ehe als gesellschaftlich normierten Ort für die Sexualität heraus. Er konstatiert, dass Sexualität „von der Kleinfamilie konfisziert [werde] und […] ganz im Ernst der Fortpflanzung auf[gehe]“, und fährt fort:

Das legitime, sich fortpflanzende Paar macht das Gesetz. Es setzt sich als Modell durch, es stellt die Norm auf und verfügt über die Wahrheit […]. Im gesellschaftlichen Raum sowie im Innersten jeden Hauses gibt es nur einen Ort, an dem die Sexualität zugelassen ist – sofern sie nützlich und fruchtbar ist: das elterliche Schlafzimmer. […] Wo aber das Unfruchtbare weiterbestehen und sich zu offen zeigen sollte, erhält es den Status des Anormalen und unterliegt dessen Sanktionen.147

Foucault ordnet damit sexuellen Praktiken nicht nur einen symbolischen Ort, die bürgerliche Ehe, zu, sondern auch einen physischen, das eheliche Bett. Das Bordell als Ort außerehelichen Geschlechtsverkehrs, der nicht auf Reproduktion ausgerichtet ist, sondern vielmehr auf dem ökonomischen Dienstleistungsprinzip beruht, wird durch die Normierung der Ehe und des Ehebettes folglich zur Heterotopie. Außerdem impliziert das obige Zitat, dass gesellschaftlich normierter Sex zwischen Männern und Frauen, also heteronormativ organisiert, stattzufinden habe, da er allein auf das Ziel biologischer Reproduktion ausgerichtet sei. Alle sexuellen Praktiken, die von dieser Norm abweichen, würden als ‚anormal‘ begriffen und dementsprechend staatlich sanktioniert. Die Normierung der Sexualität zur Vermehrung und Sicherung der Ressource Bevölkerung korreliere, wie Foucault feststellt, zudem mit der Entwicklung des Kapitalismus:

Die Abstimmung der Menschenakkumulation mit der Kapitalakkumulation, die Anpassung des Bevölkerungswachstums an die Expansion der Produktivkräfte und die Verteilung des Profits wurden auch durch die Ausübung der Bio-Macht in ihren vielfältigen Formen und Verfahren ermöglicht. Die Besetzung und Bewertung des lebenden Körpers, die Verwaltung und Verteilung seiner Kräfte waren unentbehrliche Voraussetzungen.148

Die staatliche Macht, die Foucault in seinen Überlegungen zur Biomacht beschreibt, sei damit zwar eine ‚von oben‘ ausgeführte Macht, allerdings generiere sie sich diskursiv über verschiedene Dispositive des Lebendigen. Das heißt, eine Staatsmacht, welche die Verfasstheit der Bevölkerung als Richtschnur betrachtet, werde auch von ökonomischen Dispositiven beeinflusst und vice versa. Diese seien wiederum nicht starr festgelegt, sondern historisch veränderbar.

Die Begriffe Biomacht und Biopolitik verwendet Foucault in seinen Ausführungen überwiegend synonym.149 In Der Wille zum Wissen (2016 [1976 franz.]) beschreibt er den historischen Wandel von einer Souveränitätsmacht, die auf den Staatskörper als Ansammlung von Untertanen baut, und einer Biomacht oder Biopolitik, die den Gesellschaftskörper als biologische Einheit und vor allem Ressource begreift. Damit geht auch eine fundamentale Verschiebung in Bezug auf Leben und Tod einher, denn während die Souveränitätsmacht noch auf den Tod als Disziplinierungsmaßnahme einzelner Subjekte setzte, folgt die Biopolitik der Prämisse, Leben zu erhalten und vielmehr dessen Entstehen und Ausprägung mithilfe verschiedener Machttechniken zu disziplinieren.150 Foucault schreibt dazu:

Der Souverän übt sein Recht über das Leben nur aus, indem er sein Recht zum Töten ausspielt – oder zurückhält. Er offenbart seine Macht über das Leben nur durch den Tod, den zu verlangen er imstande ist. Das sogenannte Recht ‚über Leben und Tod‘ ist in Wirklichkeit das Recht, sterben zu machen und leben zu lassen. Sein Symbol war ja das Schwert.151

