Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum.

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Antiheimatliteratur

Ehe nicht der Mensch das Gefühl des Weltbürgertums bekommt, […] wird es auf dem apokalyptischen Weg weitergehen.65

Hermann Broch

Die Antiheimatliteratur ist die Negation der Heimatliteratur. Autoren wie Ganghofer, Rosegger, Waggerl verzeichnen mit ihren idealisierten Provinz- und Heimatromanen Millionenauflagen seit den dreißiger Jahren; insbesondere nach 1945 finden diese Autoren eine breite Leserschaft. Gegen diese Scheinidylle der Nachkriegszeit wendet sich der negative Heimatroman.

Das Genre der Heimatliteratur wird durch die Novellen Joseph Schreyvogels zu Anfang des 19. Jahrhunderts eingeleitet. Magris zufolge wird diese Tradition zu einer der exemplarischen Evasionsmöglichkeiten der österreichischen Literatur. Es birgt jene Themen und jene Atmosphäre, welche »die ländliche, provinzielle Dimension des habsburgischen Mythos darstellen.«66 Die idealisierte Welt der Provinz und des Landes werde zum Ausdruck eines Menschenbildes, das auf aktive Teilnahme am Lauf der Geschichte verzichtet und sich in eine idyllische, heitere Gegend flüchtet. Um 1900 ist die ›Heimatkunst‹ die Gegenbewegung zur Großstadtkunst des Naturalismus, um die Literatur wieder auf die ›Urkräfte‹ Volkstum, Stammesart und Landschaft zurückzuführen. Diese fast durchwegs der Trivialliteratur zuzurechnende Literatur geht teilweise im ›Dritten Reich‹ in die sogenannte ›Blut- und Bodendichtung‹ über.67

Heimatliteratur ist ideologisch behaftet, obwohl sie auch ein wertungsfreier Oberbegriff für literarisches Schaffen aus dem Erlebnis der ›Heimat‹, der Landschaft und ihrer Menschen sein kann. Selbst Großstadtliteratur kann Heimatliteratur sein, und sie kann sich zu hoher Kunst erheben, da ›Heimat‹ in der Weltliteratur eine wichtige Rolle spielt: Dublin für James Joyce, Triest für Italo Svevo, Wien für Ingeborg Bachmann, Ländliches wie Galizien für Joseph Roth, die Hügel um Turin für Cesare Pavese, die Karibik Kolumbiens für Gabriel Garciá Marquéz, Sizilien für Tomasi di Lampedusa, Brandenburg für Theodor Fontane oder auch Oberösterreich für Thomas Bernhard. Der Reflexionsgrad als kritischer Filter in bezug auf die jeweilige ›Heimat‹ unterscheidet diese von der traditionellen Heimatliteratur Ganghofers, Roseggers und Waggerls, in welcher Klischees, Vorurteile und Traditionsliebe unreflektiert dargestellt werden.68 Adorno lehnt durch die Erfahrung der Instrumentalisierung dieser Gattung während des Nationalsozialismus die Heimatliteratur als »Brutalität des Rustikalen« strikt ab und fordert die »Emanzipation von der Provinz«.69

Die österreichische Antiheimatliteratur emanzipiert sich von der Provinz, indem sie diese zerstört. Das Genre der Antiheimatliteratur begründet Hans Lebert, indem er Österreich erstmals auf den Begriff bringt – des Dorfes. »Seither tritt uns Österreich in der hausgemachten Literatur der Gattung Anti-Heimatroman im Bilde des bösen Dorfes entgegen.«70 Am Wirtshaustisch des fiktiven Dorfes Schweigen versammeln sich die Landhonoratioren, die in der Parole ›Wir bleiben wir‹ alte Kriegsverbrechen verbergen und gleichzeitig neue Verbrechen begehen. Der Roman markiert die Zäsur der größtenteils restaurativen Literatur der fünfziger Jahre und findet viele Nachahmer, so daß die ›Antiheimatliteratur‹ eine Zeit lang Österreichs neuesten Beitrag zur Weltliteratur darstellt.

