Operativer Vorgang: Seetrift

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Operativer Vorgang: Seetrift
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Jo Hilmsen

Operativer Vorgang: Seetrift

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Impressum neobooks

Kapitel 1

Das Telefon spielte seine Melodie. Ich saß gerade im Dunkeln und hörte das Mozart- Requiem. Eine Aufnahme von 1982 mit dem Rundfunkchor Leipzig und der Staatskapelle Dresden. Peter Schreier dirigierte und Theo Adam sang den Bass. Das Ganze auf Vinyl. Auf dem Cover war Casper David Friedrichs Mondnacht über der Ruine abgebildet.

Ich ließ es dreimal klingeln, bevor ich den Hörer abnahm. Es war Hannah, meine Freundin.

„Hallo Schatz“, sagte sie, und ich meinte für einen kurzen Moment irgendwo einen Hund bellen zu hören, „ich habe eine Überraschung für dich.“

Manche Überraschungen waren gut, andere weniger. Ich wackelte mit dem Kopf, aber das konnte Hannah nicht sehen.

„Ich habe uns für vier Tage ein Hotelzimmer gebucht. An der Ostsee. In Zinnowitz. Wellness und so. Sauna und ein Thermalbad mit 32 Grad gibt es auch. Kannst du dir ein paar Tage frei nehmen?“

Das konnte ich. Unsere kleine Werbefirma lief gerade nicht besonders gut, und Konrad, mein Partner, schluckte seit Wochen Antidepressiva. Die Aufträge waren mehr als dürftig und unsere derzeitige Geschäftssituation deutet darauf hin, entweder radikal umzustrukturieren oder Konkurs anzumelden. Aber wir trugen Verantwortung für fünf Mitarbeiter und mussten uns dringend etwas einfallen lassen. Einen Moment lang überlegte ich, was Hannah tun würde, wenn ich mir nicht frei nehmen könnte. Würde sie dann mit Felix nach Zinnowitz fahren?

„Toll“, antwortete ich, „ich habe große Lust, mal wieder aus der Stadt herauszukommen.“

Ich versuchte die dramatische Szenerie der fünf Biographien, die durch unseren möglichen Konkurs in Bedrängnis gerieten, zu verdrängen, und atmete tief durch.

„Danke für deine Überraschung…“

Hannah liebte diese Art von Überraschungen. Meistens hatte sie alles perfekt vorbereitet. Ich musste nur noch zustimmen. Wie konnte ich ihr diese Liebenswürdigkeiten übel nehmen? Ich überlegte kurz, ob Felix einen Hund besaß, wusste darauf aber keine Antwort.

„Für wann hast du gebucht?“

„Für morgen. Holst du mich ab?“

Wir verabredeten uns um Elf. Ich sagte ihr noch eine kleine Zärtlichkeit und legte auf. Der Rundfunkchor Leipzig sang gerade 1982 die letzten Takte vom Confutatis.

Ich sprang hoch, fingerte nach dem Lichtschalter, knipste das Licht an und eilte zum Plattenspieler.

Der Plattenspieler war eigentlich Schrott.

Irgendetwas mit der Mechanik war nicht in Ordnung. Ich vermute, dass eines der Plastikstäbchen abgebrochen war oder eines der kleinen Plastikzahnräder nicht mehr ordnungsgemäß mit den anderen ineinander griff. Jedenfalls funktionierte die Automatik nicht mehr, die dafür verantwortlich war, den Schwenkarm mit der Nadel auf die Platte zu legen. Manuell klappte es auch nicht. Sowie der Plattenteller seine Rotation begonnen hatte, und ich die Nadel auf dem Vinyl ablegte, blieb das Scheißding stehen.

Das Einzige was dann half, war den Plattenteller abnehmen, einen Metallhebel nach innen drücken, das Gummibändchen um Teller und Antriebsrädchen zu postieren, alles wieder draufsetzen und einschalten. Eine unglaubliche Fummelei.

