Elisabeth wachte fast die ganze Nacht an der Seite ihrer Schwester und hatte am nächsten Morgen die Genugtuung, sowohl dem Hausmädchen, durch das Mr. Bingley sich schon überaus frühzeitig nach Janes Befinden erkundigte, als auch den später nachfragenden Zofen seiner Schwestern eine günstige Antwort erteilen zu können. Trotz dieser Besserung sprach sie jedoch den Wunsch aus, ihre Mutter herbitten zu dürfen, damit sie mit ihrer Erfahrung den Zustand der Kranken prüfen könne. Ein Schreiben dieses Inhalts wurde sogleich nach Longbourn geschickt, und Mrs. Bennet zögerte nicht, der Aufforderung nachzukommen. Kurz nach dem Frühstück war sie schon mit ihren beiden jüngsten Töchtern zur Stelle.
Es hätte Mrs. Bennet wirklich aufrichtig bekümmert, Jane ernstlich krank zu finden; aber nachdem sie festgestellt hatte, dass zu irgendwelcher Unruhe gar kein Anlass vorlag, war ihr einziger Wunsch, eine endgültige Gesundung möglichst hinauszuschieben, da ja mit der Krankheit auch der Aufenthalt auf Netherfield ein Ende finden würde. Sie schlug daher ihrer Tochter den Wunsch, nach Hause gebracht zu werden, rundweg ab; und auch der Arzt, der bald nach ihr eingetroffen war, riet, es nicht zu tun. Nachdem sie Jane eine kleine Weile Gesellschaft geleistet hatten, folgten Mrs. Bennet und ihre drei Töchter Carolines Einladung, ins Wohnzimmer herunterzukommen: Bingley empfing sie, indem er die Hoffnung aussprach, sie möge ihre Tochter nicht schlimmer vorgefunden haben, als den Umständen nach zu erwarten gewesen sei.
»Leider doch, Mr. Bingley«, war die Antwort. »Sie ist nicht kräftig genug, um aufzustehen. Dr. Jones meinte, an eine Heimfahrt sei noch gar nicht zu denken. Wir müssen Sie also leider bitten, Ihre Gastfreundschaft noch etwas länger in Anspruch zu nehmen.«
»Heimfahrt!« rief Bingley aus. »Natürlich kann davon keine Rede sein. Meine Schwester hätte sich dem sowieso aufs Bestimmteste widersetzt!«
»Sie können sich darauf verlassen, gnädige Frau«, sagte Caroline so kalt, wie die Höflichkeit es ihr gerade noch erlaubte, »Ihre Tochter wird mit aller erdenklichen Liebe gepflegt werden, solange sie bei uns auf Netherfield bleibt.«
Mrs. Bennet war überschwenglich in ihren Dankesäußerungen.
»Ich wüsste gar nicht«, schloss sie, »was ich ohne Ihre Freundlichkeit tun sollte. Jane fühlt sich sehr elend und leidet schrecklich darunter, wenn sie es auch mit der größten Geduld von der Welt zu ertragen versteht. So ist sie immer gewesen, denn sie hat einen der liebenswertesten Charaktere, den ich mir vorstellen kann. Wie oft sage ich zu meinen anderen Töchtern: nehmt euch ein Beispiel an ihr! Aber Ihre Zimmer sind ganz entzückend, Mr. Bingley, und diese Aussicht auf den Garten ist wirklich reizend. Ich kenne keinen Landsitz, der sich mit Netherfield messen könnte. Sie werden uns doch nicht so bald wieder verlassen wollen, hoffe ich; ich hörte, Sie haben nur für so kurze Zeit gemietet.«
»Ich tue nun einmal alles so plötzlich«, erwiderte Bingley. »Sollte es mir einfallen, Netherfield verlassen zu wollen, dann würde ich wahrscheinlich innerhalb von fünf Minuten schon fort sein. Im Augenblick fühle ich mich jedoch sehr seßhaft hier.«
»Gerade so habe ich Sie eingeschätzt«, sagte Elisabeth.
»Sie fangen schon an, mich zu durchschauen?« fragte er sie lächelnd.
