Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum.

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Geschlechterkampf und Geschwisterliebe

Es ist also kein Buch für Frauen und auch keins für Männer, es ist ein Buch für Menschen. (Bachmann, TP 4, 11)

Das Verhältnis zwischen Mann und Frau zeigt sich in Roths wie in Bachmanns Texten als Geschlechterkampf. Roth dämonisiert allerdings die Frauen, Bachmann hingegen zeichnet ein kritisches Portrait der emanzipierten Frau in der heutigen Gesellschaft. Letztendlich zeigen beide Autoren die allgemeine Verstörung des Menschen, der zu zwischenmenschlicher Kommunikation nicht fähig ist, exemplarisch am Verhältnis der Geschlechter.

Trottas Begegnung mit Elisabeth Kovacs in Die Kapuzinergruft ist eingebunden in die Gewohnheiten dieser Zeit, und zeigt sich als desillusionierter Blick auf die Möglichkeiten zwischen Mann und Frau: Man hatte unbedeutende »›Liaisons‹, Frauen, die man ablegte, manchmal sogar herlieh wie Überzieher; Frauen, die man vergaß, wie Regenschirme, oder absichtlich liegenließ, wie lästige Pakete, nach denen man sich umsieht, aus Angst, sie könnten einem nachgetragen werden. In dem Kreis, in dem ich verkehrte, galt die Liebe als eine Verwirrung, ein Verlöbnis war so etwas wie eine Apoplexie und eine Ehe ein Siechtum.« (Roth 6, 237)

Die Frauen werden in Roths Werk durchgängig negativ dargestellt; Bachmann setzt den männermordenden Frauen wie Frau Slama, Eva Demant, Elisabeth Trotta und Jolanth Szatmary frauenmordende Männer entgegen wie Ludwig Frankel, Erich, Josef, Leo Jordan und schließlich Manes und Philippe. In der für Simultan konzipierten, jedoch Fragment gebliebenen Erzählung Freundinnen heißt es: »[…] aber an einem Mann ist es doch nur wichtig, wie er aussieht, intelligent kann man schließlich selber sein« (Bachmann, TP 4, 51). Mariettas ironische Umdrehung stereotyper männlicher Sichtweise, die sie »kühn entwickelt hatte« (Bachmann, TP 4, 51), desavouiert solche eindimensionalen Ansichten.234 Bachmann korrigiert und differenziert in Simultan diese einseitige Sicht und geht den Gründen dieses Geschlechterkampfes nach. »Both Roth and Bachmann portray the relation between the sexes as deeply riven and problematic. Their utopian re-visions differ radically.«235