Um mir diese Fummelei zu ersparen, blieb mir nichts anderes übrig, als kurz bevor sich der Arm hob, die Stromzufuhr zu unterbrechen, die LP umzudrehen, den Arm in die Ausgangsposition am Rillenrand zu schwenken und einzuschalten. Es klappte. Beim Einschalten setzte sich die Scheibe in Bewegung und die ersten Töne vom Offertorium erklangen. Ich atmete auf.

Ab dieser Stelle hatte wahrscheinlich Franz-Xaver Süßmayer das Werk seines Meisters vollendet, weil Mozart gestorben war. Und Süßmayer hatte ganze Arbeit geleistet, wie ich fand. Das Offertorium war ebenso ergreifend wie das Confutatis... und das Agnus Dei war noch besser.

Es war November.

Jedes Jahr im November hörte ich wenigstens einmal das Requiem von Mozart. Meistens natürlich bei einer der hiesigen Konzertaufführungen. Letztes Jahr war ich mit Hannah in der Marienkirche am Alexanderplatz gewesen. Eine großartige Aufführung.

Hannah hatte sich die Augen ausgeweint und dabei alle meine Taschentücher verbraucht. Der Dirigent, der Kantor des Berliner Doms, hatte es tatsächlich gewagt, nach dem Requiem noch eine Motette – das Ave verum von Mozart – singen zu lassen. Das Requiem ist zu kurz für einen Konzertabend, deshalb ließen die meisten Dirigenten etwas davor spielen. Aber danach?

Ich war äußerst skeptisch, aber dieses Ave verum setzte dem Ganzen sozusagen noch das Sahnehäubchen auf. Es war unglaublich. Wirklich! Ein unvergesslicher Abend.

Dieses Jahr hatten wir es irgendwie versäumt, uns rechtzeitig Karten zu besorgen. So war ich gezwungen, den alten Plattenspieler anzuwerfen. Aber Peter Schreier und der Rundfunkchor Leipzig entschädigte. Absolut. Und das gute alte Vinyl klang irgendwie auch besser als eine CD. Weicher, wie ich fand. In Gedanken beschloss ich, mir alsbald einen neuen Plattenspieler zu kaufen. Mittlerweile waren Plattenspieler ja wieder voll im Trend, es gab etliche neue Alben auf Vinyl, und die neuen Plattenspieler waren unbestritten tolle Geräte.

Nachdem der letzte Ton aus dem Raum geschwebt war, stand ich auf und ging in die Küche.

Dort wärmte ich mir meinen gestrigen Gemüseeintopf auf und öffnete eine Flasche Weißwein. Ich setzte mich an den Küchentisch, aß zwei Teller Eintopf und trank dazu zwei Gläser Wein. Nachdem ich das Geschirr in den Geschirrspüler eingeräumt hatte, schlenderte ich ins Schlafzimmer und machte mich ans Packen. Für vier Tage nahm ich in der Regel mehr mit, als ich wirklich brauchte. Ich packte drei Hosen, zwei große Badehandtücher, vier T-Shirts und zwei dicke Wollpullover in den Koffer, warf Badelatschen, eine Badehose, ein halbes Dutzend Socken, Unterwäsche und eine warme Daunenweste dazu. Obendrauf legte ich Waschzeug mit Duschbad, Haarwäsche, Körperlotion, mein Lieblingsparfüm Chrome von Azzaro und ein zweites Paar Schuhe. Im Bad rasierte ich mich noch einmal und steckte den Rasierer zu den anderen Dingen für die Hygiene. Das sparte morgen früh Zeit.

Ich überlegte abermals, ob Felix einen Hund besaß. Aber diese Überlegung führte zu nichts. Wenn dem so wäre, dachte ich, hätte es Hannah bestimmt irgendwann erwähnt.

 

Ich nahm mir ein Buch aus meinem Bücherregal. Schiffbruch mit Tiger von Yann Martel, las ein bisschen, trank dazu noch ein Glas Weißwein und ging zwei Stunden später zu Bett.

Kapitel 2

Pünktlich um Elf stand ich vor Hannahs Haustür. Sie wohnte wie ich im Berliner Prenzlauer Berg. Ich wohnte in der Sredzkistraße, sie in der Metzerstraße. Bei ihr fand man so gut wie immer einen Parkplatz, bei mir so gut wie nie.

