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Koste Es Was Es Wolle

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From the series: Ein Luke Stone Thriller #1
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Koste Es Was Es Wolle
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Is reading Mike Nelson
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Kapitel 36

Wie sehr wünschte sie sich an einem anderen Ort zu sein.

Sie stand vor dem klaffenden Schlund des Mount Weather Eingangs, sie rauchte eine Zigarette und hielt ihr Smartphone am Ohr.

Dass sie rauchte, war eines jener kleinen Geheimnisse von denen das amerikanische Volk nichts wissen sollte. Susan Hopkins genoss hin und wieder eine Zigarette und das hatte sie seitdem sie ein Teenager Model gewesen war. Vor allem in stressigen Situationen half nichts besser als eine Zigarette und das hier war wahrscheinlich der stressigste Tag ihres Lebens. Niemand hatte jemals zuvor versucht sie umzubringen. Sie trug ein kurzes Kleid, eines, das vielleicht ein bisschen zu sexy für den Anlass war. Sie hatten es vom Nordstrom Geschäft aus einer Mall in der Nähe des Pentagons zusammen mit einer Näherin, die für die Anpassung hinzugezogen worden war, einfliegen lassen. Es war David Halstrams Idee gewesen. Es war für die Leute, die im Fernsehen zusahen gedacht, denn so konnten sie sie in der Menge leichter ausfindig machen. Nach der Rede von Thomas konnte auf diese Weise niemand auf der Welt die Tatsache leugnen, dass Susan Hopkins tief in einem unterirdischen Tunnel steckte und jedes Wort des Präsidenten mittrug. Es war eine gute Idee. Aber es war auch eine kühle Nacht und der Wind aus den Bergen blies durch das Material des Kleides.

Sie zitterte. Drei sehr große Sicherheitsmänner standen gleich neben ihr. Sie wachten über ihr. Sie hoffte, dass niemand von ihnen ihr seine Jacke anbieten würde. Diese Art von Ritterlichkeit löste bei ihr einen Brechreiz aus.

Pierre sprach am anderen Ende der Telefonleitung.

„Liebling“, sagte er, „ich sehe dich nicht gerne da drinnen. Das macht mich nervös. Ich kann ein Flugzeug zu jedem regionalen Flughafen schicken, der nah an dir dran ist. Du könntest dich in einer Stunde auf dem Weg nach draußen befinden. Ich habe die Sicherheitskräfte verdoppelt. Der elektrische Zaun ist an. Es bedürfte schon einer kleinen Armee, um da durch zu kommen. Du könntest denen einfach sagen, dass du ein paar Wochen Auszeit brauchst, um dich wieder zu sammeln. Am Pool liegen und entspannen. Eine Massage.“

Susan lächelte bei dem Gedanken, wie Pierre ihre dreißig Zimmer Mansion abgeriegelt hatte, sicher hinter einem elektrischen Zaun. Wen glaubte er damit abschrecken zu können, die Jungs von der Burschenschaft? Sein Zaun und sein Eingangstor, sowie seine acht (anstelle von vier) pensionierten Wachkräfte könnten die Leute nicht einmal für eine Sekunde davon abhalten in das Gelände einzudringen, wenn sie Susan wirklich töten wollten.

Guter Gott.

„Pierre…!

Er sprach weiter. „Lass mich fertig reden“, sagte er.

Sie dachte an frühere Zeiten mit ihm. Sie war damals bereits in der Vogue, Cosmo, Mademoiselle, Victoria’s Secret und sogar der Sports Illustrated für jugendliche Masturbierende gewesen. Aber sie fing an alt zu werden. Sie konnte es spüren und ihr Agent bestätigte es. Die Anfragen für Covershootings hatten aufgehört. Sie war vierundzwanzig Jahre alt.

Dann hatte sie Pierre getroffen. Er war neunundzwanzig und der Börsengang seines Start-up Unternehmens hatte ihn über Nacht zu einem Milliardär gemacht. Er war in San Francisco aufgewachsen, aber seine Familie kam aus Frankreich. Er war schön, hatte einen sehr schlanken Körper und große braune Augen. Er sah aus wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Sein dunkles Haar fiel ihm immer ins Gesicht. Er versteckte sich darunter. Er war unglaublich süß.

