Gottes Weg mit den Menschen

Text
From the series: Forschung zur Bibel #134
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Gottes Weg mit den Menschen
Font:Smaller АаLarger Aa

Forschung zur Bibel Band 134

Begründet von

Rudolf Schnackenburg

und Josef Schreiner

Herausgegeben von

Georg Fischer

und Thomas Söding


Jin Man Chung

Gottes Weg mit den Menschen

Zur Verbindung von Christologie und Ekklesiologie im Matthäusevangelium

Echter Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2017 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

ISBN 978-3-429-04317-9 (Print)

978-3-429-04893-8 (pdf)

978-3-429-06313-9 (ePub)

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im SS 2016 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen.

Dankbar erinnere ich mich heute an viele, die mich auf dem Weg der Promotion in vielfältiger Art und Weise bekräftigt und unterstützt haben. Ohne ihre Hilfe und Unterstützung hätte dieses wertvolle Gut kaum gehoben werden können. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle Dank sagen.

An erster Stelle danke ich von Herzen meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Thomas Söding, für die sehr freundliche Betreuung. Mit Geduld und großem Interesse hat er über Jahre die Entstehung des Buches begleitet. Seine konstruktiv-kritischen Anmerkungen und Hinweise, seine fachkundigen Ratschläge sowie nicht zuletzt sein großes Vertrauen haben die Entstehung der Arbeit maßgeblich gefördert. Mein Dank gilt ihm auch für die Erstellung des ersten Gutachtens und für die Aufnahme in die von ihm und Prof. Dr. Georg Fischer SJ herausgegebene Reihe „Forschung zur Bibel“. Ebenfalls herzlich danken möchte ich Herrn Prof. Dr. Christian Frevel, der die Mühe des zweiten Gutachtens auf sich genommen hat.

Die Veröffentlichung der Studie ist der Anlass, all denen meinen besonderen Dank zu sagen, die zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben: den Mitgliedern des Bochumer Oberseminars für die intensiven fachlichen Diskussionen mit zahlreichen Fragen und Hinweisen und die freundschaftliche Kollegialität. Danken möchte ich Dr. Esther Brünenberg-Bußwolder, Dr. Friedhelm Mann, Dr. Paul Deselaers, Schwester Dr. Regina Pacis Meyer und em. Propst Heinrich Remfert. Sie haben das Manuskript in freundschaftlicher Verbundenheit sorgfältig Korrektur gelesen.

Mein ganz besonderer Dank gilt den Katharinenschwestern in Münster. Sie haben mir in der Promotionszeit in Deutschland die nötigen Räume zum Wohnen und zum Arbeiten gegeben. Ihre mütterliche Sorge und ihr stetiges Gebet haben mir all die Kraft gegeben, das Ziel zu erreichen.

Herzlich danken möchte ich meinem Heimatbischof Dr. Matthias Iong-Hoon Ri. Er hat mich zum Promotionsstudium beauftragt und über die Jahre hinweg mit motivierendem Zuspruch und großzügiger Unterstützung begleitet. Mein besonderer Dank gebührt ihm auch für die Gewährung eines erheblichen Druckkostenzuschusses.

Tief verbunden bin ich den Mitbrüdern aus meinem Heimatbistum für die Freundschaft, die sie mir während der Zeit der Promotion gegeben haben, und meinen Eltern für ihr großes Vertrauen, ihren stetigen Rückhalt und ihre unendliche Liebe.

Der höchste Dank aber gebührt Gott, dem „Immanuel“ (Mt 1,23), dessen trostreicher Zuspruch sich bei den Menschen erfüllt: „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20).


