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Wilhelm Meisters Wanderjahre — Band 2

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Den heutigen Tag war jedoch diese Erleuchtung recht am Platze; denn wir sehen in einem der Zimmer eine Art von Christbescherung aufgestellt, in die Augen fallend und glänzend. Das kluge Kammermädchen hatte den Kammerdiener dahin vermocht, die Erleuchtung zu steigern, und dabei alles zusammengelegt und ausgebreitet, was zur Ausstattung Hilariens bisher vorgearbeitet worden, eigentlich in der listigen Absicht, mehr das Fehlende zur Sprache zu bringen als dasjenige zu erheben, was schon geleistet war. Alles Notwendige fand sich, und zwar aus den feinsten Stoffen und von der zierlichsten Arbeit; auch an Willkürlichem war kein Mangel, und doch wußte Ananette überall da noch eine Lücke anschaulich zu machen, wo man ebensogut den schönsten Zusammenhang hätte finden können. Wenn nun alles Weißzeug, stattlich ausgekramt, die Augen blendete, Leinwand, Mousselin und alle die zarteren Stoffe der Art, wie sie auch Namen haben mögen, genugsames Licht umherwarfen, so fehlte doch alles bunte Seidene, mit dessen Ankauf man weislich zögerte, weil man bei sehr veränderlicher Mode das Allerneueste als Gipfel und Abschluß hinzufügen wollte.

Nach diesem heitersten Anschauen schritten sie wieder zu ihrer gewöhnlichen, obgleich mannigfaltigen Abendunterhaltung. Die Baronin, die recht gut erkannte, was ein junges Frauenzimmer, wohin das Schicksal sie auch führen mochte, bei einem glücklichen äußern auch von innen heraus anmutig und ihre Gegenwart wünschenswert macht, hatte in diesem ländlichen Zustande so viele abwechselnde und bildende Unterhaltungen einzuleiten gewußt, daß Hilarie bei ihrer großen Jugend schon überall zu Hause schien, bei keinem Gespräch sich fremd erwies und doch dabei ihren Jahren völlig gemäß sich erzeigte. Wie dies geleistet werden konnte, zu entwickeln, würde zu weitläufig sein; genug, dieser Abend war auch ein Musterbild des bisherigen Lebens. Ein geistreiches Lesen, ein anmutiges Pianospiel, ein lieblicher Gesang zog sich durch die Stunden durch, zwar wie sonst gefällig und regelmäßig, aber doch mit mehr Bedeutung; man hatte einen Dritten im Sinne, einen geliebten, verehrten Mann, dem man dieses und so manches andere zum freundlichsten Empfang vorübte. Es war ein bräutliches Gefühl, das nicht nur Hilarien mit den süßesten Empfindungen belebte; die Mutter mit feinem Sinne nahm ihren reinen Teil daran, und selbst Ananette, sonst nur klug und tätig, mußte sich gewissen entfernten Hoffnungen hingeben, die ihr einen abwesenden Freund als zurückkehrend, als gegenwärtig vorspiegelten. Auf diese Weise hatten sich die Empfindungen aller drei in ihrer Art liebenswürdigen Frauen mit der sie umgebenden Klarheit, mit einer wohltätigen Wärme, mit dem behaglichsten Zustande ins gleiche gestellt.

Fünftes Kapitel

Heftiges Pochen und Rufen an dem äußersten Tor, Wortwechsel drohender und fordernder Stimmen, Licht — und Fackelschein im Hofe unterbrachen den zarten Gesang. Aber gedämpft war der Lärm, ehe man dessen Ursache erfahren hatte; doch ruhig ward es nicht, auf der Treppe Geräusch und lebhaftes Hin — und Hersprechen heraufkommender Männer. Die Türe sprang auf ohne Meldung, die Frauen entsetzten sich. Flavio stürzte herein in schauderhafter Gestalt, verworrenen Hauptes, auf dem die Haare teils borstig starrten, teils vom Regen durchnäßt niederhingen; zerfetzten Kleides, wie eines, der durch Dorn und Dickicht durchgestürmt, greulich beschmutzt, als durch Schlamm und Sumpf herangewadet.

"Mein Vater!" rief er aus, "wo ist mein Vater?" Die Frauen standen bestürzt; der alte Jäger, sein frühster Diener und liebevollster Pfleger, mit ihm eintretend, rief ihm zu: "Der Vater ist nicht hier, besänftigen Sie sich; hier ist Tante, hier ist Nichte, sehen Sie hin! " — "Nicht hier, nun so laßt mich weg, ihn zu suchen; er allein soll's hören, dann will ich sterben. Laßt mich von den Lichtern weg, von dem Tag, er blendet mich, er vernichtet mich."