Sie hatte gutes Geld im Laufe ihrer Karriere verdient, mehrere Millionen Dollar. Finanziell hätte sie es nicht nötig gehabt. Aber um Geld ging es plötzlich nicht mehr. Sie hatten zusammen die Welt bereist. Paris, Madrid, Hong Kong, London… Sie waren stets in Fünf-Sterne Hotels abgestiegen und dort immer in den teuersten Suiten. Einmalig schöne Landschaften wurden zur Kulisse ihres Lebens sogar mehr noch als zuvor. Sie liefen Ski in den Alpen und in Aspen. Sie sonnten sich auf den Stränden griechischer Inseln, aber auch auf Bali und Barbados. Sie heirateten und bekamen Kinder, zwei wundervolle Zwillingsmädchen. Dann begannen die Jahre an ihr vorbeizuziehen und langsam lebten sie sich auseinander.

Susan langweilte sich. Sie suchte nach einer Beschäftigung. Sie ging in die Politik. Schließlich trat sie sogar für den Posten der Senatorin von Kalifornien an. Es war eine verrückte Idee und alle waren sie überrascht gewesen (sie selbst eingeschlossen), als sie tatsächlich haushoch gewann. Danach hatte sie viel Zeit in Washington verbracht, manchmal zusammen mit den Mädchen, manchmal nicht. Pierre kümmerte sich um seine Geschäfte und zunehmend um seine gemeinnützigen Anstrengungen in der Dritten Welt. Manchmal sahen sie sich monatelang nicht.

Vor etwa sieben Jahren rief Pierre sie eines Nachts spät an und gestand ihr etwas, dass sie eigentlich schon gewusst hatte. Er war schwul und er war in einer Beziehung.

Sie blieben trotzdem verheiratet. Vor allem für die Mädchen, aber auch aus anderen Gründen. Zum einen waren sie beste Freunde. Zum anderen war es für sie beide besser, wenn die Welt glaubte, dass sie noch immer ein Paar waren. Sie zimmerten sich ein medienfreundliches Bild zusammen. Und es war bequem.

Sie seufzte. Es war eines jener Geheimnisse, von denen die Amerikaner nichts mitbekommen durften.

Sie schaute auf ihre Uhr. Es war fast neun Uhr.

„Pierre“, sagte sie erneut.

„Ja“, sagte er endlich.

„Ich liebe dich sehr.“

„Ich liebe dich auch.“

„Gut. Ich werde mir das, was du gesagt hast, überlegen. Und ich werde versuchen, hier so schnell wie möglich rauszukommen. Aber jetzt muss ich erst einmal dem Präsidenten bei seiner Rede zusehen.“

„Der Präsident ist ein Trottel.“

Sie nickte. „Ich weiß. Aber er ist unser Trottel und wir müssen ihn unterstützen. Okay?“

„Okay.“

Sie legte auf und schnipste den Rest ihrer Zigarette weg. Sie schaute zu den drei klobigen Riesen, die sie umringten. „Lasst uns gehen Jungs“, sagte sie. Eine Minute später waren sie im Fahrstuhl auf dem Weg in die Tiefen der Erde.

*

„Noch vierzig Sekunden, Herr Präsident“, sagte eine Stimme aus der Kontrollkabine. „Wenn das Licht grün aufleuchtet, sind Sie auf Sendung.“

„Ist es das grüne Licht vor mir?“

„Fünf Kameras sind auf Sie gerichtet, Sir, und ja, grün ist das Licht vor Ihnen. Dreißig Sekunden.“

David Halstram positionierte sich im hinteren Teil des Fernsehstudios, so dass er die ganze Szenerie überblicken konnte. Der Präsident thronte auf dem Podium, vollkommen ruhig wartete er auf das grüne Signal. In dem kleinen Amphitheater vor ihm saßen einige der wichtigsten und einflussreichsten Leute des Landes.