Die Emanzipation der Frau wird in Roths Roman wie in Bachmanns gesamtem Simultan-Zyklus als fragwürdig und negativ dargestellt, weil die Frauen sich fast ausschließlich an männlichen Verhaltensmustern orientieren. Elisabeth Trotta und vor allem ihre Freundin Jolanth Szatmary werden in ihrem Auftreten als maskulin beschrieben, so daß ihre erlangte Selbständigkeit und Emanzipation auf diese Weise einseitig negativ dargestellt werden; für Franz Ferdinand in der Kapuzinergruft, der schließlich der Erzähler ist, wird das Verhalten seiner Ehefrau und deren Freundin zur Bedrohung.236 Elisabeth Matrei und auch Nadja, die andere Karrierefrau im Simultan-Zyklus, entsprechen optisch zwar nicht diesem Klischee dominanter Frauen, haben sich jedoch in ihrem Karrierestreben männlich geprägten Strukturen unterworfen und zwangsläufig an diese anpassen müssen. Der qualitative Unterschied zwischen Bachmanns und Roths Infragestellung solcher Verhaltensweisen liegt in der Erzählerperspektive; aus männlicher Sicht werden die Emanzipationsbestrebungen dieser Zeit verurteilt – Roths Text erweist sich insofern als zeitgemäß, indem er das Aufkommen der Frauenbewegung seit der Jahrhundertwende und vor allem in der Zwischenkriegszeit überhaupt thematisiert –, aus weiblicher Sicht werden im Simultan-Zyklus die Gründe dieser vermännlichten Emanzipation offengelegt. Selbst die unreflektierte Beatrix in Ihr glücklichen Augen erkennt die Erwerbstätigkeit von Frauen in ihrer Zweischneidigkeit. »Besonders grauenvoll kamen ihr alle Frauen vor, die arbeiteten, denn sicher hatten die alle einen Defekt oder litten an Einbildungen oder ließen sich ausnutzen von den Männern« (Bachmann 2, 329). Dieses banale Urteil erweist sich innerhalb des gesamten Zyklus dennoch als berechtigter Reflex auf die beiden berufstätigen, erfolgreichen Frauen. Wie für die Frauengestalten in den Todesarten trifft auch für die in Simultan zu, daß sie einer kapitalistischen, zugleich patriachalistischen Gesellschaft ausgesetzt sind, »in der alles nach seinem Nutzwert gemessen wird und in der – nach dem Prinzip der Dialektik der Aufklärung – jeder Fortschritt in Unterdrückung, Ausbeutung, Verdinglichung, Bürokratisierung etc. umzuschlagen droht«237. Bachmann hat in einem Kommentar zu den Frauen in Simultan diesen fortschrittskritischen Gedanken formuliert: »Es sind keine fortschrittlichen Frauen, denn das wäre eine Beleidigung für eine Frau aus dieser Welt, die untergeht« (Bachmann, TP 4, 10). Daß Nadja als Dolmetscherin und Elisabeth als Journalistin die Verhältnisse lediglich abbilden und diese nicht prägen238, zeigt darüber hinaus, inwieweit deren Selbständigkeit eine Schimäre ist. In einem Interview zu Malina äußert Bachmann, »daß sie von der ganzen Emanzipation nichts hält. Die pseudomoderne Frau mit ihrer quälenden Tüchtigkeit und Energie ist für mich immer höchst seltsam und unverständlich gewesen.« (Bachmann, GuI, 109)

Roths grundsätzliche Kritik an selbständigen, emanzipierten Frauen teilt Bachmann naturgemäß nicht. Im gesamten »Todesarten«-Projekt wird die patriarchale Gesellschaft kritisiert, in welcher Frauen keine Alternative zum Bestehenden realisieren können. Die Doppelgängerkonstruktion in Malina, die durch die Auslöschung des weiblichen Parts endet, ist wohl deren deutlichste Bestätigung in Bachmanns Werk. Die im Franza-Fragment erwähnte Geschichte der ägyptischen Königin Hatschepsut erhält den Status einer paradigmatischen Situation der Frau seit Jahrtausenden. Sämtliche Darstellungen der Hatschepsut wurden von ihrem Nachfolger Tuthmosis ausgemeißelt, »aber er hat vergessen, daß an der Stelle, wo er sie getilgt hat, doch sie stehen geblieben ist. Sie ist abzulesen, weil da nichts ist, wo sie sein soll. […] Er hat sie nicht zerstören können. Für sie hier war das nicht Stein und nicht Geschichte, sondern, als wäre kein Tag vergangen, etwas, das sie beschäftigte.« (Bachmann, TP 2, 274f.) Franzas Schicksal und dessen Repräsentanz für das vieler Frauen ihrer Zeit erfährt mit der ausführlichen Erwähnung der Königin Hatschepsut eine beträchtliche historische Erweiterung, indem es mit dem ersten überlieferten Frauenschicksal der Geschichte verbunden wird, insofern Egon Friedell zufolge Hatschepsut »das erste weibliche Wesen, das der Weltgeschichte angehört«239, ist.

Die mit der gedemütigten Frau am Kairoer Bahnhof und Hatschepsut verknüpfte Geschichte Franzas, die letal an den Pyramiden als Ursprung abendländischer Zivilisation endet, eröffnet keine Perspektive für die Frau, sondern zeigt eine exemplarische Todesart. In Simultan ist die deskriptive Analyse der Frau in der Gesellschaft zwar weniger radikal und endgültig, aber dennoch ähnlich desillusioniert. In den Rahmenerzählungen werden jedoch utopische Alternativen eröffnet. In Simultan erkennt Nadja die Männerspiele letztlich an, in Drei Wege zum See verdeutlicht die Begegnung mit Branco am Flughafen einen durch Schweigen gekennzeichneten Moment der Liebe, der nicht realisiert wird. Diesen Moment zu erkennen, vermochte erst Elisabeths Beschäftigung mit ihrer eigenen wie kollektiven Geschichte, die in dem geläuterten Aufbruch nach Vietnam gipfelt.