Der Hausarzt trat ein, ergriff seine Hand, vorsichtig den Puls fühlend, mehrere Bediente standen ängstlich umher. — "Was soll ich auf diesen Teppichen, ich verderbe sie, ich zerstöre sie; mein Unglück träuft auf sie herunter, mein verworfenes Geschick besudelt sie." — Er drängte sich gegen die Türe, man benutzte das Bestreben, um ihn wegzuführen und in das entfernte Gastzimmer zu bringen, das der Vater zu bewohnen pflegte. Mutter und Tochter standen erstarrt, sie hatten Orest gesehen, von Furien verfolgt, nicht durch Kunst veredelt, in greulicher, widerwärtiger Wirklichkeit, die im Kontrast mit einer behaglichen Glanzwohnung im klarsten Kerzenschimmer nur desto fürchterlicher schien. Erstarrt sahen die Frauen sich an, und jede glaubte in den Augen der andern das Schreckbild zu sehen, das sich so tief in die ihrigen eingeprägt hatte.

Mit halber Besonnenheit sendete darauf die Baronin Bedienten auf Bedienten, sich zu erkundigen. Sie erfuhren zu einiger Beruhigung, daß man ihn auskleide, trockne, besorge; halb gegenwärtig, halb unbewußt lasse er alles geschehen. Wiederholtes Anfragen wurde zur Geduld verwiesen.

Endlich vernahmen die beängstigten Frauen, man habe ihn zur Ader gelassen und sonst alles Besänftigende möglichst angewendet; er sei zur Ruhe gebracht, man hoffe Schlaf.

Mitternacht kam heran, die Baronin verlangte, wenn er schlafe, ihn zu sehen; der Arzt widerstand, der Arzt gab nach; Hilarie drängte sich mit der Mutter herein. Das Zimmer war dunkel, nur eine Kerze dämmerte hinter dem grünen Schirm, man sah wenig, man hörte nichts; die Mutter näherte sich dem Bette, Hilarie, sehnsuchtsvoll, ergriff das Licht und beleuchtete den Schlafenden. So lag er abgewendet, aber ein höchst zierliches Ohr, eine volle Wange, jetzt bläßlich, schienen unter den schon wieder sich krausenden Locken auf das anmutigste hervor, eine ruhende Hand und ihre ländlichen zartkräftigen Finger zogen den unsteten Blick an. Hilarie, leise atmend, glaubte selbst einen leisen Atem zu vernehmen, sie näherte die Kerze, wie Psyche in Gefahr, die heilsamste Ruhe zu stören. Der Arzt nahm die Kerze weg und leuchtete den Frauen nach ihren Zimmern.

Wie diese guten, alles Anteils würdigen Personen ihre nächtlichen Stunden zugebracht, ist uns ein Geheimnis geblieben; den andern Morgen aber von früh an zeigten sich beide höchst ungeduldig. Des Anfragens war kein Ende, der Wunsch, den Leidenden zu sehen, bescheiden, doch dringend; nur gegen Mittag erlaubte der Arzt einen kurzen Besuch.

Die Baronin trat hinzu, Flavio reichte die Hand hin — "Verzeihung, liebste Tante, einige Geduld, vielleicht nicht lange" — Hilarie trat hervor, auch ihr gab er die Rechte — "Gegrüßt liebe Schwester" — das fuhr ihr durchs Herz, er ließ nicht los, sie sahen einander an, das herrlichste Paar, kontrastierend im schönsten Sinne. Des Jünglings schwarze, funkelnde Augen stimmten zu den düstern, verwirrten Locken; dagegen stand sie scheinbar himmlisch in Ruhe, doch zu dem erschütternden Begebnis gesellte sich nun die ahnungsvolle Gegenwart. Die Benennung "Schwester" — ihr Allerinnerstes war aufgeregt. Die Baronin sprach: "Wie geht es, lieber Neffe?" — "Ganz leidlich, aber man behandelt mich übel." — "Wieso?" — "Da haben sie mir Blut gelassen, das ist grausam; sie haben es weggeschafft, das ist frech; es gehört ja nicht mein, es gehört alles, alles ihre." Mit diesen Worten schien sich seine Gestalt zu verwandeln, doch mit heißen Tränen verbarg er sein Antlitz ins Kissen.

