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Read the book: «Heidis Lehr- und Wanderjahre», page 10

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»Pah, warum bist du denn aber nicht lieber dort geblieben, wenn man dir‘s erlaubt hat, heimzugehen?«

»Weil ich tausendmal lieber heimwill zum Großvater auf die Alm als sonst alles auf der Welt.«

»Denkst vielleicht anders, wenn du hinaufkommst«, brummte der Bäcker; »nimmt mich aber doch wunder«, sagte er dann zu sich selbst, »es kann wissen, wie‘s ist.«

Nun fing er an zu pfeifen und sagte nichts mehr, und Heidi schaute um sich und fing an innerlich zu zittern vor Erregung, denn es erkannte die Bäume am Wege, und drüben standen die hohen Zacken des Falknis-Berges und schauten zu ihm herüber, so als grüßten sie es wie gute alte Freunde; und Heidi grüßte wieder, und mit jedem Schritt vorwärts wurde Heidis Erwartung gespannter, und es meinte, es müsse vom Wagen herunterspringen und aus allen Kräften laufen, bis es ganz oben wäre. Aber es blieb doch still sitzen und rührte sich nicht, aber alles zitterte an ihm. Jetzt fuhren sie im Dörfli ein, eben schlug die Glocke fünf Uhr. Augenblicklich sammelte sich eine Gesellschaft von Kindern und Frauen um den Wagen herum, und ein paar Nachbarn traten auch noch herzu, denn der Koffer und das Kind auf des Bäckers Wagen hatten die Aufmerksamkeit aller Umwohnenden auf sich gezogen, und jeder wollte wissen, woher und wohin und wem beide zugehörten. Als der Bäcker Heidi heruntergehoben hatte, sagte es eilig: »Danke, der Großvater holt dann schon den Koffer«, und wollte davonrennen. Aber von allen Seiten wurde es festgehalten, und eine Menge von Stimmen fragten alle auf einmal, jede etwas Eigenes. Heidi drängte sich mit einer solchen Angst auf dem Gesichte durch die Leute, dass man ihm unwillkürlich Platz machte und es laufen ließ, und einer sagte zum anderen: »Du siehst ja, wie es sich fürchtet, es hat auch alle Ursache.« Und dann fingen sie noch an, sich zu erzählen, wie der Alm-Öhi seit einem Jahr noch viel ärger geworden sei als vorher und mit keinem Menschen mehr ein Wort rede und ein Gesicht mache, als wolle er am liebsten jeden umbringen, der ihm in den Weg komme, und wenn das Kind auf der ganzen Welt noch wüsste wohin, so liefe es nicht in das alte Drachennest hinauf. Aber hier fiel der Bäcker in das Gespräch ein und sagte, er werde wohl mehr wissen als sie alle, und erzählte dann sehr geheimnisvoll, wie ein Herr das Kind bis nach Maienfeld gebracht und es ganz freundlich entlassen habe und auch gleich ohne Markten ihm den geforderten Fahrpreis und dazu noch ein Trinkgeld gegeben habe, und überhaupt könne er sicher sagen, dass es dem Kind wohl genug gewesen sei, wo es war, und es selbst begehrt habe, zum Großvater zurückzugehen. Diese Nachricht brachte eine große Verwunderung hervor und wurde nun gleich im ganzen Dörfli so verbreitet, dass noch am gleichen Abend kein Haus daselbst war, in dem man nicht davon redete, dass das Heidi aus allem Wohlleben zum Großvater zurückbegehrt habe.

Heidi lief vom Dörfli bergan, so schnell es nur konnte; von Zeit zu Zeit musste es aber plötzlich stille stehen, denn es hatte ganz den Atem verloren; sein Korb am Arm war doch ziemlich schwer, und dazu ging es nun immer steiler, je höher hinauf es ging. Heidi hatte nur noch einen Gedanken: »Wird auch die Großmutter noch auf ihrem Plätzchen sitzen am Spinnrad in der Ecke, ist sie auch nicht gestorben unterdessen?« Jetzt erblickte Heidi die Hütte oben in der Vertiefung an der Alm, sein Herz fing an zu klopfen, Heidi rannte noch mehr, immer mehr und immer lauter schlug ihm das Herz. Jetzt war es oben — vor Zittern konnte es fast die Tür nicht aufmachen — doch jetzt — es sprang hinein bis mitten in die kleine Stube und stand da, völlig außer Atem, und brachte keinen Ton hervor.