Bachmann knüpft in Drei Wege zum See an die homosexuelle Beziehung von Elisabeth Kovacs mit Jolanth Szatmary durch die Ehe Elisabeth Matreis mit Hugh an, wobei Bachmanns Konstellation zwischen Mann und Frau geschlechtlich uneingelöst bleibt. Anders als bei Roth wird die homosexuelle Beziehung nicht negativ dargestellt240, sondern als quasi geschwisterliches Zusammensein idealisiert, welches die Hoffnung auf ein ungestörtes Verhältnis zwischen Mann und Frau birgt. Sie willigt sofort in seinen Heiratsantrag ein, beide dachten, jeder würde sein eigenes Leben haben, und daß »eine Freundschaft vielleicht eine bessere Basis für eine Ehe als eine Verliebtheit« (Bachmann 2, 431) sei. Elisabeth wußte zwar schon zuvor, daß Hugh eine »gescheiterte Existenz war, aber nicht jemand, der scheitern wollte, sondern euphorisch anfing, und wenn man ihn enttäuschte, deprimiert und unfähig wurde« (Bachmann 2, 431). Aus solchen »verwirrten Selbstvorwürfen« (Bachmann 2, 461) geht die Beziehung zu Ende, weil sie zu vorschnell in die Trennung einwilligt. »Mit Hugh hätte alles gut gehen können, und nur er hatte es fertig gebracht, Einfälle zu haben, die Elisabeth heute noch glücklich machten, denn Hugh war wirklich großzügig und gut zu ihr gewesen.« (Bachmann 2, 462)

Im Kontext von Elisabeths Männerbeziehungen sind Manes, Trotta und Hugh die erste, zweite und dritte »große Liebe« (Bachmann 2, 437) – die Metaphorik der drei Wege, die ins Nichts führen. In der Erinnerung wird ihr klar, daß sie »in fast dreißig Jahren keinen Mann getroffen hatte, einfach keinen, der von einer ausschließlichen Bedeutung für sie war, der unausweichlich für sie geworden war, jemand, der stark war und ihr das Mysterium brachte, auf das sie gewartet hatte, keinen, der wirklich ein Mann war und nicht ein Sonderling, Verlorener, Schwächling oder einer dieser Hilfsbedürftigen, von denen die Welt voll war« (Bachmann 2, 450).

Neben Elisabeths Ehe mit Hugh ist das inzestuös konnotierte Verhältnis zu ihrem Bruder eine weitere, unkonventionelle Möglichkeit des Zusammenlebens. Elisabeth reist von der Hochzeit ihres Bruders mit Liz, der zweiten Elisabeth in der Erzählung, nach Klagenfurt zu ihrem Vater. Die verstörenden Tage in London, das Gefühl, »sie habe jetzt Robert verloren« (Bachmann 2, 406), und die Bekanntschaft mit der naiven, dreißig Jahre jüngeren Schwägerin werden zu Katalysatoren der Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit.241 In der Betrachtung des Hochzeitsphotos, auf dem der Bruder, Liz und Elisabeth zu sehen sind, kommt ihr »der Einfall, daß, bei einer kleinen Umgruppierung, man eher Robert und sie für das Paar halten konnte« (Bachmann 2, 398).242 Die inzestuöse Geschichte wird wiederholt angedeutet. Sie wirft Robert in Paris aus ihrem Bett, der »anfing, ihre Haare und ihr Gesicht zu streicheln, denn das mußte nun endgültig aufhören, oder es durfte vielmehr gar nicht erst beginnen.« (Bachmann 2, 457) Sie habe »zuerst ein Kind geliebt und erst viel später einen Mann«, habe sie einmal zu Manes gesagt, deswegen sei bei ihr »alles verkehrt gegangen« (Bachmann 2, 442). Das Irreale dieser Konstellation hat sie selbst erkannt, jedoch ist durch das Faktum der Hochzeit mit einer anderen Elisabeth in dieses Verhältnis eine dritte Person getreten. Obwohl sie die konventionelle Ehe nicht als alternative Lebensform zu ihrer eigenen versteht, verstärkt sich das Gefühl der Vereinsamung. Die Trennung mit Philippe vollzieht sie gedanklich bereits in Klagenfurt, und überlegt, was sie diesem sagen soll: »Mein Bruder hat geheiratet, und zwischen uns ist es aus, ich hoffe, du verstehst.« (Bachmann 2, 449) Das Geschwisterverhältnis mit zum Teil inzestuösen Zügen stellt ein wiederkehrendes Motiv in Bachmanns Werk dar, wie das Verhältnis zwischen Franziska und Martin in Der Fall Franza am deutlichsten belegt.243