Suwon in Südkorea, im August 2016Jin Man Chung

Inhaltsverzeichnis

1. Fragestellung

1.1 Die Problematik

1.1.1 Die leitende Frage

1.1.2 Die Problematik des Themas

1.1.3 Das Beispiel des Matthäusevangeliums

1.2 Der Stand der Forschung

1.2.1 Zur Methodendiskussion

1.2.2 Zu den Themen

1.3 Die Anlage der Untersuchung

1.3.1 Zur Methode

1.3.2 Zur Anlage der Untersuchung

2. Jesus auf dem Weg der Gerechtigkeit

2.1 Der Name Jesus (Mt 1,21)

2.1.1 Die Verleihung des Namens

2.1.2 Das Volk Jesu

2.1.3 Die Rettung aus der Sünde

2.1.4 Der Name als Programm

2.2 Der Immanuel

2.2.1 Die Verheißung der Schrift (Mt 1,23)

2.2.2 Die Verheißung des Irdischen (Mt 18,20)

2.2.3 Die Verheißung des Auferstandenen (Mt 28,20)

2.2.4 Die Zusage als Verheißung

2.3 Der Weg der Gerechtigkeit

2.3.1 Das Programmwort Jesu vor der Taufe (Mt 3,15)

2.3.2 Die Sendung Jesu

2.3.2.1 Der Prophet der Himmelsherrschaft (Mt 4,17)

2.3.2.2 Der Knecht Gottes (Mt 12,15-21; Jes 42,1-4)

2.3.2.3 Der König (Mt 21,1-11; Sach 9,9)

2.3.3 Die Lehre der Gerechtigkeit

2.3.4 Die Sendung als Dienst

2.4 Der Sohn mit dem Vater und den Menschen (Mt 11,25-30)

2.4.1 Der Sohn als Heilsbringer

2.4.2 Die Offenbarung Gottes (Mt 11,25f.)

2.4.3 Die Selbstvorstellung Jesu (Mt 11,27)

2.4.4 Die Einladung Jesu zur Nachfolge (Mt 11,28-30)

2.4.5 Die Theozentrik als Proexistenz

2.5 Die Gegenwart Jesu Christi als Zuwendung Gottes

3. Die Jünger auf dem Weg der Nachfolge

3.1 Die Berufung der Jünger

3.1.1 Die Berufung der ersten Jünger (Mt 4,18-22)

3.1.2 Die Berufung des Matthäus (Mt 9,9)

3.1.3 Die Bevollmächtigung der Zwölf (Mt 10,1-4)

3.1.4 Das Verhältnis zwischen den Jüngern und den Zwölf

3.1.5 Die Berufung als Beauftragung

3.2 Die Jünger in der Schule Jesu

3.2.1 Umkehr – Glaube – Nachfolge

3.2.1.1 Umkehr

3.2.1.2. Glaube und Kleinglaube

3.2.1.2.1 Das Messiasbekenntnis (Mt 16,16)

 

3.2.1.2.2 Der Kleinglaube der Jünger

3.2.1.2.3 Der willige Geist und das schwache Fleisch (Mt 26,41)

3.2.1.3 Nachfolge als Kreuzesnachfolge (Mt 16,24-28)

3.2.2 Hören – Lernen – Verstehen (Mt 13)

3.2.3 Die Jüngerschaft als Lern- und Glaubensprozess

3.3 Die Sendung der Jünger

3.3.1 Zuspruch und Anspruch: „Salz der Erde“– „Licht der Welt“ (Mt 5,13-16)

3.3.2 Die Bitte um Arbeiter im Weinberg (Mt 9,35-38)

3.3.3 Die Aussendung der Jünger in Israel (Mt 10,5-15)

3.3.4 Die Praxis der Jünger

3.3.4.1 Die Jünger als Mittler (Mt 14,13-21; 15,32-39)

3.3.4.2 Die Jünger als Bremser (Mt 15,21-28; 19,13-15; 26,6-13)

3.3.5 Die österliche Ausweitung der Sendung (Mt 28,16-20)

3.3.6 Die Sendung als Teilhabe

3.4 Die Jünger in der Gemeinschaft Jesu

3.4.1 Die Mitgliedschaft in der Familie Jesu (Mt 12,46-50)

3.4.2 Die Vergebung der Sünden (Mt 18)

3.4.3 Das Dienen in der Gemeinschaft (Mt 20,24-28; 23,11f.)

3.4.4 Die Gemeinschaft als Vermittlung

3.5 Der Dienst der Jünger in der Gegenwart Jesu Christi

4. Auswertung

4.1 Die Verbindung von Christologie und Ekklesiologie als Grundstruktur des Matthäusevangeliums

4.2 Die Verbindung von Christologie und Ekklesiologie in ihrer theologischen Dimension

Literaturverzeichnis

Schriftstellenregister (in Auswahl)