»Ach du mein Gott«, tönte es aus der Ecke hervor, »so sprang unser Heidi herein, ach, wenn ich es noch ein Mal im Leben bei mir haben könnte! Wer ist hereingekommen?«

»Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja«, rief Heidi jetzt und stürzte nach der Ecke und gleich auf seine Knie zu der Großmutter heran, fasste ihren Arm und ihre Hände und legte sich an sie und konnte vor Freude gar nichts mehr sagen. Erst war die Großmutter so überrascht, dass auch sie kein Wort hervorbringen konnte; dann fuhr sie mit der Hand streichelnd über Heidis Kraushaare hin, und nun sagte sie ein Mal über das andere: »Ja, ja, das sind seine Haare und es ist ja seine Stimme, ach du lieber Gott, dass du mich das noch erleben lässt!« Und aus den blinden Augen fielen ein paar große Freudentränen auf Heidis Hand nieder. »Bist du‘s auch, Heidi, bist du auch sicher wieder da?«

»Ja, ja, sicher, Großmutter«, rief Heidi nun mit aller Zuversicht, »weine nur nicht, ich bin ganz gewiss wieder da und komme alle Tage zu dir und gehe nie wieder fort, und du musst auch manchen Tag kein hartes Brot mehr essen, siehst du, Großmutter, siehst du?«

Und Heidi packte nun aus seinem Korb ein Brötchen nach dem andern aus, bis es alle zwölf auf dem Schoß der Großmutter aufgehäuft hatte.

»Ach Kind! Ach Kind! Was bringst du denn für einen Segen mit!«, rief die Großmutter aus, als es nicht enden wollte mit den Brötchen und immer noch eines folgte. »Aber der größte Segen bist du mir doch selber, Kind!« Dann griff sie wieder in Heidis krause Haare und strich über seine heißen Wangen und sagte wieder: »Sag noch ein Wort, Kind, sag noch etwas, dass ich dich hören kann.«

Heidi erzählte nun der Großmutter, welche große Angst es habe ausstehen müssen, sie sei vielleicht gestorben unterdessen und habe nun gar nie die weißen Brötchen bekommen, und es könne nie, nie mehr zu ihr gehen.

Jetzt trat Peters Mutter herein und blieb einen Augenblick unbeweglich stehen vor Erstaunen. Dann rief sie: »Sicher, es ist das Heidi, wie kann auch das sein!«

Heidi stand auf und gab ihr die Hand, und die Brigitte konnte sich gar nicht genug verwundern darüber, wie Heidi aussehe, und ging um das Kind herum und sagte: »Großmutter, wenn du doch nur sehen könntest, was für ein schönes Röcklein das Heidi hat und wie es aussieht; man kennt es fast nicht mehr. Und das Federnhütlein auf dem Tisch gehört dir auch noch? Setz es doch einmal auf, so kann ich sehen, wie du drin aussiehst.«

»Nein, ich will nicht«, erklärte Heidi, »du kannst es haben, ich brauche es nicht mehr, ich habe schon noch mein eigenes.« Damit machte Heidi sein rotes Bündelchen auf und nahm sein altes Hütchen daraus hervor, das auf der Reise zu den Knicken, die es schon vorher gehabt, noch einige bekommen hatte. Aber das kümmerte das Heidi wenig; es hatte ja nicht vergessen, wie der Großvater beim Abschied nachgerufen hatte, in einem Federnhut wolle er es niemals sehen; darum hatte Heidi sein Hütchen so sorgfältig aufgehoben, denn es dachte ja immer ans Heimgehen zum Großvater. Aber die Brigitte sagte, so einfältig müsse es nicht sein, es sei ja ein prächtiges Hütchen, das nehme sie nicht; man könnte es ja etwa dem Töchterlein vom Lehrer im Dörfli verkaufen und noch viel Geld bekommen, wenn es das Hütlein nicht tragen wolle. Aber Heidi blieb bei seinem Vorhaben und legte das Hütchen leise hinter die Großmutter in den Winkel, wo es ganz verborgen war. Dann zog Heidi auf einmal sein schönes Röcklein aus, und über das Unterröckchen, in dem es nun mit bloßen Armen dastand, band es das rote Halstuch, und nun fasste es die Hand der Großmutter und sagte: »Jetzt muss ich heim zum Großvater, aber morgen komm ich wieder zu dir; gute Nacht, Großmutter.«

»Ja, komm auch wieder, Heidi, komm auch morgen wieder«, bat die Großmutter und drückte seine Hand zwischen den ihrigen und konnte das Kind fast nicht loslassen.