 

In Roths wie in Bachmanns Texten findet sich nicht nur kein realisiertes ›positives‹ Verhältnis zwischen den Geschlechtern, sondern fehlen auch andere funktionierende Beziehungen.244 »[W]ie Joseph Roth thematisiert auch Ingeborg Bachmann den Verfall der Möglichkeit dauerhafter Liebesbeziehungen nicht nur als ein Geschlechterproblem, das dann bekanntlich immer das des ›schwachen Geschlechts‹ ist, sondern als ein strukturelles, eines der ›Sitten‹ der Gesellschaft.«245 Die Frauen untereinander sind mit Neid und Eifersucht, die Männer durch Konkurrenzkampf und Machtdenken voneinander getrennt. Die jeweiligen Zeitdiagnosen zeigen die ›transzendentale Obdachlosigkeit‹246, die alle Beziehungen zwischen den Menschen erfaßt, denn »das Problem der Beziehungslosigkeit und der Vereinzelung […] erscheint nicht mehr als ein individuelles Problem, sondern als gesellschaftliches.«247 Roths ›Trotta‹-Romane wie Bachmann ›Todesarten‹-Zyklus zeigen den Kampf der Geschlechter nicht als ein Einzelproblem, sondern als Bestandteil eines universalen Kampfes, der sich zwischen den Menschen täglich abspielt.

Dieses Nichtverstehen wird ebenso deutlich als Generationsproblem, denn neben den auf der Namensebene fortgeführten Figuren aus Roths ›Trotta-Romanen‹ werden noch andere verwandte Gestalten in Drei Wege zum See sichtbar, nämlich die Eltern als Anachronismen.

Anachronismen: Die Eltern

Bert Brecht hat, wie Sie wissen, niemals Ihre politischen Meinungen geteilt. Es war ihm ganz unmöglich zu schweigen. Dies hätte völligen Verzicht auf seine literarische Produktion bedeutet. […] Er verzichtet auf sein Erbe.248

Bert Brecht an seinen Vater

Die Fortführung auf der Figurenebene in Drei Wege zum See von Roths ›Trotta‹-Romanen reicht bis zu den Eltern. Diese erscheinen als Relikte einer vergangenen Zeit, die durch die Erzählhaltung kritisch bewertet werden.

Die Protagonisten Franz Ferdinand und Elisabeth Matrei haben jeweils nur noch ein Elternteil, wobei in beiden Texten die abwesende, höchstwahrscheinlich verstorbene Person kaum erwähnt wird. Schon bei Elisabeths Ankunft in Klagenfurt ergibt sich eine Spiegelung zwischen ihrem Vater und Franz Ferdinands Mutter. Während Franz Ferdinand nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg bei der Umarmung mit seiner Mutter feststellen muß, »daß sie so viel größer war als ich« (Roth 6, 297), bemerkt Elisabeth, daß ihr Vater »kleiner geworden« war, und »sein Blick war kindlich und ein wenig hilflos geworden« (Bachmann 2, 394). Daß Elisabeth ihrem Vater überlegen und Franz Ferdinand seiner Mutter unterlegen ist, zeigt sich als Charakterisierung der Figuren, die im weiteren Verlauf der Geschichten noch an Bedeutung gewinnt, da Franz Ferdinand letztlich auch seiner Ehefrau unterlegen ist und Elisabeth allen Männern bis auf Franz Joseph Eugen Trotta und Branco überlegen ist. »Not only has the mother-son relationship been transformed into an father-daughter one, but the relative strength of the partners is also reversed.«249 Franz Ferdinand Trottas Scheitern ist in dieser Unterlegenheit bereits vorgezeichnet, so wie Elisabeths Sichbehaupten in einer männlichen Gesellschaft in dieser Eröffnungsszene am Bahnhof vorgegeben ist. Letzten Endes ist Elisabeth in der Lage, über ihre persönliche Situation wie über die geschichtlichen Gegebenheiten zu reflektieren und mit ihrem Aufbruch zur Berichterstattung in den Vietnamkrieg einen Neuanfang zu wagen. Der Trotta aus der Kapuzinergruft hingegen verzagt und scheitert wie sein Wiedergänger in Drei Wege zum See viele Jahre später.