Der Begriff der ›Antiheimatliteratur‹ wird für Bernhards literarischen Durchbruch Frost und auf seine in Folge erschienenen Texte verwendet. Bernhard wird damit einer Kategorie zugeordnet, in die er sich selbst nicht eingebunden sah. In einem Interview über zwei der wichtigsten Vertreter der ›Antiheimatliteratur‹, die politisch engagierten Autoren Gernot Wolfgruber und Franz Innerhofer, äußert er sich kritisch: »Die haben es nicht geschafft durchzuhalten. Damit das einen Sinn gehabt hätte, hätten sie mindestens 20 oder 30 Jahre auf ihren Ideen beharren müssen. Doch kaum werden sie beachtet, glauben sie schon Genies zu sein, erscheinen im Fernsehen, und nach kurzer Zeit vergessen sie ihre revolutionären Ideen.«71 Diese Aussage belegt einerseits seine Lektüre der Antiheimatliteraten der späten sechziger und der siebziger Jahre, andererseits distanziert sich Bernhard als außenstehender Kommentator von deren Ideen. Das Bild des negativen und nihilistischen Autors bestimmt noch heute die Rezeption, auch wenn mit dem offensichtlichen Bruch nach Korrektur und vor allem mit der autobiographischen Pentalogie neue Wege und Auswege aus dieser vermeintlichen ›Finsternis‹ aufgezeigt werden. Marcel Reich-Ranicki bezeichnete Bernhard im Jahre 1967, »ob er es will oder nicht, als österreichischen Heimatdichter«, nennt Verstörung einen »Blut-und-Boden-Roman à rebours« und konstatiert: »Aber in der Regel ähneln radikale Anti-Idyllen auf fatale Weise den Idyllen – sofern nämlich, als sie beide von der Wirklichkeit gleich weit entfernt sind.«72 In der Untersuchung zu Bernhards Fortschreibung von Leberts Wolfshaut wird diese Klassifizierung überprüft werden.

Peter Turrini hält die negative Heimatliteratur noch in den achtziger Jahren für die natürliche Reaktion auf die österreichische Nachkriegsgeschichte, denn mehr und mehr Kinder von Bauern, Arbeitern und Kleinbürgern aus der Provinz, verwundet von postfaschistischen Erscheinungen und ständigen Strukturbereinigungen, griffen zur Feder. »Schauen Sie sich doch einmal die Lebensläufe der neueren österreichischen Dichtergeneration an. Mit wenigen Ausnahmen stammten sie vom Lande oder aus Kleinstädten, sind dort verwurzelt und entwurzelt worden, geben Nachrichten aus der Provinz, von der sie, auch wenn sie sich räumlich entfernt haben, ein Leben lang nicht loskommen. Man könnte sie als späte Kinder Peter Roseggers bezeichnen, als verzweifelte und wütend gewordene Heimatdichter.«73

Die Blütezeit der ›Antiheimatliteratur‹ liegt in den sechziger und siebziger Jahren. In den achtziger und neunziger Jahren findet eine differenziertere Auseinandersetzung mit der ›Heimat‹ statt, in der Österreich nicht nur verherrlicht oder geschmäht wird.74 Karl-Markus Gauß hält die Gattung mittlerweile für erstarrt. »Ihr kritischer Impuls ist allerdings mählich erlahmt, und ihr wütender Bezug auf die Sozialstruktur des Landes mutierte zum bloßen Reflex auf literarische Muster, die es einst zu brechen galt – oder die es heute, da die Anti-Heimatliteratur ja längst in ihren eigenen Mustern erstarrt ist, einfach munter weiterzuverwenden gilt […], und darüber ist die Anti-Heimatliteratur vollends zur literarischen Lüge verkommen, ein anspruchslos ins Leere surrender Mechanismus, der heute dem alten Kitsch der Verklärung nur den schwarzen Kitsch der Denunziation entgegenzusetzen weiß; biedermännisch wie jener einst in der Idylle, hat es sich dieser in der literarischen Hölle gemütlich gemacht.«75

Ingeborg Bachmanns Texte sind dem Genre der Antiheimatliteratur fern, wobei in der Erzählung Unter Mördern und Irren der Topos des Stammtisches als Treffpunkt von Kriegsverbrechern aufgegriffen wird. Im Wirtshaus kommen die Ewiggestrigen zusammen, um in Kriegserinnerungen zu schwelgen und ihr erschreckend unreflektiertes Geschichtsbild zu formulieren.76 Der völligen Ablehnung von ›Heimat‹ steht in Bachmanns Werk eine kritisch-distanzierte Hinwendung gegenüber, die über die Vermittlung von Jean Amérys Exilerfahrungen und Heimatverlust in Drei Wege zum See gestaltet wird.