Hilariens Miene zeigte der Mutter einen furchtbaren Ausdruck, es war, als wenn das liebe Kind die Pforten der Hölle vor sich eröffnet sähe, zum erstenmal ein Ungeheures erblickte und für ewig. Rasch, leidenschaftlich eilte sie durch den Saal, warf sich im letzten Kabinett auf den Sofa, die Mutter folgte und fragte, was sie leider schon begriff. Hilarie, wundersam aufblickend, rief: "Das Blut, das Blut, es gehört alles ihre, alles ihre, und sie ist es nicht wert. Der Unglückselige! der Arme!" Mit diesen Worten erleichterte der bitterste Tränenstrom das bedrängte Herz.

Wer unternähme es wohl, die aus dem Vorhergehenden sich entwickelnden Zustände zu enthüllen, an den Tag zu bringen das innere, aus dieser ersten Zusammenkunft den Frauen erwachsende Unheil? Auch dem Leidenden war sie höchst schädlich, so behauptete wenigstens der Arzt, der zwar oft genug zu berichten und zu trösten kam, aber sich doch verpflichtet fühlte, alles weitere Annähern zu verbieten. Dabei fand er auch eine willige Nachgiebigkeit, die Tochter wagte nicht zu verlangen, was die Mutter nicht zugegeben hätte, und so gehorchte man dem Gebot des verständigen Mannes. Dagegen brachte er aber die beruhigende Nachricht, Flavio habe Schreibzeug verlangt, auch einiges aufgezeichnet, es aber sogleich neben sich im Bette versteckt. Nun gesellte sich Neugierde zu der übrigen Unruhe und Ungeduld, es waren peinliche Stunden. Nach einiger Zeit brachte er jedoch ein Blättchen von schöner, freier Hand, obgleich mit Hast geschrieben, es enthielt folgende Zeilen:

 
"Ein Wunder ist der arme Mensch geboren,
In Wundern ist der irre Mensch verloren,
Nach welcher dunklen, schwer entdeckten Schwelle
Durchtappen pfadlos ungewisse Schritte?
Dann in lebendigem Himmelsglanz und Mitte
Gewahr', empfind' ich Nacht und Tod und Hölle."
 

Hier konnte die edle Dichtkunst abermals ihre heilenden Kräfte erweisen. Innig verschmolzen mit Musik, heilt sie alle Seelenleiden aus dem Grunde, indem sie solche gewaltig anregt, hervorruft und in auflösenden Schmerzen verflüchtigt. Der Arzt hatte sich überzeugt, daß der Jüngling bald wieder herzustellen sei; körperlich gesund, werde er schnell sich wieder froh fühlen, wenn die auf seinem Geist lastende Leidenschaft zu heben oder zu lindern wäre. Hilarie sann auf Erwiderung; sie saß am Flügel und versuchte die Zeilen des Leidenden mit Melodie zu begleiten. Es gelang ihr nicht, in ihrer Seele klang nichts zu so tiefen Schmerzen; doch bei diesem Versuch schmeichelten Rhythmus und Reim sich dergestalt an ihre Gesinnungen an, daß sie jenem Gedicht mit lindernder Heiterkeit entgegnete, indem sie sich Zeit nahm, folgende Strophe auszubilden und abzurunden:

 
 
"Bist noch so tief in Schmerz und Qual verloren,
So bleibst du doch zum Jugendglück geboren;
Ermanne dich zu rasch gesundem Schritte,
Komm in der Freundschaft Himmelsglanz und Helle,
Empfinde dich in treuer Guten Mitte,
Da sprieße dir des Lebens heitre Quelle."
 

Der ärztliche Hausfreund übernahm die Botschaft, sie gelang, schon erwiderte der Jüngling gemäßigt; Hilarie fuhr mildernd fort, und so schien man nach und nach wieder einen heitern Tag, einen freien Boden zu gewinnen, und vielleicht ist es uns vergönnt, den ganzen Verlauf dieser holden Kur gelegentlich mitzuteilen. Genug, einige Zeit verstrich in solcher Beschäftigung höchst angenehm; ein ruhiges Wiedersehen bereitete sich vor, das der Arzt nicht länger als nötig zu verspäten gedachte.