Deutlicher korrespondiert Herr Matrei mit dem Bezirkshauptmann aus Radetzkymarsch: »Warum Elisabeth plötzlich an den Bezirkshauptmann Trotta aus der Monarchie denken mußte, der für sie nur eine Legende war, wußte sie nicht, aber sie dachte, mein Vater und er, die ähneln einander so sehr. Mehr als eine halbes Jahrhundert später gab es wieder jemand, der jemand ähnelte aus einer anderen Welt, einer versunkenen. Und vielleicht waren ihre Gedanken deswegen so oft bei Franz Joseph Trotta in dieser Zeit, an den sie in manchen Jahren kaum gedacht hatte« (Bachmann 2, 467). Diese Ähnlichkeit und Geistesverwandtschaft sind für Elisabeth als Erzählerin eine Ursache, sich mit ihrer Kindheit, Familie, ›Heimat‹ und der Geschichte auseinanderzusetzen; Bachmann als Autorin gibt an dieser Stelle einen deutlichen Hinweis auf die Bedeutung und Verknüpfung mit Roths Romanpersonal, insbesondere mit der Figur des Trotta.

Der zurückgezogen lebende und weltfremde Herr Matrei ist auch Beamter gewesen, intoniert wie der Bezirkshauptmann »das gute ärarische Deutsch« und stört sich »an irrsinnigen Ausdrücken auf den Speisekarten, die kein Österreicher verstand« wie beispielsweise »Käsesahnetorte« statt »Topfenkuchen« (Bachmann 2, 466); sein Vorgänger im Radetzkymarsch mußte bei jedem festlichen Sonntagsmahl die Verdeutschung von ›Kren‹ in ›Meerrettich‹ der Hausangestellten Frau Hirschwitz beanstanden (Roth 5, 162). Eine vordergründig komische, aber im Kern doch deutliche Kritik an der erneuten deutschen Besetzung nach dem Krieg, denn »das habe nichts mit Fremdenverkehr zu tun, sondern gleiche einer Okkupation« (Bachmann 2, 466).250 Ebenso stellen sowohl Carl Joseph im Radetzkymarsch als auch Elisabeth Matrei das Altern ihrer Väter fest (vgl. Roth 5, 283, Bachmann 2, 394) und lassen diese im Kontext ihrer Beschwörung vergangener Zeiten als lebende Anachronismen kenntlich werden.