Das Wetter war absurd. Der Himmel war wolkenlos und die Sonne wärmte wie an einem Altweibersommertag. Am Abend in der Tagesschau würde man wahrscheinlich wieder einen neuen Wärmerekord für diesen Novembertag melden. Schon wieder. Der Oktober war bereits mit einem Wärmerekord in die Statistik eingegangen, ebenso der September und der Juli. Jedes Jahr neue Rekorde.

Seit ich Al Gores Eine unbequeme Wahrheit im Kino gesehen hatte, war mein Stromverbrauch um über die Hälfte gesunken. Ich schaltete nur einmal am Tag meinen Computer an, um meine E-Mails zu checken, den Fernseher so gut wie nie mehr, überall gab es jetzt Energiesparlampen, die Waschmaschine lief höchstens zweimal im Monat und im Wohnzimmer brannten abends Kerzen. Privat und in der Firma hatten Konrad und ich beschlossen, den Stromanbieter zu wechseln und wurden nun mit Ökostrom beliefert. Beide schimpften wir wie die Rohrspatzen, wenn jemand vergaß, das Licht im Klo auszuschalten. Aber irgendwie war das alles nicht befriedigend. Aufs Autofahren hätte ich am liebsten auch verzichtet, aber nun war ich doch ein bisschen froh, mich anders entschieden zu haben.

Mein schwarzer Saab 9-3 war keine zwei Jahre alt, bequem und ausgestattet mit Sitzheizung und einer Klimaanlage. Der Benzinverbrauch hielt sich im Rahmen und der Wagen besaß den EU II-Kat. Mit Hannahs kleinem Daihatsu wäre die Fahrt bis Zinnowitz bestimmt eine Quälerei geworden.

Aber wer brauchte bei diesen Temperaturen schon eine Sitzheizung?

Zwischen der Sredzki und der Metzerstraße standen bei sämtlichen Cafe´s und Kneipen Tische und Stühle vor den Türen. Die meisten davon waren vollbesetzt und die Leute hielten ihre Gesichter in die Sonne.

Wenn der Golfstrom zum Erliegen kam, würden wir uns alle warm anziehen müssen.

Ich drückte den Klingelknopf und Hannahs Stimme erschall aus der Sprechanlage. Selbst durch die Sprechanlage klang ihre Stimme wie die von Hansi Jochmann, der Synchronstimme von Jodie Foster.

„In zwei Minuten bin ich unten, okay?“

Okay. Da konnte ich mir das Treppen steigen sparen. Hannah wohnte im Dachgeschoss, und die Hausbesitzer hatten auf einen Fahrstuhl bei der Sanierung verzichtet. Die Miete war dennoch bei ihrem Einzug exorbitant gestiegen. Bis zum Kollwitzplatz brauchte man nur zehn Minuten zu Fuß. Und diese Gegend Berlins wurde langsam aber sicher mietmäßig zu Klein-Paris.

Ich ließ das Schiebedach bis zur Hälfte zurück fahren. Ein bisschen Sonne auf dem Kopf konnte nicht schaden.

Ich überlegte kurz und schob mich dann auf den Beifahrersitz. Hannah fuhr den Saab gerne, und ich hatte heute keine Lust zum Fahren.

Als Hannah kam, steuerte sie zielstrebig zur Fahrerseite, als hätten wir es so verabredet. Sie trug einen hellbraunen Blazer und eine schwarze Hose mit einem ziemlichen Schlag.

Mit einer raschen Armbewegung beförderte sie ihre Reisetasche aus weichem Leder auf die Rückbank, lächelte und küsste mich. Irgendwie hatte ich während des Küssens das Gefühl, dass sie immer noch lächelte. Vielleicht war es auch ein inneres Grinsen.

„Ich habe große Lust auf die Ostsee“, sagte sie und fingerte gleichzeitig am Lenkradblock herum. Sie suchte das Zündschloss. Wie die meisten, die einen Saab nicht regelmäßig fuhren, suchte sie das Zündschloss, dort wo es sich bei allen anderen Autos befand. Ich tippte ihr leicht auf die Schulter und zeigte zur Konsole vor der Handbremse.