Indessen hatte die Baronin mit Ordnen und Zurechtlegen alter Papiere sich beschäftigt, und diese dem gegenwärtigen Zustande ganz angemessene Unterhaltung wirkte gar wundersam auf den erregten Geist. Sie sah manche Jahre ihres Lebens zurück, schwere drohende Leiden waren vorübergegangen, deren Betrachtung den Mut für den Moment kräftigte; besonders rührte sie die Erinnerung an ein schönes Verhältnis zu Makarien, und zwar in bedenklichen Zuständen. Die Herrlichkeit jener einzigen Frau ward ihr wieder vor die Seele gebracht und sogleich der Entschluß gefaßt, sich auch diesmal an sie zu wenden: denn zu wem sonst hätte sie ihre gegenwärtigen Gefühle richten, wem sonst Furcht und Hoffnung offen bekennen sollen?

Bei dem Aufräumen fand sie aber auch unter andern des Bruders Miniaturporträt und mußte über die ähnlichkeit mit dem Sohne lächelnd seufzen. Hilarie überraschte sie in diesem Augenblick, bemächtigte sich des Bildes, und auch sie ward von jener ähnlichkeit wundersam betroffen.

So verging einige Zeit; endlich mit Vergünstigung des Arztes und in seinem Geleite trat Flavio angemeldet zum Frühstück herein. Die Frauen hatten sich vor dieser ersten Erscheinung gefürchtet. Wie aber gar oft in bedeutenden, ja schrecklichen Momenten etwas Heiteres, ja Lächerliches sich zu ereignen pflegt, so glückte es auch hier. Der Sohn kam völlig in des Vaters Kleidern; denn da von seinem Anzug nichts zu brauchen war, so hatte man sich der Feld — und Hausgarderobe des Majors bedient, die er, zu bequemem Jagd — und Familienleben, bei der Schwester in Verwahrung ließ. Die Baronin lächelte und nahm sich zusammen; Hilarie war, sie wußte nicht wie, betroffen genug, sie wendete das Gesicht weg, und dem jungen Manne wollte in diesem Augenblick weder ein herzliches Wort von den Lippen noch eine Phrase glücken. Um nun sämtlicher Gesellschaft aus der Verlegenheit zu helfen, begann der Arzt eine Vergleichung beider Gestalten. Der Vater sei etwas größer, hieß es, und deshalb der Rock etwas zu lang; dieser sei etwas breiter, deshalb der Rock über die Schultern zu eng. Beide Mißverständnisse gaben dieser Maskerade ein komisches Ansehen.

Durch diese Einzelheiten jedoch kam man über das Bedenkliche des Augenblicks hinaus. Für Hilarien freilich blieb die ähnlichkeit des jugendlichen Vaterbildes mit der frischen Lebensgegenwart des Sohnes unheimlich, ja bedrängend.

Nun aber wünschten wir wohl den nächsten Zeitverlauf von einer zarten Frauenhand umständlich geschildert zu sehen, da wir nach eigener Art und Weise uns nur mit dem Allgemeinsten befassen dürfen. Hier muß denn nun von dem Einfluß der Dichtkunst abermals die Rede sein.

Ein gewisses Talent konnte man unserm Flavio nicht absprechen, es bedurfte jedoch nur zu sehr eines leidenschaftlich-sinnlichen Anlasses, wenn etwas Vorzügliches gelingen sollte; deswegen denn auch fast alle Gedichte, jener unwiderstehlichen Frau gewidmet, höchst eindringend und lobenswert erschienen und nun, einer gegenwärtigen, höchst liebenswürdigen Schönen mit enthusiastischem Ausdruck vorgelesen, nicht geringe Wirkung hervorbringen mußten.

Ein Frauenzimmer, das eine andere leidenschaftlich geliebt sieht, bequemt sich gern zu der Rolle einer Vertrauten; sie hegt ein heimlich, kaum bewußtes Gefühl, daß es nicht unangenehm sein müßte, sich an die Stelle der Angebeteten leise gehoben zu sehen. Auch ging die Unterhaltung immer mehr und mehr ins Bedeutende. Wechselgedichte, wie sie der Liebende gern verfaßt, weil er sich von seiner Schönen, wenn auch nur bescheiden, halb und halb kann erwidern lassen, was er wünscht und was er aus ihrem schönen Munde zu hören kaum erwarten dürfte. Dergleichen wurden mit Hilarien auch wechselsweise gelesen, und zwar, da es nur aus der einen Handschrift geschah, in welche man beiderseits, um zu rechter Zeit einzufallen, hineinschauen und zu diesem Zweck jedes das Bändchen anfassen mußte, so fand sich, daß man, nahe sitzend, nach und nach Person an Person, Hand an Hand immer näher rückte und die Gelenke sich ganz natürlich zuletzt im verborgnen berührten.

