Seewölfe - Piraten der Weltmeere 674

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 674
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Impressum

© 1976/2020 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-96688-088-6

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Jan J. Moreno

Aufgelaufen

Im Sturm ist jeder sich selbst der Nächste

15. August 1599, Südindien.

Der Sonnenaufgang brachte eine mäßige, kühle Brise aus Süden. Die Küste von Mangalore verschwand hinter dunklen, schnell dahinziehenden Wolkenbänken.

Im Laufe des Vormittags briste es weiter auf, die Wellen zeigten Schaumkämme. Erst gegen zehn Uhr brach die Sonne durch, und es wurde wieder wärmer.

Um die Mittagszeit lastete bereits brütende Hitze über der See. Eine eigentümliche, bedrohlich wirkende Stimmung zog auf.

Kurz darauf verkündeten grelle Blitze und ein lang anhaltender Donner ein heftiges Gewitter über dem Indischen Ozean.

Eine schwarze, ausgefranst wirkende Wolke bewegte sich schnell nach Süden, während eine andere nach Norden zog. Wer sie beobachtete, stellte fest, daß sie plötzlich stehenzubleiben schienen und anschließend in die andere Richtung wanderten. Sie drehten sich im Kreis.

Die Hauptpersonen des Romans:

Matt Davies – wird unter Deck eingeklemmt, als die Gold- und Silberladung während des Sturms verrutscht.

James Taurean – der selbsternannte Bordgeistliche der „Respectable“ betrinkt sich aus Angst vor dem Sturm.

Hyram Scaleby – der Erste Offizier des Viermasters gibt einen falschen Befehl, der drei Männer das Leben kostet.

Jack Finnegan – geht im Sturm außenbords und kann nicht mehr aufgefischt werden.

Philip Hasard Killigrew – um seine Männer zu retten, muß er kapitulieren und den Befehl geben: „Alle Mann von Bord!“

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

Mac Pellew wurde als erster auf diese Naturerscheinung aufmerksam, weil alle anderen die „Respectable“ beobachteten. Seit Hasard den Lords gesagt hatte, daß die Schebecke elf Tonnen Gold und Silber für den Mogulkaiser Akbar geladen hätte, folgten die ehrenwerten Gentlemen mit ihrem Kriegsschiff den Arwenacks unbeirrbar wie Haie, die Beute wittern.

Macs sauertöpfische Miene wurde noch ein ganzes Stück länger, als er den Wolkenwirbel beobachtete. Er murmelte eine Verwünschung und kratzte sich hilflos die Bartstoppeln. Ein scheußliches Jucken breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Soweit sich Mac entsann, hatte er ein ähnliches Gefühl nur ein einziges Mal verspürt. Aber das lag lange zurück. Dieses Jucken hatte eine kurze und ebenso kostspielige wie leidenschaftliche Liebelei angekündigt, denn das Weibsstück war damals mit seinem Geldbeutel durchgebrannt.

Welche bittere Erfahrung stand ihm diesmal bevor?

Auch Arwenack, der Bordschimpanse, spürte das nahende Unwetter. Zeternd und kreischend hockte er auf der Fockrahrute und begann mit den Händen aufs Segeltuch zu trommeln.

„Affe!“ schnaubte der zweite Kombüsenmann. Und prompt folgte die Steigerung: „Affenarsch!“

Arwenack zeigte sich davon nicht im mindesten beeindruckt. Er rüttelte am Rack, als wolle er die Rahrute aus ihrer Verankerung reißen, und turnte höher am Mast hinauf. Sein schrilles Keckern ließ Mac Pellew zusammenzucken.

Der Koch war fasziniert und entsetzt zugleich. Der Drang zu fliehen wurde schier übermächtig, aber seine Neugier behielt die Oberhand. Er blieb wie angewurzelt stehen und beobachtete die unheimliche Wolkenfront, die sich zunehmend schneller drehte.

Aus höchstens noch drei bis vier Meilen Entfernung sah es so aus, als befände sich der obere Rand der Wolke nur knapp eine Handbreite über der Kimm. Die Unterseite des düster brodelnden Gebildes berührte die See.

Die Wolke drehte sich in der Zeitspanne, die Mac Pellew brauchte, um bis zehn zu zählen, einmal um sich selbst. Vor Erregung zählte er nicht besonders langsam.