„Jedes Mal“, lachte sie. Ich streckte mich behaglich im Sitz aus und lächelte zurück.

„Jedes Mal... Übrigens, eine Bitte habe ich noch.“

Hannah machte große Augen. Vielleicht hatte sie mich nicht richtig verstanden oder war plötzlich über etwas erschrocken. Beispielsweise darüber, dass ich merkwürdige Fragen stellen könnte. Beispielsweise die Frage: Ob Felix einen Hund besaß. Ich hatte keine Fragen und große Augen machen, stand ihr wirklich gut.

„Lass uns Landstraße fahren. Die B 96, ja.“, sagte ich.

„Aber da brauchen wir bestimmt eine Stunde länger. Wenn das reicht.“

„Bitte!“

„Gut, aber nörgele dann nicht herum, wenn’s langweilig wird.“

„Wird es nicht. Mit dir nie!“ Das war wohl ein bisschen geflunkert.

Stadtauswärts hörten wir Radio Eins. Ein Bekannter von mir wurde gerade interviewt. Daniel war Redakteur beim Tagesspiegel und hatte vor ein paar Monaten ein Buch mit gesammelten Nachrufen herausgegeben. Die Nachrufe erschienen immer freitags im Tagesspiegel.

Es war ein bisschen beeindruckend, jemanden im Radio ein Interview geben zu hören, den man kannte. Ich drehte lauter und lauschte gebannt. Ich weiß nicht, ob ich auch lauter gedreht hätte, wenn ich den Interviewten nicht gekannt hätte. Daniel klang sehr professionell, wie ich fand, so als würde er den lieben langen Tag nichts anderes machen, als Radiointerviews geben. Es war ein Telefoninterview und Daniels Stimme klang, als würde ich gerade mit ihm telefonieren. Unser letztes gemeinsames Telefonat war schon eine Weile her, und ich beschloss, ihn anzurufen, sowie wir zurück waren und ihm zu dem Interview zu gratulieren.

In Oranienburg hielten wir bei McDonalds und bestellten per McDrive zwei Chickenburger, Chicken McNuggetts, dazu süß-saure Soße und Cola.

Eigentlich verachtete ich Fastfood wie den bei McDonalds und die ganze Imageaufpoliererei von wegen Bio und so, war lächerlich, wie ich fand. Aber bei solchen Fahrten überkam es mich manchmal.

Ich aß die beiden Chickenburger und fütterte Hannah mit den Nuggetts.

Es war unglaublich warm. Ein Wetter zum Flanieren. Das Außenthermometer zeigte jetzt schon satte 17 Grad Celsius, dabei war es noch nicht einmal zwölf Uhr. Die Sonne auf meinem Kopf brannte regelrecht. Eigentlich müsste ich mir eine Mütze auf meine Fast-Glatze schieben, dachte ich, sonst lief ich noch Gefahr, mir einen Sonnenbrand oder einen Sonnenstich zu holen. Genauso gut könnte ich natürlich das Dach schließen, aber dazu hatte ich auch keine Lust.

Solche Temperaturen Mitte November oder besser Ende Mitte November waren beängstigend. Ich bekam große Lust mit Hannah über die Klimaerwärmung zu sprechen und einer möglichen Eiszeit, aber ich wollte ihr den Spaß am Autofahren nicht verderben.

Ich sah kurz zu ihr hinüber, stopfte ihr ein Nuggett in den Mund und stellte fest, dass sie jetzt schon ausgesprochen entspannt wirkte.

Kurz hinter Oranienburg hörten wir Music for Egon Schiele von Rachel´s. Hannah mochte Rachel´s, und ich die Bilder von Egon Schiele. Besonders seine magersüchtigen Akte. Hannah hatte die Kassette ausgewählt.

„Wollen wir Rachel´s hören?“ Das war mehr eine Feststellung, als eine Frage. Ich hatte jede Menge CDs im Auto. Aber Rachel´s war in Ordnung. Sehr ruhig.