»Oh ja – ich glaube, Sie vollkommen zu kennen.«
»Ich würde das ja gern als ein Kompliment auffassen. Aber es ist doch ziemlich erbärmlich, sich so leicht durchschauen zu lassen.«
»Wie man’s nimmt; es ist, finde ich, gar nicht gesagt, dass ein schwieriger Charakter besser oder schlechter sein muss als der Ihre.«
»Lizzy!« rief Mrs. Bennet ermahnend, »vergiss nicht, wo du dich befindest, und lass dich hier nicht so hemmungslos gehen, wie man es dir zu Hause bedauerlicherweise erlaubt.«
»Ich wusste gar nicht«, fiel Bingley sogleich ein, »dass Sie Charaktere zu lesen verstehen. Es muss eine recht amüsante Beschäftigung sein.«
»Ja, und am amüsantesten sind die schwierigen Fälle. Den einen Vorteil haben sie.«
»Auf dem Lande«, mischte sich jetzt Darcy in die Unterhaltung, »werden Sie wohl schwerlich sehr viel Gelegenheit erhalten, Ihre Studien zu treiben. Die Gesellschaft hier ist doch recht gleichförmig und eng begrenzt.«
»Aber alle Menschen ändern sich so sehr in sich selbst, dass man ständig Neues an ihnen entdecken kann.«
»Allerdings!« rief Mrs. Bennet, die sich durch die Art, wie er über die ländliche Gesellschaft gesprochen hatte, persönlich gekränkt fühlte. »Allerdings! Sie können mir glauben, das kann man hier auf dem Lande genau so erleben wie in der Stadt.«
Niemand war auf einen solchen Ausbruch gefasst gewesen, und Darcy wandte sich schweigend ab. Mrs. Bennet nutzte den vermeintlichen Sieg über ihn zu einem weiteren Triumph aus.
»Ich weiß überhaupt nicht, worin der vielgerühmte Vorzug Londons bestehen soll; etwa in den paar Geschäften und Vergnügungsstätten? Das Leben auf dem Lande ist doch unvergleichlich viel angenehmer als das in der Stadt; finden Sie nicht auch, Mr. Bingley?«
»Wenn ich mich auf dem Lande befinde«, entgegnete er, »möchte ich es nie wieder verlassen; doch wenn ich in der Stadt bin, geht es mir auch nicht viel anders. Beides hat seine Vorteile, und ich fühle mich hier wie dort zu Hause.«
»Sie haben eben die richtige Einstellung. Aber der Herr dort«, und sie blickte zu Darcy hinüber, »schien das Leben auf dem Lande für gar nichts zu erachten.«
»Du irrst dich, Mutter«, sagte Elisabeth, die anfing, sich für ihre Mutter zu schämen. »Du hast Mr. Darcy ganz falsch verstanden. Er wollte nur sagen, dass man auf dem Lande nicht so viele und so verschiedene Menschen antrifft wie in der Stadt; und darin musst du ihm doch recht geben.«
»Gewiss, Liebling, das hat auch niemand behauptet. Aber was die Anzahl betrifft – ich glaube nicht, dass es irgendwo sonst einen so großen geselligen Kreis gibt wie gerade hier bei uns. Wir zum Beispiel verkehren in mindestens zwei Dutzend Familien!«
Nur aus Rücksicht auf Elisabeth gelang es Bingley, seinen Ernst hierbei zu wahren. Seine Schwester war weniger feinfühlend und richtete ihren Blick mit einem vielsagenden Lächeln auf Darcy. In der Hoffnung, ihre Mutter auf andere Gedanken zu bringen, fragte Elisabeth, ob Charlotte Lucas seit ihrer Abwesenheit einmal dagewesen wäre.
»Ja, sie besuchte uns gestern mit ihrem Vater. Ein ungewöhnlich netter Mensch, dieser Sir William! Finden Sie das nicht auch, Mr. Bingley? So ganz der Mann von Welt: vornehm und ungezwungen; immer weiß er jedem etwas Nettes zu sagen. Das verstehe ich unter Wohlerzogenheit; und die Leute, die sich so wichtig vorkommen, dass sie nicht einmal ihren Mund aufmachen können, die verkennen völlig, dass sie auf falschem Wege sind.«
»Blieb Charlotte zum Essen?«
»Nein, sie wollte durchaus nach Hause. Ich nehme an, man brauchte sie in der Küche. Bei mir, Mr. Bingley, müssen das die Dienstboten tun. Meine Töchter sind anders erzogen worden. Aber jeder nach seinem Geschmack, und die Lucas-Töchter sind wirklich sehr liebe Mädchen. Zu schade, dass sie nicht hübsch sind! Nicht, dass ich Charlotte nichtssagend finde – aber sie ist ja auch unsere liebste Freundin!«
»Sie schien mir eine sehr nette junge Dame zu sein«, sagte Bingley.