1. Fragestellung

Der Evangelist Matthäus beschreibt in seinem Evangelium den Weg Jesu, der von Galiläa nach Jerusalem und durch das Leiden zur Auferstehung führt. Dieser „Weg“ wird bei Matthäus nicht als historisch-geographisches Itinerar, sondern als Weg Gottes dargestellt. Jesus geht den Weg, den Gott ihn sendet; er lehrt aber auch den „Weg Gottes“, den zuvor schon Johannes der Täufer verkündet hat (Mt 22,161 par. Mk 12,14), um den Willen Gottes zu erfüllen. Dieser Weg steht unter Gottes Leitung; er entspricht dem Willen Gottes und verwirklicht ihn.2 Deshalb ist er den alttestamentlichen Schriften gemäß. Für Matthäus erfüllt sich die Verheißung Gottes, die durch die Propheten verkündet ist, in der Person und im Wirken Jesu – aber so, dass mit Jesus nicht das Ende der Heilsgeschichte erreicht, sondern ein neuer Anfang gesetzt ist. Durch den Weg, den Jesus geht und in seinem Verkündigungsdienst vorzeichnet, kommt nach Matthäus Gott zu den Menschen. Sein universaler Heilswille erreicht zuerst das Gottesvolk Israel und durch Israel alle Völker bis an das Ende der Welt (Mt 28,16-20).

Auf seinem Weg zeigt Jesus, wie nahe Gott immer schon ist – gerade denen, die es am wenigsten vermuten. „Vater“ und „Sohn“ sind klar unterschieden; aber Matthäus betont, dass in Jesus – nicht erst durch den Auferstandenen, sondern bereits durch den Irdischen – Gott selbst handelt. Dafür steht das Immanuel-Motiv (Mt 1,23; 18,20; 28,20). Es verankert die matthäische Christologie biblisch-theologisch. Über das Immanuel-Motiv erschließt der Evangelist Matthäus den Weg Jesu als den Weg Gottes zu den Menschen. Dieser Weg ist ein Heilsweg, weil Gottes Wille Heilswille ist. Jesus macht sich auf seinem Weg nach Matthäus nicht von der Zustimmung der Menschen abhängig, zielt aber auf sie. Dass Jesus – als Immanuel – Menschen in seine Nachfolge beruft, hat den Sinn, dass sie an seiner Sendung teilhaben und den Heilsweg Gottes mitgehen. Sie werden als Sünder berufen, sie bedürfen der Umkehr und Vergebung, sie stehen auch als Gesandte, Lehrer und Mittler unter dem Gericht Gottes. Aber sie sind beauftragt und bevollmächtigt, Menschen zu Gott zu führen, damit diese ihren Weg mit Gott gehen können. Deshalb werden sie von Jesus mit auf seinen Weg genommen, so dass sie ihn selbst gehen können – in seiner Nachfolge.

Dadurch, dass Matthäus den Weg Gottes mit den Menschen in der Geschichte Jesu als Heilsweg fokussiert, wird das Evangelium, die erzählte Geschichte Jesu, zur narrativen Christologie und Ekklesiologie. Jesus geht nach Matthäus als Immanuel den „Weg der Gerechtigkeit“ (Mt 21,32), der ihn ins Leiden führt, aber im Tod seine universale Heilsbedeutung kulminieren lässt; die Jünger sollen Jesus auf diesem Weg folgen und nach Ostern für ihren Herrn diesen Weg der Nachfolge allen Menschen aufzeigen. Durch das Wegmotiv kommt nicht nur die Dynamik des Heilswillens Gottes zum Ausdruck, sondern auch sein Prozesscharakter: dass schon hier und jetzt, unterwegs, nicht erst am Ziel, Entscheidendes geschieht und angestoßen wird, damit es sich entwickeln kann. Dadurch, dass Matthäus durch die Immanuel-Christologie den Gottesglauben mit der Heilserwartung Israels verknüpft, konkretisiert er den universalen Heilswillen Gottes in der Geschichte Jesu, die ihrerseits in die Heilsgeschichte Israels und ihre – von Matthäus betonte – genuine Universalität hineingehört. Gottes heilende Zuwendung wird also in der Verbindung zwischen Jesus und seinen Jüngern vergegenwärtigt. Er geht den Weg, auf dem sie ihm nachfolgen sollen, damit sie nach Ostern in seiner Gegenwart als Erhöhte neue Wege gehen können; sie gehen in der Nachfolge Jesu so zu den Menschen, wie er sie gesandt hat, und führen deshalb alle, die sie zu Jüngern machen, in die Nachfolge ein, die als Heilsweg Gottes definitiv in Galiläa begonnen hat – im Raum der Verheißung Israels.