Leute aus dem Kongress und Senatoren beider Parteien stellten den größten Teil des Publikums – mehrheitlich liberal wie der Präsident, aber auch zahlreiche treue Vertreter der Opposition. Der Außenminister war hier, genauso wie der Finanzminister und Bildungsminister. Die Direktoren der NASA, der National Science Stiftung und des National Park Systems saßen in einer Reihe umringt von ihren Führungsriegen.

Halstrams Herz raste. Zu sagen, dass er aufgeregt war, war stark untertrieben. Er fühlte sich wie in einem Raketenschiff, das mit steigender Geschwindigkeit auf das Gravitationsfeld der Erde zuraste. Das waren die Momente, für die er lebte.

Er war für diesen Job geboren worden. Er trank keinen Alkohol und nahm keine Drogen. Er brauchte kaum Koffein. Ohne mit der Wimper zu zucken arbeitete er gelegentlich achtzehn Stunden am Tag schlief vier oder fünf Stunden, stand auf und wiederholte das Ganze. Was war schon Kaffee im Vergleich zu dem Leben das David führte?

Präsident Thomas Hayes stand kurz davor eine der bedeutsamsten Reden in der Geschichte Amerikas zu halten und David Halstram sein Stabschef, sein Vertrauter, sein Berater, stand zehn Meter von ihm entfernt.

„Noch zwanzig Sekunden, Herr Präsident.“

Für einen kurzen Moment wurden Davids Gedanken abgelenkt. Luke Stone. Sie hatten ihn heute Nachmittag gründlich unter die Lupe genommen. Natürlich hatten sie das. Er hatte das Leben des Präsidenten gerettet, aber… man musste wissen, mit wem man es zu tun hatte. Es gab einiges in der Akte dieses Mannes. Ausrufezeichen zuhauf. Stress während Kampfhandlungen. Zweifelhafte Anwendung von Gewalt. Autoritätsmissbrauch. Urkundenfälschung. Anscheinend war er mit einer gefälschten Yankee White Befugnis in den Westflügel eingedrungen. Wie hatte er das angestellt? Was wäre passiert, wenn er es nicht geschafft hätte?

„Zehn Sekunden. Viel Glück, Sir.“

Jetzt wollte er, dass sie die Einrichtung verließen. Okay, David würde mit ihm darüber beraten. Vielleicht morgen, dann würden sie… was? Camp David?

Auf dem Podium schaute Hayes direkt in die Kamera.

Die Stimme meldete sich ein letztes Mal. „Wir sind live in vier…“

„Drei…“

Hayes lächelte. Es wirkte gekünstelt, gezwungen, aber dann verwandelte es sich in etwas anderes.

„Zwei…“

In Entschlossenheit.

„Eins…“

„Guten Abend, liebes amerikanisches Volk“, begann der Präsident mit einem breiten, selbstbewussten Lächeln. „Ich bin hier um Ihnen -“

BOOM!

Ein Licht leuchtete auf und für den Bruchteil einer Sekunde dachte David, dass es das grüne Licht war, auf das der Präsident gewartet hatte. Aber es war nicht grün. Es war weiß und riesig und blendend. Es kam von hinter dem Präsidenten.

Es verschlang den Präsidenten vollends.

David wurde durch die Druckwelle von seinen Füssen gerissen. Er flog durch die Luft, wurde gegen die Wand vier Meter hinter ihm geschleudert und fiel zu Boden. Alles war dunkel. Er konnte nichts sehen. Der Boden unter ihm wackelte.

Plötzlich flammte ein zweites Licht auf, noch größer als das erste und gewaltiger. Alles wankte. Die gesamte Einrichtung bewegte sich. Die Decke über ihm stürzte ein. Er hörte es und eine kurze Sekunde später fühlte er es. Ein großes Stück Mauerwerk landete auf seinem unteren Rücken und seinen Beinen. Es tat kurz weh, dann nicht mehr.

 

David war alles andere als blöd. Er wusste sofort, dass seine Beine gerade zerquetscht worden waren und dass er aller Wahrscheinlichkeit nach von der Hüfte abwärts gelähmt sein würde. Er vermutete, dass er stark blutete, ohne dass er es fühlen zu können.