»Oh ja, gewiss; aber Sie müssen zugeben, sie sieht unbedeutend aus. Lady Lucas sagt es selbst oft genug und beneidet mich um Janes gutes Äußere. Ich möchte nicht in den Fehler verfallen, meine eigenen Kinder herausstreichen zu wollen, aber ein so hübsches Mädchen wie Jane findet man nicht häufig. Ich wiederhole nur, was alle sagen; meinem eigenen Urteil würde ich natürlich nicht vertrauen. Als sie erst fünfzehn Jahre alt war, verliebte sich ein Bekannter meines Bruders in London so sehr in sie, dass meine Schwägerin täglich einen Antrag erwartete. Doch bis wir abreisten, wurde nichts daraus. Vielleicht fand er sie zu jung. Immerhin, er schrieb ein paar Gedichte über sie, und die waren gar nicht schlecht!«
»Und damit endete seine Liebe«, unterbrach Elisabeth ungeduldig. »Wahrscheinlich nicht die erste, über die ein Gedicht hinweggeholfen hat. Wer hat wohl zuerst die Entdeckung gemacht, dass Poesie gegen Liebe hilft?«
»Ich hatte bisher angenommen, dass Poesie die Nahrung der Liebe sei«, meinte Darcy.
»Wenn die Liebe kräftig und gesund ist, vielleicht. Was gesund ist, kann auf jedem Boden gedeihen. Ist aber die Liebe lediglich eine schwächliche, kränkelnde Art Zuneigung, dann bedarf es bloß eines schönes Sonetts, um sie enden zu lassen.«
Darcy lächelte nur; und Elisabeth fürchtete, ihre Mutter möchte sich in der Pause, die folgte, von Neuem eine Blöße geben. Sie überlegte krampfhaft, was sie noch sagen könnte, aber ihr wollte gar nichts einfallen; und bald setzte Mrs. Bennet auch wieder mit erneuten Dankesbezeugungen ein, denen sie dieses Mal auch noch eine Entschuldigung für die Mühe anfügte, die außerdem noch Lizzy mache. Bingley antwortete ihr freundlich und höflich wie immer und zwang seine Schwester, ebenfalls höflich zu sein. Das fiel Caroline sehr schwer, und sie gab sich auch keine große Mühe, ihre Geringschätzung zu verbergen. Aber Mrs. Bennet schien über ihren Besuch hochbefriedigt und ließ bald darauf den Wagen anspannen. Auf dieses Zeichen schienen die beiden jüngeren Mädchen gewartet zu haben; sie hatten schon während des ganzen Besuches etwas miteinander zu flüstern gehabt, und das Ergebnis war, dass die Jüngste Mr. Bingley an den Ball erinnern sollte, den er auf Netherfield geben wollte.
Lydia war ein kräftiges, gut gewachsenes Mädchen von fünfzehn Jahren, mit gesunden Farben in ihrem frohgelaunten Gesicht. Als Lieblingstochter ihrer Mutter durfte sie schon früh auf Gesellschaften erscheinen; das Selbstvertrauen, das sie sich dadurch erworben hatte, entwickelte sich allmählich zu einem Selbstbewusstsein, nicht zum wenigsten durch den Umgang mit den Offizieren, von denen bestimmt immer einige, durch die Aussicht auf gutes Essen und lustige Gesellschaft angelockt, bei ihrem Onkel zu Gast waren. Sie zierte sich daher durchaus nicht, ihren Auftrag auszuführen, sondern überfiel Mr. Bingley gleich ohne Einleitung mit der Erinnerung an sein Versprechen und fügte hinzu, es sei ganz unglaublich, wenn er sich nicht daran halte. Seine Antwort auf diesen plötzlichen Überfall klang wie Musik in den Ohren Mrs. Bennets.