1.1 Die Problematik

1.1.1 Die leitende Frage

Damit der Weg Gottes als Weg Jesu und der Weg Jesu als Weg Gottes bei Matthäus herausgestellt werden kann, muss der theologische Anspruch des Matthäusevangeliums im Kommunikationsfeld der Erinnerung an Jesus und dem Bekenntnis zu ihm methodisch erschlossen und hermeneutisch reflektiert werden. Als Leitmotiv dient die ImmanuelVerheißung, die den irdischen Jesus und den erhöhten Herrn in einen inneren Zusammenhang stellt und mit den Verheißungen Israels verbindet (Mt 1,23; 28,20): Für Matthäus ist Jesus nicht nur der Irdische, sondern auch der Erhöhte. Er ist der messianische Gottessohn, der die Verheißung des rettenden Beistandes Gottes erfüllt. Nach der Auferweckung setzt er seine Allmacht ein (Mt 28,18-20), „nicht um die Menschen zu überwältigen, sondern um ihnen beizustehen“3. Die durch die Propheten zugesprochene Heilstreue Gottes beginnt sich mit der Geburt Jesu eschatologisch zu erfüllen (Mt 1,18-25) und verwirklicht sich mit seiner Sendung, die in seinem Tod kulminiert und durch seine Auferstehung eschatologisch transformiert wird.

Weil Matthäus den Weg Jesu als den Heilsweg Gottes erschließt, stellt sich die Frage der Kommunikation: Wie kann auf dem Weg Jesu das Heil Gottes diejenigen erreichen, die gerettet werden sollen? Die Frage stellt sich nicht nur im Rückblick auf die Geschichte Jesu, sondern auch im Blick auf die Gemeinde des Matthäus und im Ausblick auf die Zeiten bis zur Vollendung. Deshalb ist nicht nur die Erinnerung an das Wirken und Leiden Jesu wesentlich, an die Art und Weise, wie er das Evangelium verkündet und geradezu verkörpert hat, es ist vielmehr auch wesentlich, wie er nach Matthäus die Distanzen in Raum und Zeit überwindet, die sich notwendigerweise in der Spannung zwischen dem Einen, den Gott gesandt hat, und den Vielen, die er retten will, auftun. Das entscheidende Mittel, das Jesus nach Matthäus wählt, ist die Sendung seiner Jünger. Vorösterlich weitet er durch sie seine Präsenz in Israel aus (Mt 10), nachösterlich für alle Zeit auf alle Völker (Mt 28,16-20). „Die Jünger erfahren den Beistand des allmächtigen Gottes in der Person Jesu Christi nicht so, dass ihre eigene[n] Allmachtsphantasien beflügelt, sondern so, dass sie auf den Weg der Nachfolge geführt werden: wenn sie das Vaterunser beten; wenn sie sich, und seien es nur zwei oder drei, im Namen Jesu versammeln (Mt 18,20); wenn sie sich um die Armen kümmern, mit denen Jesus sich identifiziert (Mt 25,31-46).“4 Die Jünger leben nach Matthäus allezeit von der Immanuel-Verheißung; sie tragen sie weiter, indem sie dem Nachfolgeruf Jesu folgen und durch ihre Sendung ihn als Heiland verkündigen und repräsentieren. In unbedingter Bindung an die Person und die Lehre Jesu erlangen die Jünger die „überfließende Gerechtigkeit“ (Mt 5,20) und realisieren die rettende Gegenwart Gottes. Im Rahmen ihrer Kräfte prägen sie „Modelle gelebten Glaubens für alle Zeiten“5, sie bilden die „Kirche“, die von Jesus auf dem Felsen Petrus gebaut ist (Mt 16,18). Für das Matthäusevangelium sind die Christologie des Immanuel und die Ekklesiologie der Nachfolge konstitutiv. Die vorliegende Arbeit ist auf die Dynamik der Verhältnisbestimmung zwischen Jesus und seinen Jüngern fokussiert, wie sie im Evangelium nach Matthäus erzählt wird, hat aber die Gegenwart der matthäischen Gemeinde im Blick, die zur Wirkungsgeschichte dessen gehört, was Matthäus in seinem „Buch“ (Mt 1,1) beschreibt, und sich deshalb kritisch und konstruktiv auf diesen Anfang beziehen muss, um ihre Sendung zu entdecken.