»Warum hast du denn dein schönes Röcklein ausgezogen?«, fragte die Brigitte.

»Weil ich lieber so zum Großvater will, sonst kennt er mich vielleicht nicht mehr, du hast mich ja auch fast nicht gekannt darin.«

Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Tür hinaus, und hier sagte sie ein wenig geheimnisvoll zu ihm: »Den Rock hättest du schon anbehalten können, er hätte dich doch gekannt; aber sonst musst du dich in Acht nehmen; der Peterli sagt, der Alm-Öhi sei jetzt immer bös und rede kein Wort mehr.«

Heidi sagte ›gute Nacht‹ und stieg die Alm hinan mit seinem Korb am Arm. Die Abendsonne leuchtete ringsum auf die grüne Alm, und jetzt war auch drüben das große Schneefeld an der Schesaplana sichtbar geworden und strahlte herüber. Heidi musste alle paar Schritte wieder stille stehen und sich umkehren, denn die hohen Berge hatte es im Rücken beim Hinaufsteigen. Jetzt fiel ein roter Schimmer vor seinen Füßen auf das Gras, es kehrte sich um, da — so hatte es die Herrlichkeit nicht mehr im Sinn gehabt und auch nie so im Traum gesehen — die Felshörner am Falknis flammten zum Himmel auf, das weite Schneefeld glühte und rosenrote Wolken zogen darüber hin; das Gras rings auf der Alm war golden, von allen Felsen flimmerte und leuchtete es nieder und unten schwamm weithin das ganze Tal in Duft und Gold. Heidi stand mitten in der Herrlichkeit, und vor Freude und Wonne liefen ihm die hellen Tränen die Wangen herunter, und es musste die Hände falten und in den Himmel hinaufschauen und ganz laut dem lieben Gott danken, dass er es wieder heimgebracht hatte und dass alles, alles noch so schön sei und noch viel schöner, als es gewusst hatte, und dass alles wieder ihm gehöre; und Heidi war so glücklich und so reich in all der großen Herrlichkeit, dass es gar nicht Worte fand, dem lieben Gott genug zu danken. Erst als das Licht ringsum verglühte, konnte Heidi wieder von der Stelle weg; nun rannte es aber so den Berg hinan, dass es gar nicht lange dauerte, so erblickte es oben die Tannenwipfel über dem Dache und jetzt das Dach und die ganze Hütte, und auf der Bank an der Hütte saß der Großvater und rauchte sein Pfeifchen, und über die Hütte her wogten die alten Tannenwipfel und raschelten im Abendwind. Jetzt rannte das Heidi noch mehr, und bevor der Alm-Öhi nur recht sehen konnte, was da herankam, stürzte das Kind schon auf ihn hin, warf seinen Korb auf den Boden und umklammerte den Alten, und vor Aufregung des Wiedersehens konnte es nichts sagen, als nur immer ausrufen: »Großvater! Großvater! Großvater!«

Der Großvater sagte auch nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum erstenmal wieder die Augen nass geworden, und er musste mit der Hand darüber fahren. Dann löste er Heidis Arme von seinem Hals, setzte das Kind auf seine Knie und betrachtete es einen Augenblick. »So, bist du wieder heimgekommen, Heidi«, sagte er dann; »wie ist das? Besonders hoffärtig siehst du nicht aus, haben sie dich fortgeschickt?«

»O nein, Großvater«, fing Heidi nun mit Eifer an, »das musst du nicht glauben, sie waren alle so gut, die Klara und die Großmama und der Herr Sesemann; aber siehst du, Großvater, ich konnte es fast gar nicht mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim sein könnte, und ich habe manchmal gemeint, ich müsse ganz ersticken, so hat es mich gewürgt; aber ich habe gewiss nichts gesagt, weil es undankbar war. Aber dann auf einmal an einem Morgen rief mich der Herr Sesemann ganz früh — aber ich glaube, der Herr Doktor war schuld daran — aber es steht vielleicht alles in dem Brief« — damit sprang Heidi auf den Boden und holte seinen Brief und seine Rolle aus dem Korb herbei und legte beide in die Hand des Großvaters.