Aber bei diesen schönen Verhältnissen, unter solchen daraus entspringenden allerliebsten Annehmlichkeiten fühlte Flavio eine schmerzliche Sorge, die er schlecht verbarg und, immerfort nach der Ankunft seines Vaters sich sehnend, zu bemerken gab, daß er diesem das Wichtigste zu vertrauen habe. Dieses Geheimnis indes wäre, bei einigem Nachdenken, nicht schwer zu erraten gewesen. Jene reizende Frau mochte in einem bewegten, von dem zudringlichen Jüngling hervorgerufnen Momente den Unglücklichen entschieden abgewiesen und die bisher hartnäckig behauptete Hoffnung aufgehoben und zerstört haben. Eine Szene, wie dies zugegangen, wagten wir nicht zu schildern, aus Furcht, hier möchte uns die jugendliche Glut ermangeln. Genug, er war so wenig bei sich selbst, daß er sich eiligst aus der Garnison ohne Urlaub entfernte und, um seinen Vater aufzusuchen, durch Nacht, Sturm und Regen nach dem Landgut seiner Tante verzweifelnd zu gelangen trachtete, wie wir ihn auch vor kurzem haben ankommen sehen. Die Folgen eines solchen Schrittes fielen ihm nun bei Rückkehr nüchterner Gedanken lebhaft auf, und er wußte, da der Vater immer länger ausblieb und er die einzige mögliche Vermittlung entbehren sollte, sich weder zu fassen noch zu retten.

Wie erstaunt und betroffen war er deshalb, als ihm ein Brief seines Obristen eingehändigt wurde, dessen bekanntes Siegel er mit Zaudern und Bangigkeit auflöste, der aber nach den freundlichsten Worten damit endigte, daß der ihm erteilte Urlaub noch um einen Monat sollte verlängert werden.

So unerklärlich nun auch diese Gunst schien, so ward er doch dadurch von einer Last befreit, die sein Gemüt fast ängstlicher als die verschmähte Liebe selbst zu drücken begann. Er fühlte nun ganz das Glück, bei seinen liebenswürdigen Verwandten so wohl aufgehoben zu sein; er durfte sich der Gegenwart Hilariens erfreuen und war nach kurzem in allen seinen angenehm-geselligen Eigenschaften wiederhergestellt, die ihn der schönen Witwe selbst sowohl als ihrer Umgebung auf eine Zeitlang notwendig gemacht hatten und nur durch eine peremtorische Forderung ihrer Hand für immer verfinstert worden.

In solcher Stimmung konnte man die Ankunft des Vaters gar wohl erwarten, auch wurden sie durch eintretende Naturereignisse zu einer tätigen Lebensweise aufgeregt. Das anhaltende Regenwetter, das sie bisher in dem Schloß zusammenhielt, hatte überall, in großen Wassermassen niedergehend, Fluß um Fluß angeschwellt; es waren Dämme gebrochen, und die Gegend unter dem Schlosse lag als ein blanker See, aus welchem die Dorfschaften, Meierhöfe, größere und kleinere Besitztümer, zwar auf Hügeln gelegen, doch immer nur inselartig hervorschauten.

Auf solche zwar seltene, aber denkbare Fälle war man eingerichtet; die Hausfrau befahl, und die Diener führten aus. Nach der ersten allgemeinsten Beihülfe ward Brot gebacken, Stiere wurden geschlachtet, Fischerkähne fuhren hin und her, Hülfe und Vorsorge nach allen Enden hin verbreitend. Alles fügte sich schön und gut, das freundlich Gegebene ward freudig und dankbar aufgenommen, nur an einem Orte wollte man den austeilenden Gemeindevorstehern nicht trauen; Flavio übernahm das Geschäft und fuhr mit einem wohlbeladenen Kahn eilig und glücklich zur Stelle. Das einfache Geschäft, einfach behandelt, gelang zum besten; auch entledigte sich, weiterfahrend, unser Jüngling eines Auftrags, den ihm Hilarie beim Scheiden gegeben. Gerade in den Zeitpunkt dieser Unglückstage war die Niederkunft einer Frau gefallen, für die sich das schöne Kind besonders interessierte. Flavio fand die Wöchnerin und brachte allgemeinen und diesen besondern Dank mit nach Hause. Dabei konnte es nun an mancherlei Erzählungen nicht fehlen. War auch niemand umgekommen, so hatte man von wunderbaren Rettungen, von seltsamen, scherzhaften, ja lächerlichen Ereignissen viel zu sprechen; manche notgedrungene Zustände wurden interessant beschrieben. Genug, Hilarie empfand auf einmal ein unwiderstehliches Verlangen, gleichfalls eine Fahrt zu unternehmen, die Wöchnerin zu begrüßen, zu beschenken und einige heitere Stunden zu verleben.