›Heimat‹ ist nicht grundsätzlich gleichzusetzen mit ländlicher Provinz, es kann auch eine Stadt sein oder die Kindheitslandschaft. Eine kritische Heimatliteratur kann die Auseinandersetzung mit der individuellen wie kollektiven Vergangenheit sein. Die Antiheimatliteratur zeigt jedoch keine Wege, sondern zerstört diese.

Sozialpartnerschaftliche Ästhetik

Die Verhältnisse hierzulande sind banausisch, kunstfeindlich und geisttötend.

Karl Kraus

Nach den Erwiderungen auf Greiners und Magris’ Thesen beruhigt sich die Debatte um das ›Österreichische‹. Anfang der neunziger Jahre erscheinen Robert Menasses Essays Die Sozialpartnerschaftliche Ästhetik und Das Land ohne Eigenschaften, in denen der Autor eine Bilanz zu österreichischer Identität und Geist zieht. Die vertretenen Thesen sind nicht grundsätzlich neu, sondern versuchen eine Synthese aus den bislang widerstrebenden Ansätzen zu schaffen. Menasse prägt für diese Vereinigung der Gegensätze den Begriff der ›Sozialpartnerschaftlichen Ästhetik‹.

Die österreichischen ›Sozialpartner‹ sind eine Erfindung der Zweiten Republik und setzen sich paritätisch aus Arbeiter-, Bundeswirtschafts- und Landwirtschaftskammer sowie dem Österreichischen Gewerkschaftsbund zusammen. Als Garant für den sozialen Frieden ist ein Kräftegleichgewicht geschaffen, das immer wieder Kompromisse erzielt. Die Kritik an diesem System besteht gerade in dem ständigen Ausgleich, der nicht progressiv, sondern konservierend auf die Gesellschaft wirke.77

Der Literaturbetrieb sei in die Harmonisierung der Gegensätze ebenso eingebunden, denn »Widersprüche werden gleichsam transzendiert, in der Realität aber nicht angetastet.«78 Daraus sei ein System unbegrenzter Möglichkeiten entstanden, in dem Revolution und Konservatismus nebeneinander stehen, ohne sich gegenseitig zu behelligen. Damit werde das von Magris als ›Habsburgischer Mythos‹ gekennzeichnete Klima der Harmonie, das schon im alten Österreich bestimmend gewesen sei, wieder aufgegriffen. Allerdings werden in der geschaffenen Scheinharmonie die bestehenden Gegensätze nicht aufgehoben: »Die Ambivalenz jenes Endzeitzustandes der Sozialpartnerschaft, dieses bürgerlichen Geschichtszieles, das die totale Harmonie durchsetzt, ohne die Konfliktursachen zu beseitigen«79, sei ein künstliches Paradies »institutionalisierter Konfliktharmonisierung«80. Dies führe zu einem Stillstand der Geschichte, und in den Romanen Handkes und Bernhards erkennt Menasse daher »grundsätzlich keine Konkretisierung des historischen Moments«81, und Gernot Wolfgrubers Figuren scheitern nicht prinzipiell, sondern an »diesen in Österreich so elastisch versteinerten Verhältnissen«82.

 

In dem zwei Jahre später erschienenen Essay Das Land ohne Eigenschaften führt Menasse diese Thesen fort: »Österreich hat sich von seiner Geschichte abgeschottet und versucht dennoch von seiner Musealität zu leben.«83 Die heutige österreichische Realität zeige eine deutliche Parallele zu dem Österreich, das Musil im Mann ohne Eigenschaften beschrieben hat: »Wieder leben wir in einer Endzeit.«84 Die österreichische Neutralität sei zu einem Mythos geworden, und daher sei es kein Zufall, daß in Österreich mit der sogenannten ›Antiheimatliteratur‹ eine im internationalen Vergleich völlig eigenständige, neue literarische Gattung entstanden ist, denn »Österreich ist die Anti-Heimat par excellence.«85 Die Literatur, die sich mit dem Desaster der Provinz beschäftigt, sei daher das Beste, was die Zweite Republik hervorgebracht habe. Menasse verweist auf die Romane Hans Leberts und Gerhard Fritschs wie auf ihre Nachfolger.86