»Das gehört dir«, sagte dieser und legte die Rolle neben sich auf die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch: Ohne ein Wort zu sagen, steckte er dann das Blatt in die Tasche.

»Meinst, du könntest auch noch Milch trinken mit mir, Heidi?«, fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm, um in die Hütte einzutreten. »Aber nimm dort dein Geld mit dir, da kannst du ein ganzes Bett daraus kaufen und Kleider für ein paar Jahre.«

»Ich brauch es gewiss nicht, Großvater«, versicherte Heidi; »ein Bett hab ich schon, und Kleider hat mir Klara so viele eingepackt, dass ich gewiss nie mehr andere brauche.«

»Nimm‘s, nimm‘s, und leg‘s in den Schrank, du wirst‘s schon einmal brauchen können.«

Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in die Hütte hinein, wo es vor Freude über das Wiedersehen in alle Winkel sprang und die Leiter hinauf — aber da stand es plötzlich still und rief in Betroffenheit von oben herunter: »Oh, Großvater, ich habe kein Bett mehr!«

»Kommt schon wieder«, tönte es von unten herauf, »wusste ja nicht, dass du wieder heimkommst; jetzt komm zur Milch!«

Heidi kam herunter und setzte sich auf seinen hohen Stuhl am alten Platze, und nun erfasste es sein Schüsselchen und trank mit einer Begierde, als wäre etwas so Köstliches noch nie in seinen Bereich gekommen, und als es mit einem tiefen Atemzug das Schüsselchen hinstellte, sagte es: »So gut wie unsere Milch ist doch gar nichts auf der Welt, Großvater.«

Jetzt ertönte draußen ein schriller Pfiff; wie der Blitz schoss Heidi zur Tür hinaus. Da kam die ganze Schar der Geißen hüpfend, springend, Sätze machend von der Höhe herunter, mittendrin der Peter. Als er Heidi ansichtig wurde, blieb er auf der Stelle völlig wie angewurzelt stehen und starrte es sprachlos an. Heidi rief: »Guten Abend, Peter!«, und stürzte mitten in die Geißen hinein: »Schwänli! Bärli! Kennt ihr mich noch?«, und die Geißlein mussten seine Stimme gleich erkannt haben, denn sie rieben ihre Köpfe an Heidi und fingen an leidenschaftlich zu meckern vor Freude, und Heidi rief alle nacheinander beim Namen, und alle rannten wie wild durcheinander und drängten sich zu ihm heran; der ungeduldige Distelfink sprang hoch auf und über zwei Geißen weg, um gleich in die Nähe zu kommen, und sogar das schüchterne Schneehöppli drängte mit einem ziemlich eigensinnigen Bohren den großen Türk auf die Seite, der nun ganz verwundert über die Frechheit dastand und seinen Bart in die Luft hob, um zu zeigen, dass er es sei.

Heidi war außer sich vor Freude, alle die alten Gefährten wieder zu haben; es umarmte das kleine, zärtliche Schneehöppli wieder und wieder und streichelte den stürmischen Distelfink und wurde vor großer Liebe und Zutraulichkeit der Geißen hin und her gedrängt und geschoben, bis es nun ganz in Peters Nähe kam, der noch immer auf demselben Platze stand.

»Komm herunter, Peter, und sag mir einmal guten Abend!«, rief ihm Heidi jetzt zu.

»Bist denn wieder da?«, brachte er nun endlich in seinem Erstaunen heraus, und nun kam er herzu und nahm Heidis Hand, die dieses ihm schon lange hingehalten hatte, und nun fragte er, so wie er immer getan hatte bei der Heimkehr am Abend: »Kommst morgen wieder mit?«

»Nein, morgen nicht, aber übermorgen vielleicht, denn morgen muss ich zur Großmutter.«