Nach einigem Widerstand der guten Mutter siegte endlich der freudige Wille Hilariens, dieses Abenteuer zu bestehen, und wir wollen gern bekennen, in dem Laufe, wie diese Begebenheit uns bekannt geworden, einigermaßen besorgt gewesen zu sein, es möge hier einige Gefahr obschweben, ein Stranden, ein Umschlagen des Kahns, Lebensgefahr der Schönen, kühne Rettung von seiten des Jünglings, um das lose geknüpfte Band noch fester zu ziehen. Aber von allem diesem war nicht die Rede, die Fahrt lief glücklich ab, die Wöchnerin ward besucht und beschenkt; die Gesellschaft des Arztes blieb nicht ohne gute Wirkung, und wenn hier und da ein kleiner Anstoß sich hervortat, wenn der Anschein eines gefährlichen Moments die Fortrudernden zu beunruhigen schien, so endete solches nur mit neckendem Scherz, daß eins dem andern eine ängstliche Miene, eine größere Verlegenheit, eine furchtsam Gebärde wollte abgemerkt haben. Indessen war das wechselseitige Vertrauen bedeutend gewachsen; die Gewohnheit, sich zu sehen und unter allen Umständen zusammen zu sein, hatte sich verstärkt, und die gefährliche Stellung, wo Verwandtschaft und Neigung zum wechselseitigen Annähern und Festhalten sich berechtigt glauben, ward immer bedenklicher.

Anmutig sollten sie jedoch auf solchen Liebeswegen immer weiter und weiter verlockt werden. Der Himmel klärte sich auf, eine gewaltige Kälte, der Jahreszeit gemäß, trat ein, die Wasser gefroren, ehe sie verlaufen konnten. Da veränderte sich das Schauspiel der Welt vor allen Augen auf einmal; was durch Fluten erst getrennt war, hing nunmehr durch befestigten Boden zusammen, und alsbald tat sich als erwünschte Vermittlerin die schöne Kunst hervor, welche, die ersten raschen Wintertage zu verherrlichen und neues Leben in das Erstarrte zu bringen, im hohen Norden erfunden worden. Die Rüstkammer öffnete sich, jedermann suchte nach seinen gezeichneten Stahlschuhen, begierig, die reine, glatte Fläche, selbst mit einiger Gefahr, als der erste zu beschreiten. Unter den Hausgenossen fanden sich viele zu höchster Leichtigkeit Geübte; denn dieses Vergnügen ward ihnen fast jedes Jahr auf benachbarten Seen und verbindenden Kanälen, diesmal aber in der fernhin erweiterten Fläche.

Flavio fühlte sich nun erst durch und durch gesund, und Hilarie, seit ihren frühsten Jahren von dem Oheim angeleitet, bewies sich so lieblich als kräftig auf dem neu erschaffenen Boden; man bewegte sich lustig und lustiger, bald zusammen, bald einzeln, bald getrennt, bald vereint. Scheiden und Meiden, was sonst so schwer aufs Herz fällt, ward hier zum kleinen, scherzhaften Frevel, man floh sich, um sich einander augenblicks wieder zu finden.

Aber innerhalb dieser Lust und Freudigkeit bewegte sich auch eine Welt des Bedürfnisses; immer waren bisher noch einige Ortschaften nur halb versorgt geblieben, eilig flogen nunmehr auf tüchtig bespannten Schlitten die nötigsten Waren hin und wider, und was der Gegend noch mehr zugute kam, war, daß man aus manchen der vorübergehenden Hauptstraße allzu fernen Orten nunmehr schnell die Erzeugnisse des Feldbaues und der Landwirtschaft in die nächsten Magazine der kleinen Städte und Flecken bringen und von dorther aller Art Waren zurückführen konnte. Nun war auf einmal eine bedrängte, den bittersten Mangel empfindende Gegend wieder befreit, wieder versorgt, durch eine glatte, dem Geschickten, dem Kühnen geöffnete Fläche verbunden.