„Da – da ist …“

Das Schlachtermesser in der einen Hand, in der anderen den noch zappelnden Fisch, den er eben erst gefangen hatte, verharrte er zwischen Schanzkleid und Kombüsenschott.

Ein heller Rüssel entstand inmitten der wirbelnden Wolken. Er war nicht lang, Mac Pellew schätzte ihn aus der Distanz auf etwa drei Großmastlängen, aber wo er die ohnehin aufgewühlte See berührte, schossen Gischt und Wasser wie in einem gewaltigen Sog himmelwärts.

Endlich gab jemand Alarm. Der Klang der Schiffsglocke scheuchte die Männer der Freiwache an Deck.

Die Schebecke segelte auf Südkurs. Mit rund einer halben Meile Distanz folgte die „Respectable“ ziemlich genau achteraus.

Der Südwest-Monsun, der tagelang beständig geweht hatte, war während der Nacht auf westliche Richtung umgesprungen. Jetzt begannen die Segel unter dem Einfluß rasch wechselnder Böen zu killen. Das Küstengewässer wurde kabbelig.

„Fiert das Großsegel weg!“

Besorgt blickte Philip Hasard Killigrew nach Westen, wo mittlerweile fast die gesamte Kimm hinter brodelnder Schwärze verschwunden war. Lediglich weit im Süden huschten noch irrlichternde Sonnenstrahlen über die See.

Der gischtende Rüssel, der große Wassermassen in die Höhe riß, bewegte sich eindeutig in Richtung Küste. Nur noch knapp drei Seemeilen trennten ihn von der Schebecke, die zusammen mit dem englischen Viermaster zwangsläufig seinen Kurs kreuzen mußte.

„Sir“, fragte Ben Brighton, der Erste Offizier, „gehen wir auf Ausweichkurs?“

Hasard ließ die rotierende Wolkenwand nicht aus den Augen. Langsam hob und senkte er die Schultern.

„Können wir überhaupt ausweichen?“ erwiderte er zögernd.

Die Antwort gaben die erneut heftig schlagenden Segel. Augenblicke später klebte das Tuch schlaff an den Masten, gleich darauf schralte der Wind und fiel vorlicher ein. Er sprang hin und her wie ein junges, bockendes Fohlen.

„Die Crew soll pullen“, sagte Ben Brighton. „Noch können wir unsere restliche Fahrt ausnutzen.“

Hasards Finger verkrampften sich um den Handlauf der Steuerbordverschanzung. Mit ausdrucksloser Miene blickte er nach Westen.

Der gischtende Sog der Wasserhose zeichnete sich überdeutlich vor dem dunklen Hintergrund ab. Inzwischen ragte er nicht mehr nahezu lotrecht auf, sondern schräg in einem Winkel von annähernd sechzig bis siebzig Grad. Aus seiner ursprünglich leicht einzuschätzenden Bewegungsrichtung war ein unberechenbarer Zick-Zack-Kurs geworden.

„Wir können so oder so Pech haben, Ben.“

Der Erste nickte knapp.

„Fock und Besan?“ fragte er. „Ebenfalls wegnehmen?“

Die Wasserhose wirbelte einen riesigen Gischtvorhang auf. Sie schien nach Süden abzudrehen, verharrte vorübergehend nahezu auf der Stelle und näherte sich dann erneut den Schiffen.

Luftbewegungen wie diese entstanden hauptsächlich über flachen Küstengewässern. Aber selten betrug die Lebensdauer einer Wasserhose mehr als fünfzehn Minuten. Hasard wußte genug über diese seltsame Erscheinung.

„Laß alle Segel bergen“, sagte er zu Ben Brighton, „bevor das Tuch in Fetzen von den Rahen hängt. Allerdings hoffe ich, daß es nicht allzu schlimm wird.“

„Dein Wort in Gottes Ohr“, erwiderte der Erste. Nach einem flüchtigen Blick auf die, „Respectable“ wandte er sich um und erteilte die nötigen Befehle.

Auf dem Kriegsschiff hatte offenbar noch niemand bemerkt, was sich im Westen zusammenbraute. Oder aber die sehr ehrenwerten Lords ignorierten den Wirbel einfach. Wahrscheinlich mokierten sie sich bereits über die Arwenacks, die aus unerfindlichen Gründen die Segel einholten.