Zu untersuchen ist deshalb, wie Matthäus Christologie und Ekklesiologie, basaler: die Sendung Jesu und die seiner Jünger unter dem Aspekt verbindet, die Gegenwart der Kirche mit der Verheißung und dem Anspruch Jesu zu konfrontieren. Die entscheidende Verbindung ist jene, mit der Matthäus den Weg Jesu als Weg Gottes zum Heil Israels und der Völker darstellt. Es ist ein Weg; deshalb ist Nachfolge wesentlich. Es ist ein Heilsweg; deshalb ist die Teilhabe der Jünger an der Heilssendung Jesu entscheidend. Es ist der Weg Jesu selbst; deshalb ist das Wirken Jesu durch seine Jünger der Schlüssel.

Dieses Wirken Jesu durch seine Jünger ist im Matthäusevangelium nicht nur instrumentell, so als ob die Jünger nur Mittel zum Zweck wären; der Ruf in die Nachfolge ist vielmehr selbst der intensivste Ausdruck gerade jener Gottesverkündigung, mit der Jesus das Heil Gottes nahebringt. Die Jünger sind auf dieses Wort der Erwählung und Sendung angewiesen, weil sie sich nicht selbst senden und erlösen können, sondern der Bevollmächtigung und der Vergebung bedürfen. Jesus seinerseits geht über die Jünger mit ihren Fragen und Schwächen, Hoffnungen und Erfahrungen nicht hinweg, weil er in seiner Sendung gerade die Armen seligpreist (Mt 5,3-12).

Matthäus hat die Beziehung Jesu zu seinen Jüngern und der Jünger zu ihm genau gestaltet, intensiver als Markus, von dessen Evangelium er ausgeht. Auf der einen Seite hat er die Vollmachtschristologie durch das Immanuel-Motiv in einer Weise weiterentwickelt, dass die bleibende Gegenwart Jesu im Jüngerkreis theologisch gedacht werden kann. Auf der anderen Seite hat er die Beziehung der Jünger zu Jesus in größerer Differenziertheit und Farbigkeit als Markus gestaltet; im Spannungsfeld von Kleinglaube und Nachfolgebereitschaft zeichnet sich ab, wie die Jünger bleibend auf Jesus angewiesen sind, aber gerade deshalb Jesu Heilssendung weiterführen können.

1.1.2 Die Problematik des Themas

Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Christologie und Ekklesiologie ist prekär, nicht nur, weil gegenwärtig in vielen Regionen die Kirchenbindung schwindet und das Christusbekenntnis in der Öffentlichkeit verblasst. Entscheidend ist vielmehr, dass sich ein theologisches Grundproblem stellt, das nicht ohne Weiteres aufzulösen ist. Die katholische Theologie betont traditionell die Kooperation zwischen Jesus und der Kirche6 – nicht als gleichberechtigte Partner, die einander ergänzen, aber als Wirken Jesu durch die Kirche. Die Kirche ist keineswegs mit Jesus gleichzusetzen; Jesus ist aber in der Kirche wirksam gegenwärtig. Die Kirche kann nur ein Werkzeug Gottes bei der Vermittlung des göttlichen Heils für die Menschen sein; aber ihr Wesen und ihre Sendung ist es, dieses Sakrament zu sein. Mit Anspielung auf die Deuteropaulinen schreibt Walter Kasper: „Durch die Kirche und in ihr bezieht Gott in Christus das All in sein Pleroma ein.“7 Bei der Betonung der untrennbaren Verbindung zwischen Jesus und der Kirche in der katholischen Ekklesiologie bleibt aber die Frage nach dem qualitativen Unterschied zwischen Jesus, dem Erlöser, und der Kirche, der Gemeinschaft der auf Hoffnung hin Erlösten, der gerechtfertigten Sünder, notorisch unbestimmt. Ohne die Differenzierung würde aber ein ekklesialer Triumphalismus herrschen, der blasphemisch wäre.