In der Dunkelheit um ihn schrieen unsichtbare Menschen.

Ich befinde mich zehn Stockwerke unter der Erde, niemand wird kommen um mich zu retten.

Er dachte zurück und wiederholte das Geschehene für einige Sekunden. Der erste grelle Strahl Licht. Er sah ihn jetzt klarer als zuvor. Das Licht hatte den Präsidenten nicht verschluckt.

Es hatte ihn vernichtet.

Der Präsident – und wahrscheinlich alle hier unten – waren bereits tot.

Kapitel 37

21.02 Uhr

Washington, DC

„Und jetzt…” sagte eine ruhige Stimme. „Der Präsident der Vereinigten Staaten.“

Luke fuhr gerade auf den Highway, als die Rede des Präsidenten begann. Nach Lukes Berechnung sollte er die Tore von Mount Weather erreicht haben, wenn die Rede des Präsidenten nach einer Stunde vorbei war.

Er hörte die ersten Worte des Präsidenten – und dann wurde es still.

Die Stimme einer Frau sprach.

„Ähm… wir haben es hier scheinbar mit technischen Schwierigkeiten zu tun. Wir haben die Verbindung zum derzeitigen Aufenthaltsort des Präsidenten in Mount Weather verloren. Wir bitten die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen. In der Zwischenzeit einige Worte unserer Sponsoren.“

Luke stellte den Sender um. Die selbe Geschichte.

Er stellte wieder um. Sie spielten einen Rocksong.

Schließlich die Stimme eines Mannes.

„Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben soeben die Nachricht erhalten, dass es zu einer Explosion in der Mount Weather Einrichtung gekommen ist. Wir haben momentan keine genauen Informationen. Es besteht bisher kein Kontakt zu der Einrichtung, aber erste Berichterstatter sind vor Ort. Wir wollen Sie darauf hinweisen, dass es sich dabei nicht…“

Luke stellte das Radio aus.

Für einen Moment fühlte Luke gar nichts. Er war wie betäubt. Er erinnerte sich an diesen lange zurückliegenden Morgen in Afghanistan. Es war kalt gewesen. Die Sonne ging auf, aber die Wärme blieb aus. Der Boden war zerwühlt und hart. Überall tote Menschen. Dünne Männer mit Bärten lagen mit weit aufgerissenen Augen und starrem Blick auf dem Boden.

Irgendwann in der Nacht hatte sich Luke das Hemd vom Leibe gerissen. Seine Brust war rot getüncht. Er war von Blut bedeckt. Er hatte sie abgeschlachtet. Erstochen. Aufgeschlitzt. Und je mehr er sie umgebracht hatte, desto mehr kamen sie wieder zurück.

Martinez lag auf dem Rücken ausgestreckt auf dem Grunde eines Grabens. Er weinte. Er konnte seine Beine nicht mehr bewegen. Er hatte genug. Er wollte einfach nur hier raus. „Stone“, sagte er. „Hey, Stone. Hey! Töte mich, man. Bring mich um. Hey, Stone! Höre mir zu, man!“

Murphy hockte auf einem aus der Erde ragenden Feld und starrte ins Leere. Er versuchte nicht einmal in Deckung zu gehen.

Wenn mehr Kämpfer gekommen wären, hätte Stone nicht gewusst, was er hätte tun sollen. Keiner der hier Verbleidenden schien noch viel für einen Kampf übrig zu haben und die einzige verfügbare Waffe die Luke noch blieb war das Bajonett in seiner Hand.

Er sah wie ein Schwarm schwarzer Insekten am fernen Himmel auftauchte. Er wusste, dass sie sich gleich in etwas anderes verwandeln würden. Helikopter. Dann würde er wissen, dass er noch lebte. Das fühlte sich weder gut noch schlecht an. Er fühlte nichts mehr.

Wie jetzt.

Er kehrte in die Gegenwart zurück als zu seiner Linken ein Krankenwagen mit hundertsechzig Stundenkilometern in Richtung Westen mit heulender Sirene und Warnlicht vorbeiraste. Luke nahm die nächste Ausfahrt. Am unteren Rand der Rampe gab es einen Parkplatz. Luke fuhr hinein und hielt an.