»Es ist recht, dass du wieder da bist«, sagte der Peter und verzog sein Gesicht auf alle Seiten vor ungeheurem Vergnügen, dann schickte er sich zur Heimfahrt an; aber heute wurde es ihm so schwer wie noch nie mit seinen Geißen, denn als er sie endlich mit Locken und Drohen so weit gebracht hatte, dass sie sich um ihn sammelten, und Heidi, den einen Arm um Schwänlis und den andern um Bärlis Kopf gelegt, davonspazierte, da kehrten mit einem Male alle wieder um und liefen den dreien nach. Heidi musste mit seinen zwei Geißen in den Stall eintreten und die Tür zumachen, sonst wäre der Peter niemals mit seiner Herde fortgekommen. Als das Kind dann in die Hütte zurückkam, da sah es sein Bett schon wieder aufgerichtet, prächtig hoch und duftend, denn das Heu war noch nicht lange hereingeholt, und darüber hatte der Großvater ganz sorgfältig die sauberen Leintücher gebreitet. Heidi legte sich mit großer Lust hinein und schlief so herrlich, wie es ein ganzes Jahr lang nicht geschlafen hatte. Während der Nacht verließ der Großvater wohl zehnmal sein Lager und stieg die Leiter hinauf und lauschte sorgsam, ob Heidi auch schlafe und nicht unruhig werde, und suchte am Loch nach, wo sonst der Mond hereinkam auf Heidis Lager, ob auch das Heu noch fest drinnen sitze, das er hineingestopft hatte, denn von nun an durfte der Mondschein nicht mehr hereinkommen. Aber Heidi schlief in einem Zuge fort und wanderte keinen Schritt herum, denn sein großes, brennendes Verlangen war gestillt worden: Es hatte alle Berge und Felsen wieder im Abendglühen gesehen, es hatte die Tannen rauschen gehört, es war wieder daheim auf der Alm.

Am Sonntag, wenn‘s läutet

Heidi stand unter den wogenden Tannen und wartete auf den Großvater, der mitgehen und den Koffer vom Dörfli heraufholen wollte, während es bei der Großmutter wäre. Das Kind konnte es fast nicht erwarten, die Großmutter wieder zu sehen und zu hören, wie ihr die Brötchen geschmeckt hatten, und doch wurde ihm wieder die Zeit nicht lang, denn es konnte ja nicht genug die heimatlichen Töne von dem Tannenrauschen über ihm und das Duften und Leuchten der grünen Weiden und der goldenen Blumen darauf eintrinken.

Jetzt trat der Großvater aus der Hütte, schaute noch einmal rings um sich und sagte dann mit zufriedenem Ton: »So, nun können wir gehen.«

Denn es war Sonnabend heut, und an dem Tage machte der Alm-Öhi alles sauber und in Ordnung in der Hütte, im Stall und ringsherum, das war seine Gewohnheit, und heut hatte er den Morgen dazu genommen, um gleich nachmittags mit Heidi ausziehen zu können, und so sah nun alles ringsherum gut und zu seiner Zufriedenheit aus. Bei der Geißenpeter-Hütte trennten sie sich, und Heidi sprang hinein. Schon hatte die Großmutter seinen Schritt gehört und rief ihm liebevoll entgegen: »Kommst du, Kind? Kommst du wieder?«

Dann erfasste sie Heidis Hand und hielt sie ganz fest, denn immer noch fürchtete sie, das Kind könnte ihr wieder entrissen werden. Und nun musste die Großmutter erzählen, wie die Brötchen geschmeckt hätten, und sie sagte, sie habe sich so daran erlabt, dass sie meine, sie sei heute viel kräftiger als lang nicht mehr, und Peters Mutter fügte hinzu, die Großmutter habe vor lauter Sorge, sie werde zu bald fertig damit, nur ein einziges Brötchen essen wollen, gestern und heut zusammen, und sie käme gewiss noch ziemlich zu Kräften, wenn sie so acht Tage lang hintereinander jeden Tage eines essen wollte. Heidi hörte der Brigitte mit Aufmerksamkeit zu und blieb jetzt noch eine Zeit lang nachdenklich. Nun hatte es seinen Weg gefunden. »Ich weiß schon, was ich mache, Großmutter«, sagte es in freudigem Eifer; »ich schreibe der Klara einen Brief und dann schickt sie mir gewiss noch einmal so viel Brötchen, wie da sind, oder zweimal, denn ich hatte schon einen großen Haufen ganz gleiche im Kasten, und als man mir sie weggenommen hatte, sagte Klara, sie gebe mir gerade so viele wieder, und das tut sie schon.«

»Ach Gott«, sagte die Brigitte, »das ist eine gute Meinung; aber denk, sie werden auch hart. Wenn man nur hier und da einen übrigen Batzen hätte, der Bäcker unten im Dörfli macht auch solche, aber ich vermag kaum das schwarze Brot zu bezahlen.«