»Ich bin jederzeit bereit, mein Wort einzulösen. Sobald Ihre Schwester wieder gesund ist, werde ich Sie bitten, den Tag für das Fest zu bestimmen. Sie würden doch selbst keine Freude am Tanzen haben, solange Ihre Schwester noch krank ist.«
Lydia erklärte sich einverstanden.
»Ach ja, es ist viel besser, wir warten ab, bis Jane wieder wohlauf ist; bis dahin wird wahrscheinlich Hauptmann Carter wieder nach Meryton zurückgekehrt sein. Und wenn Sie Ihren Ball gegeben haben«, fügte sie hinzu, »dann werde ich darauf bestehen, dass die Offiziere auch einen veranstalten. Ich werde Oberst Forster sagen, es sei eine Schande, wenn er sich nicht dazu bereit erkläre.«
Mrs. Bennet fuhr mit ihren beiden Töchtern ab, und Elisabeth kehrte sogleich zu Jane zurück. Somit bot sich den beiden Damen und Darcy endlich die Gelegenheit, über Sitte im Allgemeinen und über die Manieren gewisser Leute im besonderen zu reden. Darcy jedoch konnte durch nichts dazu bewogen werden, in die Kritik einzustimmen, so viele Anspielungen auf dunkle Augen Caroline auch machen mochte.
Der folgende Tag verging wie der erste. Mrs. Hurst und Caroline hatten am Morgen einige Stunden bei Jane zugebracht, die sich zwar langsam, aber merklich zu erholen begann. Nach dem Abendessen saßen alle wieder im Wohnzimmer. Darcy schrieb, Caroline saß neben ihm und unterbrach ihn von Zeit zu Zeit mit der Bitte, Grüße an seine Schwester von ihr auszurichten; Mr. Hurst und Bingley spielten eine Partie Piquet,1 und Mrs. Hurst sah ihnen dabei zu.
Elisabeth nahm sich eine Handarbeit vor und vergnügte sich damit, Darcy und Caroline zu beobachten. Die ständigen Bemerkungen Carolines, die sich bald auf seine Schrift, bald auf die Geradheit seiner Zeilen, dann wieder auf die Länge des Briefes bezogen, und die ungerührte Gleichgültigkeit, mit der er diese Bemerkungen anhörte, ergaben ein komisches Zwiegespräch, das gut mit ihrer Meinung von den beiden übereinstimmte.
»Wie wird sich Ihre Schwester über den Brief freuen!«
Keine Antwort.
»Sie schreiben ungewöhnlich schnell!«
»Im Gegenteil, ich schreibe äußerst langsam.«
»Wie viele Briefe Sie wohl im Laufe eines Jahres schreiben! Und überdies noch Geschäftsbriefe! Wie ich so etwas verabscheue!«
»Dann trifft es sich ja sehr günstig, dass nicht Sie, sondern ich sie schreiben muss.«
»Bitte bestellen Sie Ihrer Schwester, dass ich es nicht erwarten kann, sie wiederzusehen!«
»Ich habe ihr das gerade eben mitgeteilt.«
»Ich glaube, Ihre Feder ist gespalten. Geben Sie her, ich werde sie Ihnen zurechtschneiden. Das kann ich ganz besonders gut!« »Vielen Dank – ich schneide mir meine Federn lieber selbst.« »Wie können Sie nur immer so ebenmäßig schreiben?« Schweigen.