„Sollen sie“, murmelte Hasard vor sich hin. „Wenn ihnen der Wind erst die Perücken vom Kopf reißt, werden sie vielleicht begreifen.“

Die Lords empfanden, um es deutlich auszudrücken, für die Schebecke der Seewölfe in etwa das gleiche wie der Teufel für die arme Seele. Gold und Silber übten eine geradezu magische Anziehungskraft aus.

Andererseits hatte Philip Hasard Killigrew ein verständliches Interesse an der „Respectable“. Obwohl es ihm und seinen Männern leichtgefallen wäre, mit ihrem schnellen Dreimaster dem Kriegsschiff davonzulaufen, hielten sie sich zurück, weil fünf von ihnen zum Dienst auf die „Respectable“ gepreßt worden waren.

So hatte es sich ergeben, daß die beiden ungleichen Schiffe stets in Sichtweite zueinander segelten.

Don Juan de Alcazar lachte spöttisch. Er hielt Hasard das Spektiv hin, durch das er eben noch die Verfolger beobachtet hatte.

„Das mußt du dir ansehen“, sagte er, sichtlich in seinem Glauben an eine gute Seemannschaft erschüttert. „Die Kerle haben ‚Klar Schiff zum Gefecht‘ befohlen. Sie sind im Begriff, ihre Stücke auszurennen.“

 

Hasard schob die Hand mit dem Spektiv freundschaftlich zur Seite.

„Wundern würde es mich nicht, wenn die Lords eine Falle wittern. Oder verstehst du, warum wir ohne jeden Grund die Segel bergen?“

„Eigentlich nicht.“ Don Juan lachte gequält. „Man kann nur hoffen, daß die Wasserhose an der ‚Respectable‘ vorbeizieht oder vorher in sich zusammenfällt.“

Noch einer lachte. Es war Donegal Daniel O’Flynn, Hasards kauziger Schwiegervater. Sein Lachen klang gereizt.

„Die Taugenichtse schießen in den Wind!“ rief er.

„Siehst du schlecht, Granddad?“ fragte Philip junior, der soeben zum Achterdeck aufenterte. „Die Lords halten unverändert auf uns zu, als wollten sie uns rammen.“

„Ha!“ Der Alte begann heftig zu gestikulieren. „Die schießen in den Wind, verstehst du? Mit ihren Kanonen schießen sie. Das finde ich köstlich.“

„Mit was sollen die Kerle sonst schießen, wenn nicht mit ihren Kanonen? Und das Ziel dürften höchstwahrscheinlich wir sein.“

Old Donegal, den sein eigenes Wortspiel derart faszinierte, daß er darüber alles andere vergaß, stutzte.

„Wie meinst du das, Junge?“

„Wie ich es sagte, Granddad.“

„Hm. Und wenn ich nicht richtig hingehört habe?“

„Dann ist das deine Schuld, nicht meine.“ Philips Blick wanderte von Norden nach Westen und wieder zurück. Vergeblich versuchte er abzuschätzen, welche Bedrohung die schlimmere sein würde, vor allem, welche zuerst die Schebecke erreichte.

Die Segel waren eingeholt; alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde unter Deck geschafft.

Der Wolkenwirbel, noch achthundert Yards querab, wuchs bedrohlich an. Die Gischt ließ Himmel und Erde miteinander verschmelzen. Ein dumpfes Brausen erfüllte die Luft und übertönte den anhaltenden Donner. Nur die Blitze schienen spärlicher geworden zu sein, doch das lag eher daran, daß sie hinter dem die Sicht versperrenden Wirbel niederzuckten.

„Alle Luken dicht!“ meldete Matt Davies.

Ben Brighton nickte knapp. „Spannt die Manntaue!“ befahl er.

Von Hektik war wenig zu spüren. Die Arwenacks arbeiteten präzise wie stets. Nur hin und wieder galt ein flüchtiger Blick dem Wolkenwirbel und der schäumenden Wasserwand.

„Was sagt dein Zweites Gesicht, Granddad?“ fragte Philip junior.