So wie Magris die Mythologisierer der Zwischenkriegszeit mythologisiert, synthetisiert Menasse die Synthetisierer der Nachkriegszeit. Die bisherigen Versuche zur Bestimmung des ›Österreichischen‹ erhalten jeweils ihre Berechtigung, indem das Gegensätzliche und Unbestimmbare den ›Geist‹ und die ›Identität‹ der österreichischen Gesellschaft und Literatur bedeute. Die Harmonisierung der im ›Habsburgischen Mythos‹ verwurzelten Autoren und der von Greiner unterstellte Eskapismus für die Autoren der siebziger Jahre wird von Menasse nicht widerlegt, sondern erklärt und begründet. Deutlich wird bei diesem erneuten Bestimmungsversuch, daß sich die österreichische Literatur einer klaren Kategorisierung entzieht, beziehungsweise daß sie darin ihr Wesen zu haben scheint. Das ›Österreichische‹ näherte sich auf dieser Weise dem Zeitgeist der Postmoderne an, für den auch die Geschichte nur noch aus Versatzstücken besteht, die beliebig zusammengefügt werden können.

Nationalliteratur in der Postmoderne

In der Welt von heute ist das Problem der nationalen Identität besonders akut. […] Wir müssen begreifen, daß die Welt zwar voller Widersprüche steckt, aber dennoch eine einzige Welt ist – und Nationen macht das nervös. Sie fürchten, ihre Kultur zu verlieren, ihre Sprache und ihre Lebensweise. […] Globalisierung darf allerdings keine Dampfwalze sein, die in der ganzen Welt völlige Gleichförmigkeit schafft und die Vielfalt der Kulturen außer acht läßt. Deshalb müssen […] wir einen politischen Mechanismus finden, um diese beiden Tendenzen miteinander zu versöhnen.87

Michail Gorbatschow

Anläßlich der Frankfurter Buchmesse mit ihrem literarischen Schwerpunktland Österreich sind eine Fülle an Meinungen und Positionen seitens österreichischer und deutscher Kritiker zum Wesen des ›Österreichischen‹ publiziert worden. Im Sinne von Magris und Menasse wird das Heterogene zum eigentlichen Bestimmungsfaktor. Eine Bündelung der wiederkehrenden Thesen soll den Ausblick auf das ›Österreichische‹ im Werk Ingeborg Bachmanns und Thomas Bernhards geben.

Das habsburgische Erbe wirkt weiterhin in der österreichischen Literatur fort. Strukturen wie der übermächtige Beamtenapparat, der Ordnungsglaube88, das kuriose Titel- und Formelunwesen, mangelnder Widerspruchsgeist, lächelnde Heuchelei seien allesamt Atavismen des behäbigen Habsburgertums. Der ›Habsburgische Mythos‹ sei »wie eine Art Ödipuskomplex«89. In diesem Kontext spricht Leo Federmair auch von den verbindenden formalen Gesichtspunkten: »Demnach sind ihre Hauptcharakteristika das Barocke, Verspielte, Manieristische, eher Sinnliche als Intellektuelle.«90

Raoul Schrott hält die Österreicher weiterhin für »servil, ein Erbe kaiserlicher und königlicher Monarchien, das zur hohen Kunst des Hofnarrentums« neige, »dessen morbider Charakter sich in den Kaffeehäusern offenbar[e], in der hohen Kunst des Nörgelns«91. Aus Ahnen und Erleben des Zerfalls von einem Großreich, das Österreich einmal als Monarchie der Habsburger jahrhundertelang war, und aus dessen »Zerbröselung aus sich selber, mündend in den Kopfsturz des Selbstmords«92, seien all die Ängste und Schwächen entstanden. Für Günther Nenning ist »die geheimnisvoll fortdauernde altösterreichische Grundlage der österreichischen Literatur […] viel müheloser multikulturell als die deutsche. Insofern (dank des verschollenen Vielvölkergedränges) ist die österreichische Literatur nichtdeutsch. Die deutsche Literatur ist ethnisch reiner – und insofern bornierter, provinzieller als österreichische Literaturprovinz.«93 Darin sieht Barbara Frischmuth gerade die große Chance Österreichs, weil die meisten anderen Nationen einen viel starreren Nationenbegriff haben und es schwerer mit der notwendigen Modernisierung haben.94 Der ›Habsburgische Mythos‹ wird von diesen Autoren – trotz seiner Nachteile95 – als multinationale, multikulturelle und multilinguale Tradition geschätzt, die es in der Moderne zu nutzen gilt. Dieses Erbe muß allerdings sensibel verwaltet werden, damit daraus keine ideologisch gefährliche Nationalliteratur entsteht, die bereits im 19. Jahrhundert und dann im Nationalsozialismus korrumpiert war.96 Auch die österreichische Nachkriegsgeschichte zeige, wie leicht es sich die Mehrheit der Österreicher gemacht habe, sich nur in die Geschichte zurückzuwenden und dabei die drängende Gegenwart zu vermeiden.97