»Sagen Sie Ihrer Schwester, dass ich mich furchtbar freue, zu hören, dass sie sich weiter im Harfenspiel vervollkommnet hat. Und lassen Sie sie bitte wissen, dass ich ganz entzückt bin von ihrem kleinen Entwurf für eine Tischdecke; ich fände ihn Miss Grantleys Arbeit weit überlegen.«
»Würde es Ihnen wohl viel ausmachen, wenn ich Ihr Entzücken für einen späteren Brief aufhebe? Ich habe jetzt nicht mehr genug Platz, um ihm ganz gerecht zu werden.«
»Ach, das macht nichts. Ich werde sie ja im Januar selbst treffen. Aber schreiben Sie ihr immer so lange und so reizende Briefe?«
»Lang werden sie meistens; aber ob auch reizend, kann ich natürlich nicht beurteilen.«
»Für mich gilt es als ausgemacht, dass jemand, der aus dem Handgelenk so lange Briefe verfassen kann, unmöglich schlechte Briefe schreibt.«
»Als Kompliment war das schlecht gewählt, Caroline!« rief ihr Bruder herüber. »Darcy schreibt durchaus nicht aus dem Handgelenk. Er überlegt immer viel zu lange und sucht stets nach besonders schönen Ausdrücken. Hab’ ich nicht recht, Darcy?«
»Jedenfalls sind unsere Briefe sehr verschieden.«
»Ach«, protestierte Caroline, »Charles schreibt schrecklich unordentlich; er lässt Worte aus, und andere streicht er wieder durch.«
»Ja, meine Gedanken folgen einander so schnell, dass ich gar nicht die Zeit habe, sie alle zu Papier zu bringen; deshalb werden die Empfänger auch selten klug aus meinen Briefen!«
»Ihre bescheidene Selbstkritik ist entwaffnend, Mr. Bingley«, warf Elisabeth ein.
»Nichts könnte verkehrter sein, als einen Menschen nach seiner Bescheidenheit beurteilen zu wollen«, sagte Darcy. »Im Allgemeinen weist sie auf nichts anderes als auf mangelndes Selbstbewusstsein hin, und häufig ist sie bloß ein Prahlen mit umgekehrtem Vorzeichen.«
»Und zu welcher von beiden Gattungen zählst du mein bisschen Bescheidenheit?«
»Zur Prahlerei. Du bildest dir nämlich in Wirklichkeit etwas ein auf dein unordentliches Geschreibsel, da du im Stillen meinst, das rühre von dem schnellen Wechsel deiner Gedanken her, und da du im Übrigen eine solche Flüchtigkeit für recht interessant hältst. Etwas schnell zu erledigen reizt immer mehr, als etwas in Ruhe zu vollenden. Als du heute Morgen Mrs. Bennet gegenüber behauptetest, du würdest Netherfield, wenn du erst dazu entschlossen wärst, innerhalb von fünf Minuten verlassen, da wolltest du dich damit einer löblichen Eigenschaft rühmen; aber was ist schon lobenswert an einer Hast, die notwendig alles unerledigt lassen muss und die weder dir selbst noch sonst jemandem einen Vorteil bringt?«
»Hör’ auf!« rief Bingley. »Das ginge doch zu weit, wollte man sich an jedem Abend der törichten Dinge erinnern, die man am Morgen dahergeredet hat. Aber auf Ehre, ich meinte, was ich sagte, und ich meine es immer noch. Ich hab mit meiner Hast wirklich nicht lediglich geprahlt, um einen Eindruck auf die Damen zu machen.«
»Ich glaube dir schon, dass du meinst, was du sagst. Aber das überzeugt mich noch lange nicht, dass du tatsächlich so im Handumdrehen losziehen würdest, wie du angibst. Ich weiß, dass du dich dabei genau so von irgendeinem zufälligen Ereignis leiten lassen würdest wie jeder andere Mensch. Wenn du schon auf dem Pferde säßest und ein Freund sagte zu dir: ›Bingley, bleib lieber noch eine Woche‹, dann würdest du höchstwahrscheinlich vom Pferd steigen und noch einen Monat bleiben.«
»In Ihren Augen ist es danach keine gute Eigenschaft, den Bitten eines Freundes ohne viel Fragen nachzugeben?«
»Es spricht für keinen von beiden, wenn der eine dem anderen nachgibt, ohne zu wissen, warum er es tut.«
»Mir scheint, Mr. Darcy, Sie verstehen eine wahrhafte Freundschaft anders als ich. Wenn zwischen zwei Freunden eine wirkliche Zuneigung besteht, dann wird der eine sich gern den Bitten des anderen fügen, ohne auf eine weitere Begründung zu warten. Ich spreche jetzt nicht von dem besonderen Fall, den Sie eben mit Bezug auf Mr. Bingley anführten. Da warten wir lieber, bis Umstände eintreten, an denen sich sein Verhalten so oder so beweisen lässt. Aber ganz allgemein, würden Sie schlecht von einem Menschen denken, der auf das Verlangen seines Freundes ein unwichtiges Vorhaben aufschiebt, ohne dass dazu viele Worte und Erörterungen notwendig sind?«
»Bevor wir die Frage weiterverfolgen, wäre es vielleicht richtiger, uns über die Wichtigkeit der Bitte und über den Grad der Freundschaft, die unser allgemeiner Fall haben soll, zu einigen.«
»Ja, eben!« rief Bingley, »und dazu noch über die Größe, den Umfang und wer weiß noch was der beiden Menschen; das spielt dabei mehr mit, als Sie denken mögen, Miss Bennet. Ich kann Ihnen versichern, wenn Darcy nicht eine so lange Latte wäre im Vergleich zu mir, ich würde nicht halb so viel auf ihn hören. Bei gewissen Gelegenheiten und zu gewissen Zeiten kann man sich nichts Schrecklicheres vorstellen als Darcy; besonders in seinem eigenen Hause und an Sonntagabenden, wenn er nicht weiß, was er anfangen soll.«
Mr. Darcy lächelte; aber Elisabeth glaubte zu bemerken, dass er sich gekränkt fühlte, und unterdrückte daher ihr Lachen.