Old Donegal musterte ihn überrascht. „Das willst du nicht wirklich wissen, oder?“

„Doch.“

„Sturm zieht auf, mein Junge“, erklärte der Alte.

Philip war schlichtweg platt. „Nein“, sagte er ächzend. „Auf den Gedanken wäre ich bestimmt nicht gekommen. Das ist eine äußerst tiefschürfende Erkenntnis.“

Donegal Daniel O’Flynn schwieg beleidigt. Für eine umfassende Antwort blieb ihm ohnehin keine Zeit mehr. Er bekreuzigte sich und wich an den Besanmast zurück, wo er ein festes Tauende aufnahm und sich damit sicheren Halt verschaffte.

Auf der „Respectable“ waren endlich einige besonnene Gemüter zu der Einsicht gelangt, daß weniger von der Schebecke der Seewölfe Gefahr drohte als vielmehr von dem gischtenden, sich windenden Wolkenrüssel, der beachtliche Wassermassen in die Höhe saugte und spurlos verschwinden ließ. Jedenfalls wurden die Stückpforten plötzlich wieder geschlossen.

Dann war die Wasserhose heran.

Eine heftige Sturmbö packte die Schebecke und ließ sie nach Backbord krängen. Die Takelage knarrte und ächzte, und das Vibrieren der Taue übertrug sich sogar auf die Decksplanken.

Stiebende Nässe fegte über das Schiff hinweg, gefolgt von einer über der Kuhl zusammenschlagenden Sintflut. Den einen oder anderen, den die Welle mit unwiderstehlicher Gewalt umwarf, bewahrten die Manntaue davor, in die aufgewühlte See gespült zu werden. Back und Achterdeck blieben von den Wassermassen teilweise verschont, die den Großmast umschäumten, als wollten sie ihn umbrechen.

Zum Glück waren die Beiboote sicher vertäut. Hätten sie sich losgerissen, wären beträchtliche Schäden entstanden.

Der Spuk währte nur wenige Augenblicke, danach stand das Wasser knapp kniehoch auf der Kuhl, weil es nicht schnell genug durch die Speigatten abfließen konnte.

„Schadensmeldung!“ befahl der Erste Offizier.

Abgesehen davon, daß aufgeklart werden mußte, weil die Flut Unmengen von Tang und Seegras hinterlassen hatte, waren die Arwenacks ungeschoren geblieben.

„Ich glaube, ich hab einen Fisch verschluckt“, meldete Luke Morgan halblaut. Eigentlich war die Feststellung nur für Jeff Bowie, Will Thorne und die Zwillinge bestimmt, die in seiner Nähe standen, aber der Kutscher, Feldscher und Erster Koch in einer Person, hatte Ohren wie ein Luchs.

„Um so besser“, stellte er lapidar fest. „Dann fällt für dich das abendliche Backen und Banken aus.“

Mac Pellew, der Zweite Koch, stand mit bitterböser Miene daneben. Deshalb schluckte Luke jeden Protest unausgesprochen hinunter. Denn Mac war imstande und ließ die Drohung wahr werden. Besonders dann, wenn er schlechte Laune hatte.

Und die hatte er mit Sicherheit, wirkte er doch wie zur Salzsäule erstarrt. Das Haar hing ihm in wirren Strähnen und triefend in die Stirn, und auch aus seinen Plünnen tropfte das Wasser. Der Anblick erinnerte Luke Morgan daran, daß er selbst vermutlich nicht besser aussah.

Die Wasserhose war in Richtung Küste weitergezogen, änderte erneut ihren Kurs und schwenkte zur „Respectable“ um.

„Eine kühle Dusche schadet den Lords bestimmt nicht“, sagte Ben Brighton. In seiner Stimme schwang Schadenfreude mit.

Aber er und alle anderen, die den Durchlauchten nicht gerade freundschaftlich gesonnen waren, wurden enttäuscht.

Der Saugrüssel verlor an Kraft. Vorübergehend sah es so aus, als wolle er sich in die wirbelnden Wolken zurückziehen. Obwohl er mehrmals wieder auf die Wasseroberfläche hinunterstieß, löste er sich schließlich schäumend und in einem riesigen Sprühregen auf, bevor er das Kriegsschiff erreichte.