Jetzt schoss ein heller Freudenstrahl über Heidis Gesicht: »Oh, ich habe furchtbar viel Geld, Großmutter«, rief es jubelnd aus und hüpfte vor Freuden in die Höhe, »jetzt weiß ich, was ich damit mache! Alle, alle Tage musst du ein neues Brötchen haben und am Sonntage zwei, und der Peter kann sie heraufbringen vom Dörfli.«

»Nein, nein, Kind!«, wehrte die Großmutter; »das kann nicht sein, das Geld hast du nicht dazu bekommen, du musst es dem Großvater geben, er sagt dir dann schon, was du damit machen musst.«

Aber Heidi ließ sich nicht stören in seiner Freude, es jauchzte und hüpfte in der Stube herum und rief ein Mal übers andere: »Jetzt kann die Großmutter jeden Tag ein Brötchen essen und wird wieder ganz kräftig, und — oh, Großmutter«, rief es mit neuem Jubel, »wenn du dann so gesund wirst, so wird es dir gewiss auch wieder hell, es ist vielleicht nur, weil du so schwach bist.«

Die Großmutter schwieg still, sie wollte des Kindes Freude nicht trüben. Bei seinem Herumhüpfen fiel dem Heidi auf einmal das alte Liederbuch der Großmutter in die Augen, und es kam ihm ein neuer freudiger Gedanke: »Großmutter, jetzt kann ich auch ganz gut lesen; soll ich dir einmal ein Lied lesen aus deinem alten Buch?«

»O ja«, bat die Großmutter freudig überrascht; »kannst du das auch wirklich, Kind, kannst du das?«

Heidi war auf einen Stuhl geklettert und hatte das Buch mit einer dicken Staubwolke heruntergezogen, denn es hatte lange unberührt gelegen da oben; nun wischte es Heidi sauber ab, setzte sich damit auf seinen Schemel zur Großmutter hin und fragte, was es nun lesen solle.

»Was du willst, Kind, was du willst«, und mit gespannter Erwartung saß die Großmutter da und hatte ihr Spinnrad ein wenig von sich geschoben.

Heidi blätterte und las leise hier und da eine Linie: »jetzt kommt etwas von der Sonne, das will ich dir lesen, Großmutter.« Und Heidi begann und wurde selbst immer eifriger und immer wärmer, während es las:

»Die güldne Sonne

Voll Freud und Wonne

Bringt unsern Grenzen

Mit ihrem Glänzen

Ein herzerquickendes, liebliches Licht.

Mein Haupt und Glieder

Die lagen darnieder;

Aber nun steh ich,

Bin munter und fröhlich,

Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.

Mein Auge schauet,

Was Gott gebauet

Zu seinen Ehren,

Und uns zu lehren,

Wie sein Vermögen sei mächtig und groß.

Und wo die Frommen

Dann sollen hinkommen,

Wenn sie mit Frieden

Von hinnen geschieden

Aus dieser Erde vergänglichem Schoß.

Alles vergehet,

Gott aber stehet

Ohn alles Wanken,

Seine Gedanken,

Sein Wort und Wille hat ewigen Grund.

Sein Heil und Gnaden

Die nehmen nicht Schaden,

Heilen im Herzen,

Die tödlichen Schmerzen,

Halten uns zeitlich und ewig gesund.

Kreuz und Elende —

Das nimmt ein Ende,

Nach Meeresbrausen

Und Windessausen

Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.

Freude die Fülle

Und selige Stille

Darf ich erwarten

Im himmlischen Garten,

Dahin sind meine Gedanken gericht‘.«

Die Großmutter saß still da mit gefalteten Händen, und ein Ausdruck unbeschreiblicher Freude, so wie ihn Heidi nie an ihr gesehen hatte, lag auf ihrem Gesicht, obschon ihr die Tränen die Wangen herabliefen. Als Heidi schwieg, bat sie mit Verlangen: »Oh, noch einmal, Heidi, lass es mich noch einmal hören:

›Kreuz und Elende

Das nimmt ein Ende‹ —«

Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener Freude und Verlangen:

»Kreuz und Elende —

Das nimmt ein Ende,

Nach Meeresbrausen

Und Windessausen

Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.