Der zweite Mythos besteht in dem Herunterspielen und Verfälschen der Rolle Österreichs im Nationalsozialismus gegenüber der Weltöffentlichkeit, wobei für eine Vielzahl von Österreichern, für die das Jahr 1945 subjektiv nicht Befreiung, sondern Niederlage bedeutete hatte, Konzession um Konzession gemacht werden mußte.98 Diese Kontinuität gilt es zu bekämpfen, da sich Österreich wieder von rechten Kräften bedroht fühlt: »es ist traurig, dass die ›volksseele‹ der österreicher zum faschismus tendiert.«99

Wendelin Schmidt-Dengler konstatiert weiterhin zwei einander schroff gegenüberstehende Positionen in der österreichischen Nachkriegsliteratur: »eine Position der Ordnung und eine der Anarchie.«100 These steht gegen These: Austriakischer Triumphalismus gegen ständige Selbstzweifel, permanente Unschuldsbeteuerungen gegen ständige Selbstbekenntnisse. Diese Mehrsinnigkeit leite sich schon von Freud und Schönberg als entscheidende Etappen in der Bewußtseinsbildung her, nämlich deren Eintritt in die Selbstreflexion.101

Letztendlich vermögen die das ›Österreichische‹ konstituierenden Merkmale »die großen Probleme und großen Krisen des zeitgenössischen westlichen Bewußtseins mit außergewöhnlicher Luzidität auszudrücken.«102 Ingeborg Bachmann sieht Österreich durch seine Geschichte als Nukleus für weltweite Prozesse: »Man kann von diesem kleinen, verwesten Land aus Phänomene viel genauer sehen, die man in den großen, verblendeten Ländern nicht sieht.« (Bachmann, GuI 80) Damit näherte sich die mikroskopische Untersuchung österreichischer Literatur globaleren Zusammenhängen und Problemen der Moderne wie Fortschritt versus Tradition, politische Gemeinschaft versus kulturelle Verschiedenheit, Geschichtsbewältigung versus Geschichtsklitterung, künstlerische Utopie versus vollständige Resignation.

Anton Pelinka stellt für das Österreichbild die Synthese her, daß jeder seine eigene Wahrheit behalten dürfe. »Österreich ist nicht gleich Österreich, die Wirklichkeit dieses Landes widerspricht seiner Wirklichkeit. […] Aber eben weil Österreich immer wieder neu und im Widerspruch erfunden wird, gibt es keinen Stillstand – Österreich ist nicht zu Ende.«103 Peter Wapnewski verweist auf das gemeinsame Erbe des ›morbus austriacus‹, das die österreichischen Autoren dieses Jahrhunderts miteinander verbinde: »Denn was immer sie trennen mag, was immer sie unterscheiden mag von sozialer und geographischer und religiöser Abstammung her: sie alle tragen als Erbe den morbus austriacus in sich, die Last großer Schwermut und schmerzlicher Trauer, die Unlust, an der Lust des Lebens anders teilzunehmen als in spielerischem Spott, in sanfter Wehmut oder bitterem Hohn«.104

In welcher Weise Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard von diesem ›morbus austriacus‹ befallen sind, den Jean Améry im Werk beider Autoren erkennt105, sollen die folgenden Ausführungen zum Verhältnis Österreichs zeigen.

Bachmann, Bernhard und das ›Österreichische‹

Vergessen Sie auch nicht das Gewicht der Geschichte. Die Vergangenheit des Habsburgerreichs prägt uns. Bei mir ist das vielleicht sichtbarer als bei den anderen. Es manifestiert sich in einer Art echter Haßliebe zu Österreich, sie ist letztlich der Schlüssel zu allem, was ich schreibe.106

Thomas Bernhard

Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard gehören zu den bedeutendsten Autoren der Nachkriegszeit in Österreich. In welcher Weise ihr Werk spezifisch ›österreichisch‹ ist, in den ›Habsburgischen Mythos‹ als ›mythenreicher Vorstellungswelt‹ eingebunden ist und sich mit dem Opfermythos als ›ererbtem Alptraum‹ auseinandersetzt, werden die folgenden Einzeluntersuchungen zur Fortschreibung der Werke Joseph Roths, Jean Amérys und Hans Leberts ausführen. Beide Autoren haben sich jedoch wiederholt in ihrem Werk und in Interviews zu Österreich geäußert.