Er zog seine Handbremse an schaltete das Licht aus. Er glaubte, dass er vielleicht etwas fühlen würde, wenn er schrie, deshalb versuchte er es.

Er schrie. Für eine geraume Zeit.

Es funktionierte nicht.

Kapitel 38

21.35 Uhr

Fairfax County, Virginia – Vororte Washington, DCs

Whiskey auf Eis.

Er fand nichts Besonderes an der Kühle des Eises, die sich in seinem Magen in ein Feuer verwandelte.

Luke saß auf dem Sofa seines Wohnzimmers. Er war gerade nach Hause gekommen. Er blickte auf seine Uhr und dachte zurück. Vor ziemlich genau zwanzig Stunden war er aufgebrochen. Er hatte sich mit einem Ziel und voller Energie auf den Weg gemacht. Er hatte alles gegeben, um das Desaster abzuwenden, er hatte sein eigenes Leben mehr als ein Mal riskiert, aber wozu? Die Katastrophe war trotzdem eingetroffen.

Er schaltete den Fernseher an und stellte den Ton aus. Er zappte durch die Kanäle und schaute sich die Bilder an. Mount Weather, der Ort, an dem er noch früh am Tage gewesen war, stand in Flammen. Die First Lady wurde in ihrer Unterbringung auf Hawaii interviewt. Sie brach zusammen und weinte vor der Kamera. Spontane Mahnwachen an vielerlei Orten. Hunderttausend Menschen in Paris, hunderttausend in London. Verwüstete Straßen in DC und Manhattan. Straßenschlachten in Detroit, Los Angeles und Philadelphia, alles Städte, in denen der Präsident breiten Zuspruch gefunden hatte. Viel Gequatsche und noch mehr Gequatsche, einige mit ehrlichen Tränen in den Augen, andere verärgert gestikulierend. Jemand musste bezahlen, natürlich. Es musste immer jemand bezahlen.

Jetzt ein Themenwechsel. Kampfflieger wurden irgendwo gestartet. Bomben wurden auf den Nahen Osten geschmissen. U-Boote geladen mit Atombomben in der Nordsee. Die amerikanische Flotte im Persischen Golf. Die Pressekonferenz des russischen Präsidenten. Chinesische Kabinettsmitglieder in Peking. Iranische Mullahs. Skandierende Mengen, Männer mit Turban, Sandalen und schwingenden AK-47ern, Babys, die geküsst und zu Gott empor gehoben wurden. Ein Aufstand in der Gasse einer alten Stadt, Soldaten warfen Tränengas, Leute flohen, wurden in der Dunkelheit zertreten. Ein Mann wegen Betrugs verurteilt, wurde in einer staubigen Stadt zu Tode gesteinigt.

All das strömte auf ihn ein, ein Bild nach dem anderen. Der amerikanische Präsident war ermordet worden und die ganze Welt verlor den Verstand. Es war schier unmöglich das Ausmaß der Geschehnisse abzusehen.

Luke beugte sich nach unten, löste seine Schnürsenkel und streifte seine Schuhe ab. Er lehnte sich zurück. Noch vor vierundzwanzig Stunden hatte er kurz davor gestanden seinen Job beim Geheimdienst zu quittieren. Es war fast zu schön gewesen in den letzten sechs Monaten, die wenigen Seminarstunden, zum Spaß mit seinen Freunden Basketball spielen, die Zeit mit seiner Familie genießen. Vielleicht war seine Zeit als Soldat, Spion und Kamikaze einfach wirklich vorbei.

Er blickte sich im Haus um. Sie hatten hier ein schönes Leben. Ein schönes Haus, modern, mit Fenstern, die zum Boden reichten, wie aus einem Möbelkatalog. Es war wie ein Glaswürfel. Wenn es im Winter schneite, erinnerte es an eine jener Schneekugeln, die die Leute früher gehabt hatten als er noch ein Kind gewesen war. Er dachte an die Weihnachtsfeste – wie sie in dem tiefer gelegenen Wohnzimmer saßen, den Baum in der Ecke, das Kaminfeuer brannte, der Schnee fiel um sie herum als wären sie draußen, aber sie waren drinnen, wo es warm und gemütlich war.