 

Auch das junge Paar unterließ nicht, bei vorwaltendem Vergnügen mancher Pflichten einer liebevollen Anhänglichkeit zu gedenken. Man besuchte jene Wöchnerin, begabte sie mit allem Notwendigen; auch andere wurden heimgesucht: Alte, für deren Gesundheit man besorgt gewesen; Geistliche, mit denen man erbauliche Unterhaltung sittlich zu pflegen gewohnt war und sie jetzt in dieser Prüfung noch achtenswerter fand; kleinere Gutsbesitzer, die kühn genug vor Zeiten sich in gefährliche Niederungen angebaut, diesmal aber, durch wohlangelegte Dämme geschützt, unbeschädigt geblieben — und nach grenzenloser Angst sich ihres Daseins doppelt erfreuten. Jeder Hof, jedes Haus, jede Familie, jeder einzelne hatte seine Geschichte, er war sich und auch wohl andern eine bedeutende Person geworden, deswegen fiel auch einer dem andern Erzählenden leicht in die Rede. Eilig war jeder im Sprechen und Handeln, Kommen und Gehen, denn es blieb immer die Gefahr, ein plötzliches Tauwetter möchte den ganzen schönen Kreis glücklichen Wechselwirkens zerstören, die Wirte bedrohen und die Gäste vom Hause abschneiden.

War man den Tag in so rascher Bewegung und dem lebhaftesten Interesse beschäftigt, so verlieh der Abend auf ganz andere Weise die angenehmsten Stunden; denn das hat die Eislust vor allen andern körperlichen Bewegungen voraus, daß die Anstrengung nicht erhitzt und die Dauer nicht ermüdet. Sämtliche Glieder scheinen gelenker zu werden und jedes Verwenden der Kraft neue Kräfte zu erzeugen, so daß zuletzt eine selig bewegte Ruhe über uns kommt, in der wir uns zu wiegen immerfort gelockt sind.

Heute nun konnte sich unser junges Paar von dem glatten Boden nicht loslösen, jeder Lauf gegen das erleuchtete Schloß, wo sich schon viele Gesellschaft versammelte, ward plötzlich umgewendet und eine Rückkehr ins Weite beliebt; man mochte sich nicht voneinander entfernen, aus Furcht, sich zu verlieren, man faßte sich bei der Hand, um der Gegenwart ganz gewiß zu sein. Am allersüßesten aber schien die Bewegung, wenn über den Schultern die Arme verschränkt ruhten und die zierlichen Finger unbewußt in beiderseitigen Locken spielten.

Der volle Mond stieg zu dem glühenden Sternenhimmel herauf und vollendete das Magische der Umgebung. Sie sahen sich wieder deutlich und suchten wechselseitig in den beschatteten Augen Erwiderung wie sonst, aber sie schien anders zu sein. Aus ihren Abgründen schien ein Licht hervorzublicken und anzudeuten, was der Mund weislich verschwieg, sie fühlten sich beide in einem festlich behaglichen Zustande.

Alle hochstämmigen Weiden und Erlen an den Gräben, alles niedrige Gebüsch auf Höhen und Hügeln war deutlich geworden; die Sterne flammten, die Kälte war gewachsen, sie fühlten nichts davon und fuhren dem lang daherglitzernden Widerschein des Mondes, unmittelbar dem himmlischen Gestirn selbst entgegen. Da blickten sie auf und sahen im Geflimmer des Widerscheins die Gestalt eines Mannes hin und her schweben, der seinen Schatten zu verfolgen schien und selbst dunkel, vom Lichtglanz umgeben, auf sie zuschritt; unwillkürlich wendeten sie sich ab, jemanden zu begegnen wäre widerwärtig gewesen. Sie vermieden die immerfort sich herbewegende Gestalt, die Gestalt schien sie nicht bemerkt zu haben und verfolgte ihren geraden Weg nach dem Schlosse. Doch verließ sie auf einmal diese Richtung und umkreiste mehrmals das fast beängstigte Paar. Mit einiger Besonnenheit suchten sie für sich die Schattenseite zu gewinnen, im vollen Mondglanz fuhr jener auf sie zu, er stand nah vor ihnen, es war unmöglich, den Vater zu verkennen.

Hilarie, den Schritt anhaltend, verlor in überraschung das Gleichgewicht und stürzte zu Boden, Flavio lag zu gleicher Zeit auf einem Knie und faßte ihr Haupt in seinen Schoß auf, sie verbarg ihr Angesicht, sie wußte nicht, wie ihr geworden war. — "Ich hole einen Schlitten, dort unten fährt noch einer vorüber, ich hoffe, sie hat sich nicht beschädigt; hier, bei diesen hohen drei Erlen find' ich euch wieder!" so sprach der Vater und war schon weit hinweg. Hilarie raffte sich an dem Jüngling empor. — "Laß uns fliehen", rief sie, "das ertrag' ich nicht." — Sie bewegte sich nach der Gegenseite des Schlosses heftig, daß Flavio sie nur mit einiger Anstrengung erreichte, er gab ihr die freundlichsten Worte.