Caroline machte kein Hehl daraus, dass sie sich für Darcy ärgerte, und schalt ihren Bruder weidlich wegen des Unsinns, den er eben dahergeredet habe.
»Ich durchschaue dich, Bingley«, sagte jetzt Darcy, »du magst solche Diskussionen nicht.«
»Schon möglich. Sie endigen allzu leicht in Streitereien. Ich wäre auf jeden Fall sehr dankbar, wenn du und Miss Bennet mit der Fortsetzung warten würdet, bis ich aus dem Zimmer bin. Dann könnt ihr weiter über mich reden, so viel ihr Lust habt.«
»Ich füge mich gern Ihrem Wunsch«, meinte Elisabeth, »und Ihnen, Mr. Darcy, schlage ich vor, schreiben Sie lieber Ihren Brief fertig!«
Darcy folgte ihrem Rat und konnte den Brief ohne weitere Unterbrechungen beenden.
Als er damit fertig war, bat er die Damen um etwas Musik. Caroline ließ sich nicht lange bitten; nachdem sie Elisabeth höflich aufgefordert hatte, doch anzufangen, was diese ebenso höflich und entschieden aufrichtig ablehnte, nahm sie am Klavier Platz, und Mrs. Hurst sang zu ihrer Begleitung.
Während Elisabeth neben ihr stand und in den Noten blätterte, die auf dem Klavier lagen, fiel es ihr plötzlich auf, dass Darcys Augen immer häufiger auf ihr ruhten. Den Gedanken, dass ein Mann wie Darcy sie bewundern könne, hielt sie für widersinnig. Aber noch seltsamer wäre es ja, überlegte sie, wenn er sie aus Abneigung immer wieder ansähe. Sie nahm schließlich als einzig mögliche Erklärung an, dass sie seine Aufmerksamkeit wohl deshalb erweckt habe, weil irgendetwas an ihr, mit Darcys Maßen gemessen, ganz besonders unvollkommen und tadelnswert sei. Diese Annahme bereitete ihr keinen großen Kummer. Sie selbst mochte ihn viel zu wenig, als dass ihr an seiner Meinung sonderlich gelegen war.
Nach einigen italienischen Liedern stimmte Caroline einen schottischen Tanz an. Gleich darauf trat Darcy zu Elisabeth und sagte: »Wollen wir die Gelegenheit, einen Schottischen zu tanzen, ungenutzt vorübergehen lassen?«
Elisabeth lächelte, antwortete aber nicht. Er wiederholte seine Frage, offenbar erstaunt über ihr Schweigen.
»Oh, ich verstand Sie schon das erste Mal«, erwiderte sie, »aber ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Sie erwarteten doch sicherlich, dass ich ›ja‹ sagen würde, damit Sie einen Grund mehr haben, mich zu kritisieren. Aber mir macht es nun einmal Spaß, solche Erwartungen zu enttäuschen und den anderen um sein spöttisches Vergnügen zu bringen. Ich kann Ihnen daher nur sagen, dass ich nicht die geringste Lust zu einem Schottischen habe – und jetzt kritisieren Sie, wenn Sie es wünschen!«
»Wie könnte ich so etwas wünschen!«
Auf diese Antwort war Elisabeth nicht gefasst gewesen. Eigentlich hatte sie sogar erwartet, ihn verletzt zu sehen. Aber Darcy war so sehr in ihren Bann geraten wie bisher noch bei keiner Frau.