Die fundamentale Machttechnologie des Souveräns richtete sich folglich gegen die Körper Einzelner. Er entschied, ob ein Untertan sein Leben weiterführen durfte oder nicht. In letzterem Fall stehe das Schwert des Souveräns symbolisch für dessen physische Potenz, das Leben eines Untertanen zu beenden. Diese Macht des Souveräns markiert „die Grenzlinie […], die die gehorsamen Untertanen von den Feinden des Souveräns scheidet“152. Im Gegensatz dazu richte sich Biopolitik auf den Fortbestand eines biologischen Gesellschaftskörpers, der sich aus vielen einzelnen Körpern zusammensetzt. Damit änderten sich auch die Techniken der Macht: Aus einer (mit dem Tod) strafenden wird eine leitende, führende Herrscherinstanz, die sich stark an der christlichen Pastoralmacht orientiert, die bei Onetti durch die Figur des Pfarrers Antón Bergner verkörpert wird und im 16./17. Jahrhundert als „eine Kunst, die Menschen zu regieren“ Eingang in das moderne Staatswesen fand.153 Mit Rückgriff auf die Anti-Machiavellistischen Schriften Guillaume de La Perrières betont Foucault, „daß der wahre Führer keinen Stachel brauche, das heißt kein Werkzeug, um zu töten, kein Schwert, um seine Regierung auszuüben. Er muß eher Geduld haben als Zorn, oder mehr noch: Nicht das Recht, zu töten, nicht das Recht, seine Stärke geltend zu machen darf das Wesentliche einer Führungsperson sein.“154 Die Biomacht des modernen Staates setzt damit weit früher an, indem sie sich grundsätzlich um eine Vermehrung, Erhaltung und Verwaltung der eigenen gesellschaftlichen ‚Biomasse‘ bemüht. Statt in Getreue und Staatsfeinde zu scheiden, normiere und ordne die Biomacht die einzelnen Gesellschaftskörper zu einem großen Ganzen:

Die Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung. […]. [Sie] charakterisiert eine Macht, deren höchste Funktion nicht mehr das Töten, sondern die vollständige Durchsetzung des Lebens ist. Die alte Mächtigkeit des Todes, in der sich die Souveränität symbolisierte, wird nun überdeckt durch die sorgfältige Verwaltung der Körper und die rechnerische Planung des Lebens.155

Biomacht operiert damit vermittels eines Wissens über die Lebensumstände. Sie generiert ihre Wirkmächtigkeit über eine Verwaltung des Lebendigen – im Gegensatz zu einer Verfügungsgewalt über den Tod, wie sie der Souverän innehält. Brausen als fiktive Schöpferinstanz setzt genau dort an: Indem er seinen Figuren verbietet zu sterben, bestimmt er über ihr Leben. So besteht Brausens Machttechnologie, die er gegenüber Díaz Grey und den anderen Figuren anwendet, eben gerade nicht darin, sie zu töten. Besonders ausgeprägt tritt diese Technologie in einem kategorischen Verbot von Abtreibungen zutage. Dies soll in Kapitel 4.3 näher ausgeführt werden. So gilt Selbstmord in Brausens moralischem Koordinatensystem als Todsünde und ‚Desertation‘, wie Díaz Grey in La muerte y la niña (1973) erläutert: „No le hablo de una destrucción total porque también eso sería pecado mortal. Y Brausen no perdona las deserciones.“ (MN 587)

 

Ein Regierungssystem, das laut Foucault auf Bevölkerung als strategische (oder, bezogen auf das Analysekorpus, wie Brausen als poetologische) Ressource baut, zielt also einerseits auf das Hervorbringen, Vermehren und die Pflege dieses Gesellschaftskörpers. Andererseits versucht es, dessen Produktion durch Regeln und Normen zu kontrollieren, d.h. staatlich zu lenken. Diesen Wechsel von einem Machtverständnis ‚von unten‘, d.h. der grundsätzlichen Negierung einer staatlichen Macht und der Betonung des anarchischen Moments von Macht, zu einer leitenden, führenden Staatsmacht, vollzieht Foucault in seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität in den 1970er Jahren, wie Brigitte Bargetz, Gundula Ludwig und Brigit Sauer konstatieren. Sie stellen dar, dass Foucaults Verständnis von Macht in seinen frühen Schriften vor allem als Gegenentwurf zu einem rein staatlichen, juridischen Machtverständnis konzipiert war. Dieses sei vor allem durch eine umfassende Relationalität gekennzeichnet, die eine Herrscherinstanz ausschließe. Macht durchdringe damit bei Foucault sowohl gesellschaftliche als auch private Kontexte und sei unabhängig von einer übergeordneten Distanz, welche die Macht ‚innehalte‘.156 Diese allumfassende Relationalität wurde teilweise als Beliebigkeit, im Sinne eines „Kampfes ‚jeder gegen jeden‘“157, interpretiert und bildet damit auch einen der drängendsten Kritikpunkte an Foucaults Machttheorie. Bargetz, Ludwig und Sauer arbeiten jedoch heraus, dass Foucaults Machtkonzeption das Dilemma der vorgeblich fehlenden Herrscherinstanz (welche sich aus einer Negierung staatlicher Hegemonie ergibt) mit der Einführung des Begriffs der Gouvernementalität löst.158 So definiere der moderne Staat beispielsweise, welches Leben grundsätzlich als schützens- und vermehrenswert anzusehen ist. Daraus ergebe sich, so Foucault, auch das Problem des Rassismus als Grundlage für eine Bevölkerungspolitik, die nicht mehr genealogisch, sondern genetisch argumentiert.159 Das heißt, Foucaults Rassismus-Verständnis zielt auf eine Biopolitik, die innerhalb des biologischen Gesellschaftskörpers ansetzt und in ihren Disziplinierungsmaßnahmen ‚das Gesunde‘ vom ‚Kranken‘ scheidet und diese Grenzen auch nach außen hin, d.h. im Krieg mit anderen, verteidigt.160 Innergesellschaftlich manifestieren sich diese Unterscheidungen zwischen krank und gesund wiederum räumlich – etwa in den bereits angesprochenen Disziplinierungsarchitekturen, die er als Heterotopien beschreibt. Im dritten Kapitel dieser Arbeit wird zu zeigen sein, inwieweit die dichotomische Unterscheidung in ‚krank‘ und ‚gesund‘, ‚schmutzig‘ und ‚sauber‘ den Machtdiskurs innerhalb Santa Marías prägt und welche Auswirkungen dies auf den Reproduktionsdiskurs hat.