Auszumalen ist nicht die innere Gestalt der drei nunmehr nächtlich auf der glatten Fläche im Mondschein Verirrten, Verwirrten. Genug, sie gelangten spät nach dem Schlosse, das junge Paar einzeln, sich nicht zu berühren, sich nicht zu nähern wagend, der Vater mit dem leeren Schlitten, den er vergebens ins Weite und Breite hilfreich herumgeführt hatte. Musik und Tanz waren schon im Gange, Hilarie, unter dem Vorwand schmerzlicher Folgen eines schlimmen Falles, verbarg sich in ihr Zimmer, Flavio überließ Vortanz und Anordnung sehr gern einigen jungen Gesellen, die sich deren bei seinem Außenbleiben schon bemächtigt hatten. Der Major kam nicht zum Vorschein und fand es wunderlich, obgleich nicht unerwartet, sein Zimmer wie bewohnt anzutreffen, die eignen Kleider, Wäsche und Gerätschaften, nur nicht so ordentlich, wie er's gewohnt war, umherliegend. Die Hausfrau versah mit anständigem Zwang ihre Pflichten, und wie froh war sie, als alle Gäste, schicklich untergebracht, ihr endlich Raum ließen, mit dem Bruder sich zu erklären. Es war bald getan, doch brauchte es Zeit, sich von der überraschung zu erholen, das Unerwartete zu begreifen, die Zweifel zu heben, die Sorge zu beschwichtigen; an Lösung des Knotens, an Befreiung des Geistes war nicht sogleich zu denken.

Unsere Leser überzeugen sich wohl, daß von diesem Punkte an wir beim Vortrag unserer Geschichte nicht mehr darstellend, sondern erzählend und betrachtend verfahren müssen, wenn wir in die Gemütszustände, auf welche jetzt alles ankommt, eindringen und sie uns vergegenwärtigen wollen.

Wir berichten also zuerst, daß der Major, seitdem wir ihn aus den Augen verloren, seine Zeit fortwährend jenem Familiengeschäft gewidmet, dabei aber, so schön und einfach es auch vorlag, doch in manchem Einzelnen auf unerwartete Hindernisse traf. Wie es denn überhaupt so leicht nicht ist, einen alten verworrenen Zustand zu entwickeln und die vielen verschränkten Fäden auf einen Knaul zu winden. Da er nun deshalb den Ort öfters verändern mußte, um bei verschiedenen Stellen und Personen die Angelegenheit zu betreiben, so gelangten die Briefe der Schwester nur langsam und unordentlich zu ihm. Die Verirrung des Sohnes und dessen Krankheit erfuhr er zuerst; dann hörte er von einem Urlaub, den er nicht begriff. Daß Hilariens Neigung im Umwenden begriffen sei, blieb ihm verborgen, denn wie hätte die Schwester ihn davon unterrichten mögen!

Auf die Nachricht der überschwemmung beschleunigte er seine Reise, kam jedoch erst nach eingefallenem Frost in die Nähe der Eisfelder, schaffte sich Schrittschuhe, sendete Knechte und Pferde durch einen Umweg nach dem Schlosse, und sich mit raschem Lauf dorthin bewegend, gelangte er, die erleuchteten Fenster schon von ferne schauend, in einer tagklaren Nacht zum unerfreulichsten Anschauen und war mit sich selbst in die unangenehmste Verwirrung geraten.

Der übergang von innerer Wahrheit zum äußern Wirklichen ist im Kontrast immer schmerzlich; und sollte Lieben und Bleiben nicht eben die Rechte haben wie Scheiden und Meiden? Und doch, wenn sich eins vom andern losreißt, entsteht in der Seele eine ungeheure Kluft, in der schon manches Herz zugrunde ging. Ja der Wahn hat, solange er dauert, eine unüberwindliche Wahrheit, und nur männliche, tüchtige Geister werden durch Erkennen eines Irrtums erhöht und gestärkt. Eine solche Entdeckung hebt sie über sich selbst, sie stehen über sich erhoben und blicken, indem der alte Weg versperrt ist, schnell umher nach einem neuen, um ihn alsofort frisch und mutig anzutreten.