Caroline sah oder ahnte vielmehr genug, um eifersüchtig zu werden, und ihr Wunsch, Elisabeth los zu sein, verlieh den Worten, mit denen sie ihrer lieben Freundin Jane recht baldige Genesung wünschte, einen Ton wärmster Aufrichtigkeit.
Von Zeit zu Zeit versuchte sie, Darcy zu einer abfälligen Äußerung über Elisabeth zu reizen, indem sie von seiner anscheinend bevorstehenden Heirat mit ihr sprach und ihm das Glück ausmalte, das er in dieser Verbindung finden würde.
»Ich kann nur hoffen«, sagte sie, als sie einmal am folgenden Tag im Garten spazieren gingen, »dass Sie Ihrer Schwiegermutter, sobald Sie Ihr ersehntes Ziel erreicht haben, auf eine taktvolle Weise beibringen können, wie viel angenehmer sie einem ist, wenn sie schweigt; wer weiß, vielleicht bringen Sie es sogar fertig, die beiden jüngeren Mädchen von ihrem Offiziersfieber zu heilen. Und wenn ich Ihnen auch noch diesen diskreten Rat geben darf, lassen Sie sich’s angelegen sein, das gewisse kleine Etwas in Schranken zu halten, das Ihre Auserwählte an sich hat und das sie bedauerlicherweise so eingebildet und hochmütig erscheinen lässt.«
»Damit haben sich doch gewiss Ihre Ratschläge für mein häusliches Glück nicht erschöpft?«
»Oh nein! Sie dürfen z. B. auch nicht vergessen, Porträts von Ihrem zukünftigen Onkel und Ihrer Tante Philips in der Ahnengalerie von Pemberley aufzuhängen. Am passendsten vielleicht gleich neben dem Bild Ihres Großonkels, des Richters. Sie verstehen – Mr. Philips übt ja den gleichen Beruf aus, wenn auch – sagen wir, in einer anderen Branche. Was Ihre Elisabeth anbetrifft, so hat es natürlich keinen Sinn, ein Bild von ihr in Auftrag zu geben; denn welcher Künstler könnte wohl solch wunderbaren Augen gerecht werden?«
»Sie haben recht, ihren Ausdruck auf der Leinwand festzuhalten, wäre tatsächlich nicht leicht; aber Farbe und Form und die ungewöhnlich feinen Wimpern und Brauen würde man schon wiedergeben können.«
In diesem Augenblick kamen ihnen aus einem Seitenweg Mrs. Hurst und Elisabeth entgegen.
»Ich wusste nicht, dass ihr auch spazieren geht«, rief Caroline etwas verlegen aus, da sie fürchtete, ihre Unterhaltung könne gehört worden sein.
»Ihr habt uns ganz abscheulich behandelt«, erwiderte ihre Schwester. »Warum gebt ihr uns nicht Bescheid, statt uns einfach davonzulaufen?«
Und damit hängte sie sich in Darcys freien Arm ein. Da auf dem Weg nur drei Menschen nebeneinander gehen konnten, musste Elisabeth hinter ihnen zurückbleiben. Darcy empfand das Unhöfliche in Mrs. Hursts Betragen und sagte: »Der Weg hier ist nicht breit genug für uns alle vier. Gehen wir doch lieber in der Allee ein wenig auf und ab.«
Elisabeth verspürte jedoch nicht die geringste Neigung, in ihrer Gesellschaft zu bleiben, und antwortete deshalb lachend:
»Nein, nein; bleiben Sie ruhig hier. Sie bilden eine so reizende Gruppe zu dreien, dass ein vierter nur stören würde.«
Heiter eilte sie wieder ins Haus zurück, doppelt vergnügt bei dem Gedanken, dass sie nun bald nach Longbourn heimfahren konnte. Jane fühlte sich schon wohl genug, um diesen Abend ihr Zimmer für ein paar Stunden zu verlassen.
1 Piquet (deutsch: Pikett oder Rummelpikett, früher auch Piket) ist ein Kartenspiel für zwei Personen. Piquet kann aber auch zu drei oder mehr Personen gespielt werden. <<<