Da dem Bezirkshauptmann wiederholt Ähnlichkeiten mit dem Kaiser unterstellt wurden, wenn Chojnicki beispielsweise feststellt: »Sie erinnern mich an Franz Joseph« (Roth 5, 146) und Trotta am selben Tag wie dieser stirbt (Roth 5, 454)251, wird durch Elisabeths Bemerkung diese Affinität weiterentwickelt. »Elisabeth’s ruminations complete a circle of literary and historical identification that leads from Franz Joseph I to the Bezirkshauptmann to Herr Matrei to Franz Joseph Trotta.«252 Herrn Matreis Feststellung, daß »der Riß weit zurücklag, alles danach eine Konsequenz des älteren Risses war, und daß seine Welt, die er doch kaum mehr gekannt hatte, 1914 endgültig vernichtet worden sei« (Bachmann 2, 453f.), macht deutlich, daß er den geschichtlichen Einschnitt Österreichs nicht 1938 und den Untergang des Habsburgerreiches nicht 1918, sondern mit der Ermordung des Thronfolgers gegeben sieht; seine letzte Reise führte ihn nach Sarajewo (Bachmann 2, 442), und Elisabeth schenkt ihm das Buch Die Straße nach Sarajewo253, »denn das ging ihn etwas an« (Bachmann 2, 400). Mit dem Bezirkshauptmann und auch mit Carl Joseph Trotta verbindet ihn daher die Einschätzung, daß die Monarchie an seinen aufsässigen, unabhängigkeitsfordernden Nationen gescheitert sei, da das Attentat in Sarajewo schließlich von einem nationalistischen Serben verübt wurde. Das Habsburgerreich sieht er im Rückblick, vergleichbar mit unzähligen Aussagen in Roths Texten, als gelungene Realisierung einer übernationalen, fortschrittlichen Idee gegenüber dem »ganzen Aufklärungsgerede aus der großen Welt«, wenn er sagt: »Die Welt war einmal beinahe schon wirklich groß und etwas weiter fortgeschritten, aber das erklär ich euch nicht« (Bachmann 2, 454).254 Diese Aussage erweist sich wie die Charakterisierung ihres Vaters als wertendes Urteil über solche Geschichtsverherrlichung. Ihre kritische Haltung gegenüber seinem rückwärtsgerichteten Denken verdeutlicht dies: »[M]an konnte ja von den Menschen wirklich nicht verlangen, daß sie sich von der Vernunft regieren ließen, und sie dachte belustigt an ihren Vater, der ganz ernsthaft erklärt hatte, es sei damals alles ganz und gar vernünftig gewesen und sonderbar, und gerade das hätten alle verstanden, weil sie eben allesamt sonderbare Leute waren, und auch die Revolutionäre seien ganz erschrocken gewesen, wie es dann dieses verhaßte, aber mehr noch geliebte sinnlose Riesenreich nicht mehr gab. Sie aber würde sich nicht mehr anstecken lassen von dieser Krankheit, die im Aussterben war« (Bachmann 2, 444f.).

Bachmann schreibt die wesentlichen Figuren aus Roths ›Trotta-Romanen‹ im Simultan-Zyklus fort und verbindet die Rothsche Romanwelt mit ihrer eigenen. Sie verbindet auf diese Weise das Gestern mit dem Heute, indem sie auf geschichtliche Kontinuitäten hinweist, diese zeitgemäß weiterführt und teilweise auch korrigiert.

Zeit-Geschichte

Ich sollte ihre Erzählung lesen, die an Roths Kapuzinergruft anschließt.255 Hermann Kesten

Die zeitlichen Verknüpfungen zwischen Roths Kapuzinergruft – und damit auch mit dem Rothschen Vorgängertext Radetzkymarsch – mit den Simultan-Erzählungen belegen die Akzentuierung beider Autoren auf zentralen zeitgeschichtlichen Daten Österreichs.

Die Rekonstruktion der äußeren Chronologie ergibt für Roths Prätexte wie Bachmanns Folgetexte nachstehendes Zeitgerüst: Der Radetzkymarsch setzt 1859 bei der Schlacht von Solferino an und endet 1916 mit dem Tod des Kaisers. Das erzählte Geschehen der Kapuzinergruft setzt 1913 an und endet mit dem ›Anschluß‹ 1938. Die Erzählungen in Simultan umspannen die erzählte Zeit von 1955 bis Juli 1970, vor allem aber die Phase von 1968 bis 1970. Die zeitliche Lücke zwischen 1938 und 1955, dem Ende von Roths Kapuzinergruft, der bewegten Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges bis zum Staatsvertrag, wird in der letzten und längsten Erzählung des Zyklus geschlossen. In Drei Wege zum See findet die deutlichste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Österreichs statt, indem die Protagonistin Elisabeth Matrei sich einerseits ihrer Kindheit erinnert und andererseits die Ereignisse zwischen 1938 und 1945 durch die Figur des Joseph Eugen Trotta und die Nennung von Jean Amérys Bewältigungsversuch der KZ-Folter Die Tortur (1965) in den Text integriert werden. »Wenn also auch das Vordergrundgeschehen des Zyklus in den fünfziger und sechziger Jahren anzusiedeln ist, so lotet doch die letzte Erzählung die alle Texte des Zyklus bestimmende historische Dimension aus und verklammert auf diese Weise den Zyklus mit Roths Kapuzinergruft.«256