 

Die evangelische Theologie betont demgegenüber traditionell die Differenz zwischen Christus und der Kirche8 – nicht als Gegensatz, aber in der Weise, dass die Kirche gerade das „extra nos“ des Heiles bezeuge. Eine Heilswirksamkeit der Kirche wird damit nicht ausgeschlossen. Aber der Fokus liegt angesichts des Christusbekenntnisses, das, wenngleich im Kern identisch, geschichtlich bedingt und zeitlich variabel ist, beim Wirken des Heiligen Geistes in den einzelnen Gläubigen. Bei der Betonung der Differenz zwischen Christus und der Kirche bleibt die Frage nach der qualitativen Verbindung in der evangelischen Theologie notorisch unterbestimmt. Ohne die Verbindung würde aber ein Individualismus herrschen, der die gemeinschaftsstiftende Funktion des Glaubens unterschätzt und damit ihn selbst halbiert.

Die spezifisch konfessionellen Differenzen können im Rahmen einer Matthäusexegese nicht rekonstruiert und transformiert werden. Sie zeigen aber die Zusammenhänge und Hintergründe, die in die Matthäusforschung hineinspielen und mit denen sich die Auslegung des Matthäusevangeliums theologisch befassen muss. Die Aufgabe besteht darin, das Verhältnis zwischen Christologie und Ekklesiologie differenziert zu bestimmen, so die essentielle Differenz ebenso wie den essentiellen Zusammenhang zu erhellen.

1.1.3 Das Beispiel des Matthäusevangeliums

Das Matthäusevangelium ist eine wegweisende Reflexion über die Sendung der Kirche in der Nachfolge Jesu. In der systematischen Theologie wird die matthäische Theologie in ihrem spezifischen Profil kaum je reflektiert. Daraus, dass der Evangelist Matthäus unter den Evangelisten als einziger den Begriff ἐκκλησία (Mt 16,18; 18,17)9 verwendet, lässt sich aber das besondere Interesse dieses Evangeliums an der „Kirche“ erkennen. Die ekklesiologische Konzeption des Evangeliums orientiert sich an der Jüngerschaft. Die „Jünger“ sind bei Matthäus nicht nur eine historische Größe in ihrer Beziehung zu Jesus; indem sie den vorösterlichen Nachfolgekreis Jesu bezeichnen, gehen sie vielmehr über „eine geschichtliche Kontinuität10 mit der nachösterlichen Kirche hinaus. Matthäus verbindet mittels des Missionsauftrags des Auferstandenen (Mt 28,18-20) den vorösterlichen Jüngerkreis mit dem nachösterlichen, so dass die Jünger als „Ausdruck einer inhaltlichen Programmatik11 den erweiterten Horizont für die Glaubensgeschichte der Kirche öffnen. Sie repräsentieren die Kirche, die Jesus selbst gebaut hat (vgl. Mt 16,18), „ihre Darstellung ist transparent für die Gegenwart der Gemeinde (Mt 18,1-35)“12. Die vorösterliche Jüngerschaft hat nach Matthäus eine fundamentale Bedeutung für die Kirche durch die Mission, wie der österliche Missionsbefehl abschließend bekräftigt: „Lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe“ (Mt 28,20). Die Jünger werden nach dem Matthäusevangelium vorösterlich für ihre nachösterliche Aufgabe befähigt, indem sie von Jesus lernen. Sie sind die (ersten) Adressaten der Lehre Jesu. Sie haben die fünf großen Reden, die von Matthäus zusammengestellt sind (Bergpredigt [Mt 5-7], Aussendungsrede [Mt 10], Gleichnisrede [Mt 13], Gemeinderede [Mt 18], Gerichtsrede [Mt 24f.]), als „Grundlage für die Existenz in der Nachfolge und der Nachfolgegemeinschaft“13 gehört und – jedenfalls im Ansatz – so verstanden (Mt 13,51), dass sie andere lehren können.