Thomas Bernhards 1966 publizierte Politische Morgenandacht stellt als polemischer Entwurf und Verwurf Österreichs seine dezidierteste Auseinandersetzung mit der habsburgischen Vergangenheit und der österreichischen Gegenwart dar. Kaum einer wisse heute noch von »was für glänzenden, den ganzen Erdball überstrahlenden und erwärmenden Höhen [die österreichische Politik] im Laufe von nur einem einzigen halben Jahrhundert in ihr endgültiges Nichts gestürzt ist. […] Heute, ein halbes Jahrhundert nach der Zertrümmerung des Reiches, ist das Erbe verbraucht, die Erben selbst sind bankrott. […] Ich enthalte mich nicht der Versicherung, daß wir in Österreich von dem ›Begriff Österreich‹ nichts mehr zu hoffen haben. Wir werden aufgehen in einem Europa, das erst in einem anderen Jahrhundert entstehen mag, und wir werden nichts sein. Wir werden nicht über Nacht nichts sein, aber wir werden eines Tages nichts sein. Überhaupt nichts. Und beinahe überhaupt nichts sind wir schon. Ein kartographisches Nichts, ein politisches Nichts. Ein Nichts in Kultur und Kunst.« (PM 11ff.) Diese wohl deutlichste Interpolation von Habsburger Reich und Nachkriegszeit ist Kennzeichen von Bernhards in der altösterreichischen Geschichte angesiedelten Literatur, von dessen Erbe er sich jedoch nicht mehr viel verspricht.107 Die österreichische Geschichte ist scheinbar am Ende und die ruhmvolle Tradition des Landes wirkt übermächtig und blind fort. Diesen Widerspruch verarbeiten Bernhard und Bachmann, wie ihre Reminiszenzen an die österreichische Kulturgeschichte von Haydn, Mozart, Bruckner bis zur Wiener Schule und von Stifter, Hofmannsthal, Rilke, Kafka, Musil bis zu Broch zeigen. Die Polarität von Wirklichkeit und Wirklichkeitsflucht, von Handlung und Handlungsverzicht ist die Spannung, die ihre Figuren gegenüber ihrem Erbe aufreibt.

Daß in Bernhards Werk wiederholt ein Erbe anzutreten ist, das dann verschenkt oder vernichtet wird, und diese Erbschaften Schlösser, Burgen und gewaltige Ländereien umfassen, ist ein Hinweis darauf, wie das habsburgische Erbe auf den Figuren lastet. »Thomas Bernhards Werk ist eine einzige Anstrengung, den Mythos zu liquidieren«108, vermutet Ulrich Greiner. Dieses Erbe ist jedoch infiziert, wie an dem Familienbesitz Wolfsegg in Auslöschung deutlich wird, da es durch die Korrumpierung mit den Nationalsozialisten und durch die dort verübten Verbrechen jäh von der geschichtlichen Tradition Großösterreichs abgetrennt worden ist. Die Gefahr der Nostalgie ergibt sich deswegen kaum, auch wenn die Schönheit österreichischer Landschaft und kultureller Bestände immer wieder betont wird.109 »Österreicher wird man ja nicht in einer Nacht, sondern in einem langen Prozeß, das ist eine Jahrhundertsache und keine von Jahrzehnten. Alles, was wir sind, setzt sich aus den Leuten zusammen, die vor uns waren, in dieser Verschmelzung von Völkern. Österreich war ja immer offen, tatsächlich weltoffen. Und ist es ja heute noch. Der Österreicher sagt zwar, ich bin nur Provinz, aber es ist ja genau das Gegenteil.«110 Dieses weitere deutliche Bekenntnis zur jahrhundertelangen Geschichte Alt-Österreichs demonstriert Bernhards Verwurzeltsein in der Kultur seiner Vorfahren. Eine ›Heimat‹ ergibt sich daraus jedoch nicht mehr, zumindest nicht im Sinne von unbelehrbaren Faustpatrioten. »Folgerichtig intensiviert sich der Zweifel an der Aufmerksamkeit, auch was das geliebte, genauso gehaßte Österreich, das Land meiner Eltern betrifft. Was diesen noch Heimat gewesen war, eine lebenslängliche Glücks- und Schreckensbindung, ist mir ein mehr oder weniger zur Gewohnheit gewordener Geschichtsaufenthalt, geliebte, gehaßte Nähe, von Heimat kann keine Rede sein«111. Bernhard distanziert sich immer wieder von Österreich, das durch seine Geschichte wie auch die Verbindung von Staat und Kirche korrumpiert worden sei.112 Er gibt diesen österreichischen Verhältnissen letzten Endes eine produktive Wendung, da Zorn und Verzweiflung seine einzigen Antriebe zum Schreiben darstellen, und in Österreich habe er den idealen Ort dafür gefunden. »Kennen Sie viele Länder, wo ein Minister sich extra bemüht, um die ›Rückkehr in die Heimat‹ eines SS-Offiziers zu begrüßen, der für den Tod tausender Menschen verantwortlich war?«113 Literarisch zeigt sich diese Hinwendung zu Österreich in den von den Figuren erwähnten kanonisierten Texten. Von herausragender Bedeutung in der Auslöschung sind die österreichischen Dichter der Moderne wie Kafka, Musil und Broch.114