Freude die Fülle

Und selige Stille

Darf ich erwarten

Im himmlischen Garten,

Dahin sind meine Gedanken gericht‘.«

»O Heidi, das macht hell! Das macht so hell im Herzen! Oh, wie hast du mir wohl gemacht, Heidi!«

Ein Mal ums andere sagte die Großmutter die Worte der Freude, und Heidi strahlte vor Glück und musste sie nur immer ansehen, denn so hatte es die Großmutter nie gesehen. Sie hatte gar nicht mehr das alte trübselige Gesicht, sondern schaute so freudig und dankend auf, als sähe sie schon mit neuen, hellen Augen in den schönen himmlischen Garten hinein.

Jetzt klopfte es am Fenster, und Heidi sah den Großvater draußen, der ihm winkte, mit heimzukommen. Es folgte schnell, aber nicht ohne die Großmutter zu versichern, morgen komme es wieder, und auch wenn es mit Peter auf die Weide gehe, so komme es doch im halben Tag zurück; denn dass es der Großmutter wieder hell machen konnte und sie wieder fröhlich wurde, das war nun für Heidi das allergrößte Glück, das es kannte, noch viel größer, als auf der sonnigen Weide und bei den Blumen und Geißen zu sein. Die Brigitte lief dem Heidi unter die Tür nach mit Rock und Hut, dass es seine Habe mitnehme. Den Rock nahm es auf den Arm, denn der Großvater kenne es jetzt schon, dachte es bei sich; aber den Hut wies es hartnäckig zurück, die Brigitte sollte ihn nur behalten, es setze ihn nie, nie mehr auf den Kopf. Heidi war so erfüllt von seinen Erlebnissen, dass es gleich dem Großvater alles erzählen musste, was ihm das Herz erfreute, dass man die weißen Brötchen auch unten im Dörfli für die Großmutter holen könne, wenn man nur Geld habe, und dass es der Großmutter auf einmal so hell und wohl geworden war, und wie Heidi das alles zu Ende geschildert hatte, kehrte es wieder zum Ersten zurück und sagte ganz zuversichtlich: »Gelt, Großvater, wenn die Großmuttter schon nicht will, so gibst du mir doch alles Geld in der Rolle, dass ich dem Peter jeden Tag ein Stück geben kann zu einem Brötchen und am Sonntag zwei?«

»Aber das Bett, Heidi?«, sagte der Großvater; »ein rechtes Bett für dich wäre gut, und nachher bleibt schon noch für manches Brötchen.«

Aber Heidi ließ dem Großvater keine Ruhe und bewies ihm, dass es auf seinem Heubett viel besser schlafe, als es jemals in seinem Kissenbett in Frankfurt geschlafen habe, und bat so eindringlich und unablässig, dass der Großvater zuletzt sagte: »Das Geld ist dein, mach, was dich freut; du kannst der Großmutter manches Jahr lang Brot holen dafür.«

Heidi jauchzte auf: »O juhe! Nun muss die Großmutter gar nie mehr hartes, schwarzes Brot essen, und, o Großvater! Nun ist doch alles so schön wie noch gar nie, seit wir leben!«, und Heidi hüpfte hoch auf an der Hand des Großvaters und jauchzte in die Luft hinauf wie die fröhlichen Vögel des Himmels. Aber auf einmal wurde es ganz ernsthaft und sagte: »Oh, wenn nun der liebe Gott gleich auf der Stelle getan hätte, was ich so stark erbetete, dann wäre doch alles nicht so geworden, ich wäre nur gleich wieder heimgekommen und hätte der Großmutter nur wenige Brötchen gebracht und hätte ihr nicht lesen können, was ihr wohl macht; aber der liebe Gott hatte schon alles ausgedacht, so viel schöner, als ich es wusste; die Großmama hat es mir gesagt, und nun ist alles so gekommen. Oh, wie bin ich froh, dass der liebe Gott nicht nachgab, wie ich so bat und jammerte! Aber jetzt will ich immer so beten, wie die Großmama sagte, und dem lieben Gott immer danken, und wenn er etwas nicht tut, das ich erbeten will, dann will ich gleich denken: Es geht gewiss wieder wie in Frankfurt, der liebe Gott denkt gewiss etwas viel Besseres aus. Aber wir wollen auch alle Tage beten, gelt Großvater, und wir wollen es nie mehr vergessen, damit der liebe Gott uns auch nicht vergisst.«

»Und wenn‘s einer doch täte?«, murmelte der Großvater.