Die Ekklesiologie ist bei Matthäus in der Christologie begründet (vgl. Mt 16,18). Ohne Jesus gäbe es die Kirche nicht. Die Christologie ist bei Matthäus so entwickelt, dass die Schnittstelle zur Ekklesiologie deutlich wird. Besonders hervorgehoben ist im Matthäusevangelium die Immanuel-Christologie. Έμμανουήλ (Mt 1,23 [Jes 7,14]) ist ein Hapax legomenon des Neuen Testaments, im Matthäusevangelium stark betont. Seine Bedeutung liegt nicht nur in der christologischen Kennzeichnung des Irdischen, sondern erweist sich auch darin, dass es einen Bogen schlägt zu dem letzten Wort des Auferstandenen (Mt 28,20), so dass es zum Schlüsselwort für das ganze Evangelium wird.14 Das Matthäusevangelium veranschaulicht Jesus als den Immanuel, dessen Geschichte sich als Konsequenz der bleibenden Verheißungstreue und des immerwährenden Beistandes Gottes erweist. Mit der Geburt des Immanuel (Mt 1,23) erfüllt sich die Heilszusage Gottes, die ihren genuinen Ort in Israel hat, von Matthäus aber so transformiert wird, dass sie für die Zustimmung aller Völker offen ist. Gott ist in seinem Volk gegenwärtig; Jesus ist Gottes Gegenwart bei seinem Volk auf dem Weg durch die Geschichte. So ist Jesus – als Immanuel – die leibhaftige Bestätigung der Verheißungstreue Gottes. Der nachösterliche Missionsauftrag des Auferstandenen garantiert der Kirche unter allen Völkern die Treue Gottes: „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ (Mt 28,20). Das Matthäusevangelium bezeugt nicht nur eine historische Erinnerung des Evangelisten (und seiner Traditionen), sondern weist die durch den Immanuel fortbestehende Verheißungstreue Gottes auf und die darin begründete Verwurzelung der Ekklesia in Israel.

1.2 Der Stand der Forschung

Die unverkennbare Bedeutung sowohl der Immanuel-Christologie als auch der Jüngerthematik im Matthäusevangelium hat zahlreiche Einzelstudien hervorgerufen. Es gibt auch verschiedene Ansätze, beides miteinander zu verbinden, aber meist unter methodischen Voraussetzungen, die nicht mehr dem Stand der Forschung entsprechen, und nur unter speziellen Aspekten, speziell ethischen, aufgezeigt werden. Die relevanten Einzelstudien müssen unter methodischen und thematischen Gesichtspunkten sorgfältig reflektiert werden, damit der Ausgangspunkt der vorliegenden Studie genau bestimmt werden kann.

1.2.1 Zur Methodendiskussion

Die Methodenfragen schlagen auf die inhaltliche Erschließung des Zusammenhanges zwischen Christologie und Ekklesiologie durch. Je nach der Untersuchungsperspektive, die sie wählen, treten der historische Ort, die geschichtliche Wirkung oder die literarische Form des Evangeliums vor Augen.

Redaktionsgeschichte

Eine größere Aufmerksamkeit für die matthäische Theologie ist in der historisch-kritischen Exegese erst durch die Redaktionsgeschichte geweckt worden. Die redaktionsgeschichtliche Methode hat u. a. Willi Marxsen (1919-1993)15 in die Evangelienforschung einbezogen. Er erprobte die redaktionskritische Arbeitsweise programmatisch am Markusevangelium, um besonders die markinische Eschatologie unter dem Gesichtspunkt der Zeitgebundenheit dieses Evangeliums hervorzuheben. Das Arbeitsgebiet der redaktionsgeschichtlichen Exegese wurde dann auf die übrigen Evangelien sowie die Apostelgeschichte erweitert. Für die Exegese des Matthäusevangeliums war Günther Bornkamm (1905-1990)16 wegweisend. Die von ihm gewählte Methode setzten u. a. Wolfgang Trilling (1925-1993)17, Georg Strecker (1929-1994)18 und Reinhart Hummel (1930-2007)19 fort. In der redaktionsgeschichtlichen Matthäus-Forschung gibt es allerdings stark divergierende Positionen. Einerseits markieren Bornkamm und Hummel einen judenchristlichen Standort des Matthäusevangeliums. Der Evangelist Matthäus habe als Judenchrist eine große Nähe zum Judentum gehabt; er schreibe das Evangelium mit einem stark jüdischen Akzent; seine primären Adressaten seien judenchristliche Gemeinden. Andererseits interpretieren Trilling und Strecker das Matthäusevangelium als eine heidenchristliche Schrift. Für sie gehört die matthäische Gemeinde nicht mehr zum Judentum. Matthäus distanziere sich eindeutig vom Judentum (Trilling) und bearbeite judenchristliche Traditionsbestände mit hellenistischen Elementen (Strecker), um so das Heidenchristentum zu erreichen. Beide konträren Positionen sind für das Verhältnis von Christologie und Ekklesiologie ebenso voraussetzungs- wie folgenreich. Deshalb muss es – mit heutigen Methoden – neu bestimmt werden.