Ein verhaltenes Murmeln entstand auf dem Achterdeck der Schebecke und pflanzte sich rasch bis zur Back fort. Zu gern hätten die Seewölfe gesehen, wie gepuderte Perücken und stutzerhafte Plünnen durch die Luft flogen.

„Nun ja“, sagte Pete Ballie, der Gefechtsrudergänger der Arwenacks, und kratzte sich die Bartstoppeln, „aus dem Vergnügen, die Kerle baden zu sehen, wird wohl nichts.“

Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als ihn eine Bö gegen das Schanzkleid drückte. Piet Straaten neben ihm wurde hochgehoben, einmal um sich selbst gedreht, und dann hatte er Mühe, sich abzufangen, bevor er bäuchlings auf die Planken flog.

Über das Achterdeck tobte ein heftiger Sturm – stark genug, um Segel zu zerfetzen, wäre das Tuch noch gesetzt gewesen.

Auf der Back und im vorderen Bereich der Kuhl herrschten ähnliche Verhältnisse, nur fegten dort die harten Böen nicht von Westen heran, sondern aus der entgegengesetzten Richtung. Sie drückten die Männer an die Steuerbordverschanzung.

Die Schebecke lag wie ein Brett im Wasser. Die nur unmerkliche Krängung war der beste Beweis dafür, daß beide Sturmböen nahezu gleich heftig tobten. Lediglich der Bug stieg plötzlich steil in die Höhe. Für einen winzigen Augenblick verharrte das Schiff auf dem Kamm einer großen Welle und schlug dann schmetternd und dröhnend in die aufgewühlte See. Brecher fegten über die Back hinweg.

Die Männer, die zwischen dem Großmast und den Achterdecksniedergängen standen, hatten Mühe, das Geschehen zu begreifen. Sie sahen zwar, daß ihre Gefährten gegen heftige Winde ankämpften, doch sie selbst spürten nicht mal ein laues Lüftchen.

Die Schebecke drehte ohne Zutun des Rudergängers nach Westen. Die Bewegung vollzog sich nahezu auf der Stelle, als hätte die Faust eines Riesen das Schiff gepackt und herumgezerrt.

Aber auch dieser Vorgang, der mit menschlichem Verstand nicht zu erklären war, hielt nur wenige Momente an. Danach blieben zwar die über dem offenen Ozean liegende Finsternis und die dort unaufhörlich niederzuckenden Blitze, doch rings um die Schebecke beruhigte sich die aufgewühlte See schnell wieder, bis nur noch größere Schaumflächen die Wellen krönten.

Der Wind stabilisierte sich aus westlichen Richtungen, und der Seewolf ließ wieder Segel setzen.

Der englische Dreidecker folgte der Schebecke erneut mit der Ausdauer eines beutehungrigen Jägers. Zweifellos würden die Lords bis nach Madras Fühlung halten, um irgendwo auf gemeine Art und Weise die aus elf Tonnen Gold und Silber bestehende Ladung der Schebecke an sich zu bringen. Sie hatten es einmal mit Befehlen versucht und waren abgeblitzt. Beim nächstenmal würden die Geschütze jede Diskussion ersetzen. Aber das Ergebnis würde kaum anders sein.

„Geleitschutz“, sagte Ben Brighton spöttisch und bedachte die „Respectable“ mit einer geringschätzigen Geste. „In ein paar Tagen haben wir uns daran gewöhnt, falls die Lords dann noch da sind.“

„Sie bleiben im Kielwasser“, erwiderte Hasard. „Darauf kannst du dich verlassen. Solange Ed und die anderen an Bord sind, ist mir das sogar recht.“

„Sir Thomas und seine Clique können mir hinter dem Mast begegnen“, erklärte der Erste Offizier. „Möglichst bei Dunkelheit, damit ich ihre hochnäsigen Visagen nicht sehen muß.“

„Das sind fromme Wünsche, Gentlemen“, sagte Don Juan de Alcazar. Er lehnte am Schanzkleid und studierte die Wolkenformationen an der fernen Kimm. Sonderlich wohl war ihm nicht dabei. „Das Gewitter und der Wolkenwirbel waren erst ein Vorgeschmack dessen, was uns noch erwartet“, erklärte er.

Hasard nickte knapp.