»Oh, dem geht‘s nicht gut, denn der liebe Gott vergisst ihn dann auch und lässt ihn ganz laufen, und wenn es ihm einmal schlecht geht und er jammert, so hat kein Mensch Mitleid mit ihm, sondern alle sagen nur: Er ist ja zuerst vom lieben Gott weggelaufen, nun lässt ihn der liebe Gott auch gehen, der ihm helfen könnte.«

»Das ist wahr, Heidi, woher weißt du das?«

»Von der Großmama, sie hat mir alles erklärt.«

Der Großvater ging eine Weile schweigend weiter. Dann sagte er, seine Gedanken verfolgend, vor sich hin: »Und wenn‘s einmal so ist, dann ist es so; zurück kann keiner, und wen der Herrgott vergessen hat, den hat er vergessen.«

»O nein, Großvater, zurück kann einer, das weiß ich auch von der Großmama, und dann geht es so wie in der schönen Geschichte in meinem Buch, aber die weißt du nicht; jetzt sind wir aber gleich daheim, und dann wirst du schon erfahren, wie schön die Geschichte ist.«

Heidi strebte in seinem Eifer rascher und rascher die letzte Steigung hinan, und kaum waren sie oben angelangt, als es des Großvaters Hand losließ und in die Hütte hineinrannte. Der Großvater nahm den Korb von seinem Rücken, in den er die Hälfte der Sachen aus dem Koffer hineingestoßen hatte, denn den ganzen Koffer heraufzubringen wäre ihm zu schwer gewesen. Dann setzte er sich nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbeigerannt, sein großes Buch unter dem Arm: »Oh, das ist recht, Großvater, dass du schon dasitzt«, und mit einem Satz war Heidi an seiner Seite und hatte schon seine Geschichte aufgeschlagen, denn die hatte es schon so oft und immer wieder gelesen, dass das Buch von selbst aufging an dieser Stelle. Jetzt las Heidi mit großer Teilnahme von dem Sohne, der es gut hatte daheim, wo draußen auf des Vaters Feldern die schönen Kühe und Schäflein weideten und er in einem schönen Mäntelchen, auf seinen Hirtenstab gestützt, bei ihnen auf der Weide stehen und dem Sonnenuntergang zusehen konnte, wie es alles auf dem Bilde zu sehen war. »Aber auf einmal wollte er sein Hab und Gut für sich haben und sein eigener Meister sein und forderte es dem Vater ab und lief fort damit und verprasste alles. Und als er gar nichts mehr hatte, musste er hingehen und Knecht sein bei einem Bauer, der hatte aber nicht so schöne Tiere, wie auf seines Vaters Feldern waren, sondern nur Schweinlein; diese musste er hüten, und er hatte nur noch Fetzen auf sich und bekam nur von den Trebern, welche die Schweinchen aßen, ein klein wenig. Da dachte er daran, wie er es daheim beim Vater gehabt und wie gut der Vater mit ihm gewesen war und wie undankbar er gegen den Vater gehandelt hatte, und er musste weinen vor Reue und Heimweh. Und er dachte: ›Ich will zu meinem Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten und ihm sagen, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen, aber lass mich nur dein Tagelöhner bei dir sein.‹ Und wie er von ferne gegen das Haus seines Vaters kam, da sah ihn der Vater und kam herausgelaufen — was meinst du jetzt, Großvater?«, unterbrach sich Heidi in seinem Vorlesen; »jetzt meinst du, der Vater sei noch böse und sage zu ihm: ›Ich habe dir‘s ja gesagt!‹? Jetzt hör nur, was kommt: Und sein Vater sah ihn und es jammerte ihn und lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn, und der Sohn sprach zu ihm: ›Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen.‹ Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: ›Bringt das beste Kleid her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an die Füße, und bringt das gemästete Kalb her und schlachtet es und lasst uns essen und fröhlich sein, denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, und er war verloren und ist wieder gefunden worden.‹ Und sie fingen an, fröhlich zu sein.«

»Ist denn das nicht eine schöne Geschichte, Großvater?«, fragte Heidi, als dieser immer noch schweigend dasaß und es doch erwartet hatte, er werde sich freuen und verwundern.

Age restriction:
12+
Release date on Litres:
30 August 2016
Volume:
200 p. 1 illustration
Copyright holder:
Public Domain