Seit 2000 stellte ich jedes Jahr eine CD für das Musikhören im Auto zusammen. Alle hießen: Mixed. Mixed 2000, Mixed 2001, Mixed 2002 und so weiter. Viele der Kassetten waren mit Songs von den Rolling Stones oder Pink Floyd bespielt, sehr häufig fanden sich darauf Radiohead oder Tom Waits oder Nirvana, aber auch Sometimes you can von U2 oder The Long Road von Eddie Vedder und Nusrat Fateh Ali Khan. Bisweilen versteckte sich sogar ein klassisches Stück zwischen den Titeln. So zum Beispiel Die Mondscheinsonate von Beethoven oder Bachs Suite D-Moll – Air.

Hannah mochte meine Mixed-CDs nicht besonders. Sie meinte, meine Zusammenstellungen machten depressiv. Ich erwiderte, dass diese Ansicht typisch für eine Frau wäre, die als Psychologin in der Psychiatrie arbeitete, aber meinen Einwand ließ Hannah nicht gelten. Ich fand, dass Wild Horses von den Stones überhaupt nicht depressiv machte. Im Gegenteil. Meine Mixed 2006 war sogar ausgesprochen fröhlich. Grounding von Langoth war genauso aufmunternd wie Kids with guns von The Gorillas oder Mandy von The Spinto Band. Trotzdem mochte Hannah sie nicht besonders. Also hörten wir Rachel´s: Music for Egon Schiele und weil noch genügend Platz auf der selbstgebrannten CD war: Rachel´s Handwriting Ip. Ich fand ehrlich gesagt Rachel´s auch nicht gerade einen Schenkelklopfer.

Zugegeben, die Zusammenstellung meiner Musik war manchmal in der Tat ein bisschen merkwürdig. Aber manche Jahre waren auch merkwürdig gewesen.

Eine typische Hannah- Eigenschaft war, die Musik während der Autofahrt zu vergessen.

Rachel´s Musik for Egon Schiele und Rachel´s Handwriting Ip würde bis Zinnowitz endlos spielen. Soviel war sicher. Irgendwann hörte sie wahrscheinlich nicht mehr hin und die CD begann von vorn. Es machte keinen Unterschied, ob wir drei oder dreißig Stunden für die Fahrt benötigten. Wir würden bis der Tank leer gefahren war, Rachel´s hören.

Ich überließ mich meinen Gedanken und zählte die Kreuze am Fahrbahnrand.

Auf den meisten standen nur die Vornamen der Verunglückten. Stephan, Mandy, Klausi, Claudia, Thomas. Darunter verschiedene Daten. Einmal war an einer verbeulten Leitplanke vor einer von Miniermotten befallenen Kastanie nur ein Datum gesprüht: 28.08.06

Schwer zu sagen, ob da jemand tödlich verunglückt war, oder nur die Leitplanke zertrümmert hatte.

„Mittlerweile ist fast die ganze B 96 mit Leitplanken flankiert“, sagte ich zu Hannah. „Ich finde, die Straße wirkt dadurch enger. Und außerdem wird durch die Leitplanken irgendwie der Charakter einer Allee zerstört. Findest du nicht auch?“

Hannah war auf den Verkehr konzentriert. Seit zehn Minuten schlichen wir hinter einem Laster her, der für ALDI fuhr. Das Überholen war schwierig.

„Kannst du mir eine Zigarette anzünden, Schatz?“

Ich zündete Hannah eine Zigarette an und reichte sie ihr.

„Hm, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“

„Wenn jetzt jemand mit seinem Fahrzeug liegen bliebe, gäbe es sofort einen Stau. Man kommt ja nicht mehr von der Straße runter. Ich finde diese Leitplanken überflüssig.“

„Ich auch.“

Hannah schaltete in den vierten Gang runter und gab Gas. Der ALDI-Laster lag hinter uns, die Leitplanken-allee vor uns. Beim Überholen hatte ich ein Kreuz am Straßenrand nicht sehen können, ich sah nur einen Blumenkranz an einem Baum im Rückspiegel und zählte es trotzdem mit.

Je weiter wir nach Norden kamen, umso zahlreicher wurden die Windräder. Manchmal waren es sogar mehr Windräder als Bäume oder Kühe.