 

Diese Hinwendung zu Österreich wird von Bachmann ausdrücklicher erklärt. In einem frühen wie in einem späten Interview erläutert sie diese Form von Patriotismus, die sie aus dem gemeinsamen »Sprachklima« (Bachmann, GuI 45) herleitet: »Dichter wie Grillparzer und Hofmannsthal, Rilke und Robert Musil hätten nie Deutsche sein können. Die Österreicher haben an so vielen Kulturen partizipiert und ein anderes Weltgefühl entwickelt als die Deutschen.« (Bachmann, GuI 12) Für Bachmann spielt die durch ihre Herkunft im Dreiländereck Österreich, Slowenien und Italien erfahrene Grenzproblematik, deren Spuren sich durch ihr gesamtes Werk ziehen, eine zentrale Rolle. In Bachmanns Manuskript Biographisches aus dem Jahre 1952, heißt es: »Im Grunde aber beherrscht mich noch immer die mythenreiche Vorstellungswelt meiner Heimat, die ein Stück wenig realisiertes Österreich ist, eine Welt, in der viele Sprachen gesprochen werden und viele Grenzen verlaufen.« (Bachmann 4, 302) Ihre bevorzugten Autoren sind österreichischer Provenienz, die den Konflikt verschiedener Kulturen, Traditionen und Sprachen in sich einschließen. Dies sei auch der wichtige Unterschied zur deutschen Literatur, die homogener als die österreichische ist. Bachmann ist eine Verfechterin des Modells ›Haus Österreich‹, »mit dieser langen und großen Geschichte, mit ihrer Literatur, die für mich immer eine größere Rolle gespielt hat als beispielsweise die deutsche […]. Denn selbst zu deutschen Autoren, vor denen ich Respekt habe, finde ich keine Beziehung. Natürlich aber zu Musil und Kafka, zu Weininger, Freud, Wittgenstein und vielen anderen.« (Bachmann, GuI 79f.)

Bachmann und Bernhard beziehen sich ausdrücklich auf die ruhmvolle Vergangenheit des Habsburger Reiches, in deren Mythos sie sich eingebunden fühlen. Deutsche Autoren haben durch die unterschiedliche Geschichte einen geringeren Einfluß auf beide Autoren. Die Wirklichkeitsflucht wird zugunsten einer konkreten Auseinandersetzung mit den »sozialhistorischen Zusammenhängen« (Bachmann, GuI 133) überwunden, immer mit der Prämisse, daß Dichten nicht außerhalb der geschichtlichen Situation stattfinde (vgl. Bachmann 4, 196). Der Habsburgische Mythos ist beiden Autoren gegenwärtig, die konkrete literarische Auseinandersetzung mit der Geschichte wendet sich jedoch gleichermaßen der Nachkriegsgeschichte und dem Opfermythos zu.

Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard zeigen wesentliche Merkmale des ›Österreichischen‹ in seiner komplexen Heterogenität. Die folgenden Untersuchungen werden diesen Umgang mit ihrer ›Heimat‹ deutlicher hervortreten lassen.