„Spätestens in der Nacht zieht ein neuer Sturm auf. Aber sollen wir deshalb eine geschützte Bucht anlaufen und weitere Zeit verlieren?“

Don Juan zuckte mit den Schultern.

„Ich sorge mich um den Profos, um Ferris Tucker, Roger Brighton, Smoky und Dan. Wenn wir die ‚Respectable‘ verlieren oder sie uns, werden wir die fünf wohl für geraume Zeit nicht mehr sehen.“

Der Seewolf seufzte ergeben und sagte: „Dein Zorn auf die Lords ist verständlich, trotzdem habe ich keine ausreichende Handhabe, um die ‚Respectable‘ anzugreifen. Jedes andere Schiff hätte ich längst zu den Fischen geschickt.“

„Du vergreifst dich nicht an englischem Eigentum?“ fragte Don Juan spöttisch.

„Noch nicht“, entgegnete Hasard. „Die Lords berufen sich auf das Kriegsrecht, und das gibt ihren Forderungen immerhin den nötigen Rückhalt.“

Don Juan wandte sich um und blickte wieder nach Westen. Der Himmel überzog sich allmählich mit düsteren Farben. Einzelne Wolken hingen wie pralle Euter nach unten durch.

„Ich denke, mein Freund, der Sturm wird alles übertreffen, was wir in letzter Zeit erlebt haben. Hoffentlich müssen wir anschließend nicht die Lords mit den Überresten ihrer Galeone auffischen.“

Die Schebecke segelte ziemlich genau auf Südkurs. Das Abendrot breitete sich bis über den Zenit hinaus nach Osten aus. Die Farben ließen das Meer aussehen, als stiegen blutrote Strömungen aus der Tiefe auf.

Dieser Anblick verlor auch dann nichts von seiner beklemmenden Wirkung, als die Sonne hinter der Kimm versank und ihre letzten Strahlen flach über den Indischen Ozean geisterten. Himmel und Meer schienen zu brennen und an einem fernen Punkt in goldener Glut miteinander zu verschmelzen. Die Betrachtung des untergehenden Tagesgestirns war für die Augen fast schmerzhaft.

Übergangslos brach die Dämmerung herein. Im Osten blinkten verheißungsvoll die ersten Sterne.

Dann schlief der Wind ein. Nur noch ein leichter Druck lag auf den Segeln.

Hasard ließ die Laternen anzünden, denn die Nacht würde von einer undurchdringlichen Schwärze sein. Darüber konnten weder der fahle Sternenschein noch das allmählich verblassende Abendrot hinwegtäuschen.

Tatsächlich verging keine halbe Stunde, bis neue Wolkenbänke aufzogen. Der Mond, der über der Küste aufgegangen war, verschwand, wieder.

Die Segel hingen schlaff von den Rahruten.

„Flaute!“ sagte Mac Pellew verächtlich. „Old Donegal, dein Zweites Gesicht ist auch nicht mehr das, was es einmal war.“

„Kombüsenschabe!“ zischte der Alte zurück. „Daß Sturm aufzieht, spüre ich in jedem Knochen.“

„Was du spürst, ist das Zipperlein. Heute zwickt es hier, morgen zwackt es dort.“

„Willst du damit behaupten, daß ich alt werde?“ Old Donegal stampfte mit seinem Holzbein auf, daß die Planken krachten.

„Umschläge mit einem heißen Süd aus Kamillenblüten helfen am besten“, erklärte Mac Pellew.

 

„Wo soll ich Kamillenblüten herkriegen? Kannst du mir das sagen?“

„An Land wachsen genug davon“, erklärte der Koch.

„Ach so.“ Old Donegal schnappte nach Luft. „Auf dem Wasser wohl nicht, du Klugscheißer.“

„Nein“, sagte Mac in einer Seelenruhe, die ihresgleichen suchte. „Soviel ich weiß, wachsen sie da noch nicht.“

Old Donegal Daniel O’Flynn verfärbte sich. Er starrte den Kombüsenmann an, als wolle er ihn mit Haut und Haaren verschlingen. Aber dann wandte er sich abrupt um und stiefelte unter Deck. Er ließ Mac Pellew lediglich noch wissen, wohin er sich seine Kamillenblüten stecken könne.

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