Die Nennung exakter Daten ist in Roths wie Bachmanns Texten dennoch spärlich. Das historische Datum 1914 wird bei Roth jedoch mehrmals erwähnt, so daß der Kriegsausbruch und der Kampf Österreich-Ungarns gegen seine eigenen Völker einen größeren Stellenwert erhält als der eigentliche, endgültige Untergang der Monarchie im Jahre 1918. Der Schluß der Kapuzinergruft im Jahre 1938 schließt infolgedessen eine Entwicklung ab, die Roth zufolge 1914 mit der Auflösung des Habsburgerreiches durch den kriegerischen Ausbruch des Nationalitätenstreits einsetzte.

Die einzigen ausdrücklich genannten Jahreszahlen in Simultan finden sich wiederum in Drei Wege zum See: 1914 (Bachmann 2, 433, 454), 1938 (Bachmann 2, 416, 453), 1968 (Bachmann 2, 394, 429); drei historische Zäsuren, die als Eckdaten deutlich Verweischarakter besitzen. Das entscheidende Datum für Simultan ist jedoch das Jahr 1968 als Kernzeit der Handlung, mit der Auflage der Wanderkarte in Drei Wege zum See – »der Ursprung dieser Geschichte« (Bachmann 2, 394) –, dem offenen Schluß am Ende des Zyklus und letztendlich der Erstveröffentlichung der Titelerzählung Simultan. Die Referenzen an die Mairevolution, den Vietnamkrieg, den kalten Krieg, die FAO, den Algerienkrieg, die Hippiebewegung und die »moderne Psychologie« (Améry, T 193) verweisen auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund der Erzählungen und bleiben nicht, wie Jean Améry in seiner Besprechung mutmaßte, »der Essenz dieser Erzählungen eigentümlich fremd« (Améry, T 193). Simultan ist ein Reflex auf die Ereignisse 1968 in Europa und die relative politische Windstille in Österreich.

 

Bachmann führt diesen Austritt Österreichs aus der Geschichte, diese politische Windstille um 1968, auf einen »Fatalismus« zurück, dessen Herkunft das erdrückende habsburgische Erbe ist: »[…] Österreich ist ein hervorragendes Beispiel. Es unterscheidet sich ja insofern von allen anderen kleinen Ländern heute, weil es ein Imperium war und man einiges lernen kann aus seiner Geschichte. Und weil die Untätigkeit, zu der man gezwungen ist, den Blick ungeheuer schärft auf die große Situation und auf die Imperien von heute. Wer selbst einmal untergegangen ist, weiß, was das bedeutet. Und das Gefühl dafür ist unbewußt in allen da, führt zu diesen Abarten von Melancholie, Pessimismus und zu diesem scharfen, manchmal so bösen Blick und einer fatalistischen Haltung. Ich würde aber gern einmal die heute noch so wenig fatalistischen Amerikaner sehen, wenn nur noch Washington und Umgebung übriggeblieben ist. Das macht Menschen zwangsläufig fatalistisch, und zwar nicht, weil sie einem Verlust nachtrauern. In Österreich trauert kein Mensch irgend etwas nach« (Bachmann, GuI 106f.). Die Verbindung zwischen den Referenzen an Roths »Untergangsromane«257 und denen an die Zeitgeschichte in Simultan erhellt diese Äußerung aus dem Jahre 1971. Ingeborg Bachmann betont dabei die Bedeutung des untergegangenen Riesenreiches für das österreichisch-habsburgische Denken, dem sie sich in Drei Wege zum See am entschiedensten in ihrem Œuvre zugewendet hat: der topographischen Spurensuche nach Peripherie, Zentrum und Außenwelt, die entscheidend für die Auseinandersetzung der Figuren mit der Geschichte ist.