Die redaktionskritische Methode entwickelt die historisch-kritischen Antworten auf die Einleitungsfrage weiter, dass Matthäus weder Augenzeuge noch der älteste Evangelist ist, sondern von Traditionen abhängig, die er aufgenommen und neu verbunden hat. Zu den Voraussetzungen gehört gleichfalls die historisch-kritische Analyse der beiden literarischen Vorlagen, von denen das Matthäusevangelium hauptsächlich abhängig ist: nämlich dem Markusevangelium und der Logienquelle. Darüber hinaus aber hat Matthäus auch Sondergut in sein Evangelium aufgenommen.20

Durch die Arbeit der redaktionsgeschichtlichen Schule ergibt sich aber ein Perspektivwechsel in der Art, dass nicht mehr nur nach den ältesten Überlieferungen gefragt wird, sondern dass die Komposition und Intention des ganzen Evangeliums in den Blick kommen, so dass man auch von einer eigenständigen matthäischen Theologie im Unterschied zu einer markinischen und lukanischen sprechen kann. Die Redaktionsanalyse tritt gegenüber der vorwiegend formgeschichtlichen Schule in den Vordergrund. Diese untersucht die sprachliche Gestalt des vorliterarischen Textmaterials im Prozess der Überlieferung, um nach seinem „Sitz im Leben“ zu fragen. Vor dem Hintergrund der Formgeschichte hat die redaktionskritische Methode den „Anspruch, in einem abschließenden, synthetischen Arbeitsschritt die theologische Aussage des Redaktors umfassend zu erheben“, dabei richtet sich der Fokus besonders auf „die Erklärung der Veränderungen, die der Redaktor am Text und am Kontext seiner Vorlagen vorgenommen hat“21 und die damit als Schlüssel zur matthäischen Intention angesehen werden können. Die Unterscheidung zwischen Tradition und Redaktion, die die theologische Aussage des (endgültigen) Textes profiliert, ist in dieser redaktionsgeschichtlichen Methode entscheidend.

Die Redaktionsgeschichte bleibt insofern exegetisch grundlegend, als das Interesse an der typisch matthäischen Konzeption die Besonderheiten des Evangeliums eruieren lässt und im Zuge dessen auch die Genese des matthäischen Textes einen Zugang zur Auslegung eröffnet. Für das Thema bleibt aber die nachösterliche Perspektive des Matthäusevangeliums, die von der Redaktionsgeschichte gefüllt worden ist, wesentlich, weil der Zusammenhang zwischen Christologie und Ekklesiologie genau an dieser Stelle Probleme aufwirft und nach einer Lösung verlangt. Weil nach dem Weg Gottes mit den Menschen in der Nachfolge Jesu gefragt wird, hat die vorliegende Studie ein theologisches Verhältnis zur Diachronie, die methodisch im Interesse der Redaktionskritik steht. Der Weg Jesu und der Weg seiner Jünger, der im Matthäusevangelium dargestellt wird, hat sich in seinem Verlauf und seinen Stationen aus der Jesusüberlieferung entwickelt, die genau an der Verbindung zwischen Christologie und Ekklesiologie interessiert war, insofern sie die Erinnerung an Jesus schärfen und die Orientierung der Kirche ermöglichen wollen.

Allerdings hat die Redaktionsgeschichte die Diachronie nicht mit der Synchronie koordiniert, die aber, wie die Methodendiskussion gezeigt hat, einen Primat haben muss22, wenn die Erzählung und die Theologie des Matthäusevangeliums in den Blick kommen sollen. Dass mittels dieses Arbeitsgangs die literarische und theologische Eigenleistung des Redaktors ins Spiel kommt, ist unverkennbar. Aus diesem Grund werden in dieser Arbeit klassische Instrumente der Diachronie verwendet, aber nicht in einer hermeneutisch dominanten Position, sondern in reflektierter Zuordnung zu synchronischen Untersuchungen.