2.3 Gendertheoretische Anschlüsse an Foucaults Gouvernementalitätsansatz

Entgegen einer allgemeinen Kritik an Foucaults ‚Genderblindheit‘ skizzieren Bargetz, Ludwig und Sauer mehrere feministische Anschlussmöglichkeiten an Foucaults Macht- und Gouvernementalitätsverständnis:161

Foucaults Theorem des Staates als Effekt von Praxen evoziert aus einer feministischen Perspektive die Frage, wie hegemoniale Konstruktionen von Geschlecht diese Praxen mitformen. Und das Theorem kann dazu dienen, Erklärungen für den androzentrischen, weißen, heteronormativen, ability-zentrierten, bürgerlichen Charakter des modernen westlichen Staates jenseits von essentialistischen Setzungen zu Geschlecht zu finden. Die androzentrische Ausgestaltung des Staates ist somit nicht Ausdruck von Männerherrschaft oder ein Spiegel des ideellen Gesamtpatriarchen, wie dies in frühen feministischen staatstheoretischen Arbeiten argumentiert wurde. Vielmehr wird die historisch-spezifische Rationalität des Staates durch in Praxen gelebte androzentrische, heteronormative, rassisierende, kapitalistische und ability-zentrierte Gouvernementalität begründbar. Nicht zuletzt lassen sich darüber Debatten um (heteronormative) Familien- und Reproduktionspolitiken sowie (vergeschlechtlichte) Sicherheitsdiskurse neu fassen, wenn diese mit Foucault als staatliche Praxen und Teil von Bevölkerungspolitik ausgewiesen werden […].162

Das Zitat adressiert zunächst die Bedeutung, die sozial konstruierte plurale Männlich- und Weiblichkeiten in Bezug auf Foucaults Machtbegriff haben, auch wenn er selbst dieses theoretische Potential nicht ausgeschöpft hat. Die Autor*innen verweisen auf die Möglichkeit, über Foucaults Gouvernementalitätsverständnis geschlechtsspezifische Akkumulationen von Macht, wie sie insbesondere patriarchale Strukturen aufweisen, aufzuschlüsseln. Ihr Anschlussvorschlag richtet sich damit gegen feministische Patriarchatstheorien, die eine bestimmte Männlichkeit als eindimensional und alleinursächlich für die Unterdrückung der Frau gelesen haben.163 Mit Foucault, so ihre Argumentation, ließen sich spezifisch androzentrische, heteronormative, rassisierende, kapitalistische und ability-zentrierte Strukturen und Verhaltensweisen als Effekte von Macht und nicht als konstitutiv für eine moderne westliche Regierungsform herausarbeiten. Der zweite Punkt, auf den das obige Zitat verweist, ist die geschlechterspezifische Adressierung, die Bio- oder Bevölkerungspolitik beinhaltet und die über eine gendersensible Perspektive sichtbar gemacht werden kann. Das heißt, mit Foucaults deskriptiver Methode, Machtstrukturen offenzulegen, lassen sich genderspezifische Ungleichheiten und Asymmetrien ablesen. Ausführlich erläutert wird dieser Anschluss von Isabell Lorey in ihrem Beitrag "Das Gefüge der Macht" (2015). Nach der Analyse der konzeptuellen Veränderungen, die der Begriff der Macht innerhalb des Foucault’schen Gesamtwerks erfahren hat, fokussiert Lorey genderabhängige Strategien von Gouvernementalität und insbesondere solche, die sich auf die Lenkung weiblicher Sexualität sowie weiblicher Gebär- und Erziehungsfähigkeit beziehen. Sie macht Foucaults Machtbegriff damit für die Untersuchung weiblicher Widerständigkeit und Selbstbehauptung innerhalb eines, so eine der initialen Thesen dieser Arbeit, männlich dominierten Diskursraums Santa María fruchtbar. Als Hauptanknüpfungspunkt für ihre feministische Re-Lektüre der Foucault’schen Machtgefüge nennt Lorey die Verwendung des Wortes „sexe“. Sie übersetzt „sexe“, anders als die bei Suhrkamp erschienene deutsche Übersetzung seines Gesamtwerks, als ‚Geschlecht‘ und leitet daraus eine bei Foucault zwar nicht explizit ausgeführte, jedoch grundsätzliche Offenheit bezüglich gendertheoretischer Zugänge ab. Sie schreibt:

Mit Geschlecht bezeichne ich im Folgenden jene identitäre Materialisierung biopolitischer Machtverhältnisse, die Foucault im Französischen als sexe bezeichnet und die in den deutschen Übersetzungen seiner Texte in der Regel missverständlich mit dem Wort ‚Sex‘ angegeben ist. Sexe/‚Geschlecht‘ umfasst hier die Konstruktion eines vereindeutigten und vereinheitlichten biologischen und sozialen Geschlechts mitsamt einer heteronormativen Sexualität.164

Diese heteronormative Sexualität, die Lorey anspricht, thematisiert Foucault vor allem über ihre Normierung innerhalb der bürgerlichen Familie. Diese fungiere als „Element innerhalb der Bevölkerung und als grundlegendes Relais zu deren Regierung.“165 In seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität erläutere Foucault die Transformation der bürgerlichen Familien von einem „Modell zum Instrument der Regierung“166 folgendermaßen:

[D]ie Regierungskunst konnte bis zum Aufkommen der Bevölkerungsproblematik nur vom Modell der Familie, von der als Verwaltung der Familie verstandenen Ökonomie her gedacht werden. Von dem Moment an, wo die Bevölkerung im Gegenteil als etwas auftaucht, das sich durchaus nicht auf die Familie reduzieren läßt, wechselt die Familie im Verhältnis zur Bevölkerung folglich auf eine niedrigere Ebene; […] Sie ist also kein Modell mehr, sie ist ein Segment, ein einfach deshalb privilegiertes Segment, weil man, sobald man bei der Bevölkerung hinsichtlich des Sexualverhaltens, hinsichtlich der Demographie, der Kinderzahl, hinsichtlich der Konsumtion etwas erreichen will, sich an die Familie wenden muß.167

Die bürgerliche Familie als symbolischer Ort biologischer Reproduktion, Erziehung und privater Fürsorge wurde somit zum wichtigsten Hebel biopolitischer Strategien. Über die Steuerung der bürgerlichen Familie ließen sich etwa medizinische Erkenntnisse zur Vermeidung von Kindersterblichkeit in den Gesellschaftskörper einspeisen. Familienpolitik wurde damit zum Schlüsselelement der Biopolitik – wodurch letztere als immanent geschlechterspezifisch gekennzeichnet war.168

Wie Massey und Beard verweist auch Lorey auf die vergeschlechtlichte Dichotomie von privatem und öffentlichem Raum: So werde mit der von Foucault herausgearbeiteten Fokussierung der Familie als Kernelement biopolitischer Gouvernementalität der Gegensatz zwischen öffentlichem und privatem Bereich weiter geschlechtsspezifisch aufgeladen. Daraus ergibt sich folgende geschlechterspezifische räumliche Segmentation: Der Haushalt und insbesondere das ‚Innere des Hauses‘ fallen in den Aufgabenbereich der Frau, der dem Hause ‚äußerliche‘ Bereich in den des Mannes. Mit Foucault gesprochen lässt sich die Zuordnung der Frau zum Bereich des Hauses als spezifische Machttechnologie begreifen. Diese zielten, wie Lorey weiter schreibt, auf die Normierung der Frau als „‚gute[…]‘, das heißt, ‚natürliche[…]‘ biopolitische[…] M[u]tter[…] und Ehefrau[…]“.169

Doch welche Position innerhalb der männlich dominierten Ordnung Santa Marías nimmt dann die Frau ein, die keine Mutter ist? In welchem Machtverhältnis stehen sich kinderlose Frauen und Männer gegenüber, wenn Reproduktion und Elternschaft wie in den ausgewählten Texten Onettis als dysfunktional dargestellt werden? Diesen Fragen soll, mit Fokus auf die Frauen-Figuren, im fünften Kapitel dieser Arbeit nachgegangen werden.