Hannah und ich hatten uns einmal unter einem solchen Windrad geliebt. Das war in der Nähe von Feldberg. Wir besuchten das Fallada-Haus in Carwitz und den Fallada- Friedhof und gingen dann im Hullerbusch spazieren. Hans Fallada hatte diesen Weg in mehreren Geschichten beschrieben.

Es war betörend. Über uns rauschte das Windrad und gab einen merkwürdigen Ton von sich. Eine Art Pfeifen, als würde gleich eine Lunge zerplatzen. Hannah fand es toll.

Danach schrieben wir unsere Namen wie Teenager mit einem schwarzen Edding auf eines der Rotorenblätter eines Windrades, was gerade zusammen montiert worden war, aber noch nicht aufgestellt.

Ein paar Monate später, als wir nach unserem Windrad sehen wollten, standen an der gleichen Stelle so viele davon, dass wir beide nicht mehr genau sagen konnten, welches Windrad unsere Namen im Wind drehte.

Überhaupt hatten wir uns am Anfang unserer Beziehung oft im Freien geliebt. Einmal an einem der Drei heiligen Pfuhle in Wandlitz oder auf einem Hügel in der Uckermark in der Nähe von Gerswalde – ich sehe noch die schottischen Kühe mit ihren langen braunem, zottigem Fell, ein paar Meter vor uns.

Wir hatten uns am Wutzsee geliebt bei Lindow oder am Oder-Havel Kanal. Einmal sogar auf einem Waldweg unweit von Borgsdorf – zum Glück kamen keine Spaziergänger.

Hannah öffnete einen Spalt breit das Fenster und warf ihre Kippe auf die Straße. Mein Wagen besaß keinen Aschenbecher. Ein Nichtraucherauto. Eigentlich eine Umweltsauerei, wozu Hannah da gezwungen war, dachte ich. Ich sollte einen Aschenbecher im Auto deponieren. Für Hannah.

 

Geschlechtsverkehr hatten wir immer noch regelmäßig. Zwar nicht mehr so oft im Freien, aber regelmäßig.

Hannahs und meine Interessen waren in vielen Punkten ähnlich. Hannah mochte Theater, ich mochte Theater. Am liebsten das BAT – die Probebühne der Schauspielschule Ernst Busch. Die Aufführungen waren gewissermaßen jungfräulich, die Schauspieler und Regisseure standen noch ganz am Anfang und waren bemüht alles zu geben, was sie geben konnten. Hannah mochte Kino, ich ebenfalls. Allerdings brauchte es immer eine Weile, bis wir uns auf einen Film einigen konnten. Zweimal im Jahr gingen wir zusammen in die Oper und ab und an in ein Konzert. Im November ins Mozart- Requiem, meistens. Ich las gern, sie ebenfalls. Bei mir war die literarische Palette ziemlich willkürlich. Ich liebte Nabokov, las aber auch Tom Robbins, John Irving, Dan Brown, Carl Hiassen oder Helmut Krausser. Hannah bevorzugte Krimis. Ganz oben auf ihrer Krimiliste standen Krimis von Henning Mankell.

Kinder hatten wir beide keine. Ich hatte irgendwann beschlossen, dass die Menschheit besser aussterben sollte und einen Nicht-Fortpflanzungs-Eid geschworen. Und Hannah ging derart in ihrer Arbeit auf, dass sie möglicherweise gar keine Zeit fand, sich mit dieser Frage zu beschäftigen.

Im Grunde waren wir das perfekte Paar. Allerdings unterschied uns etwas grundsätzlich. Hannah ging auf jeden Menschen zu, und war dieser auch der größte Depp. Ich war wohl eher so etwas wie ein Misanthrop – ich war viel für mich, brauchte lange, bis ich Vertrauen fasste und mied Gespräche, wenn sie nicht unbedingt sein mussten.

Als ich sechzehn Kreuze gezählt hatte, schlief ich ein.

Ich erwachte, als der Wagen auf den Parkplatz des Baltic rollte. Inzwischen war es dunkel geworden. Ich fühlte mich ein bisschen benommen und Hannah war vom Landstraße fahren erschöpft.