Himmel, war das jedes Mal schön gewesen.

Er hätte sich dieses Haus niemals von dem Geld, das er bei der Regierung verdient hatte, leisten können. Becca hätte es sich nie von ihrem Wissenschaftlergehalt leisten könne. Auch zusammen hätten sie es sich nicht leisten können. Es war das Geld ihrer Familie, das es ermöglicht hatte.

Und das war genau der Punkt. Es war egal, ob er zwei Tage die Woche arbeitete oder gar nicht arbeitete. Sie waren sicher, wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens.

Ihm kam eine dunkle Ahnung. Wenn tatsächlich ein Krieg zwischen den Großmächten ausbrach, dann grenzte es ans Unmögliche, diesen zu verhindern. Auch konnte er es einfach diesen Ausgeburten der Gewalt überlassen, es unter sich auszukämpfen. Er musste dabei gar nicht mitmachen. Vielleicht könnte er nach geraumer Zeit das Ganze sogar völlig aus seinem Kopf verbannen. Die schlimmsten Grausamkeiten widerfuhren den Menschen dort draußen, irgendwo dort weit weg.

Er nahm das Handy vom Wohnzimmertisch und wählte eine Nummer.

Die Leitungen waren jetzt frei. Die Funkmasten waren nicht mehr überlastet. Die Leute hatten aufgegeben.

Es klingelte. Beim dritten Klingeln nahm sie ab.

Ihre Stimme klang verschlafen. „H’lo?“

„Liebling?“

„Hey, Liebes“, sagte sie.

„Hallo. Was machst du gerade?“

„Oh, ich war müde, deshalb bin ich früh ins Bett gegangen. Gunner hat mich den ganzen Tag auf Trapp gehalten. Deshalb hab ich mich gleich aufs Ohr gehauen, nachdem wir aufgelegt hatten. Wie ist es gelaufen? Hast du die Rede des Präsidenten gehört?“

Luke atmete tief durch. Sie war also vor der Rede des Präsidenten zu Bett gegangen. Das hieß, dass sie noch gar keine Ahnung hatte. Er konnte sich nicht überwinden, es ihr mitzuteilen. Nicht jetzt.

„Ja. Ich war auch zu müde. Ich hab mir eine Nacht frei genommen und mich da rausgezogen. Kein Fernseher, kein Computer, nichts. Ich bin mir sicher, dass die Leute mich morgen wieder auf den neusten Stand bringen.“

„Jetzt mutmaßt du“, sagte sie.

Luke lächelte. „Okay, Liebling. Geh wieder ins Bett. Tut mir leid, dass ich dich aufgeweckt habe.“

Sie war schon fast wieder dabei einzuschlafen. „Ich liebe dich.“

Er saß für eine Weile lächelnd auf dem Sofa. Er nippte an seinem Whiskey. Es machte ihn glücklich sich vorzustellen, wie Becca und Gunner den ganzen Tag um ihn herum liefen und wie sie jetzt in dem abgeschiedenen Landhaus schliefen. Luke würde seine Pensionierung genießen, das würde er wirklich.

Aber jetzt noch nicht.

Er wählte eine andere Nummer.

Eine Stimme am anderen Ende antwortete hastig. „Wellington.“

„Trudy, ich bins Luke.“

„Luke, wo bist du? Hier spielt der Teufel verrückt.“

„Ich bin zu Hause. Wo bist du?“

„Ich bin in der Zentrale, wo zur Hölle sollte ich sonst sein? Luke, der halbe Kongress war in Mount Weather. Der Präsident, seine Berater und sein Stabschef. Die Vize-Präsidentin, der Außenminister, der Finanzminister, der Bildungsminister. Sie sind alle dort unten. Alles steht in Flammen und niemand kann irgendetwas dagegen tun. Ein Feuersturm hat die Schächte der Fahrstühle zerstört. Die Notfalltreppen wurden in die Luft gejagt. Die Feuerwehr kommt gar nicht nach unten zum Feuer durch.“

„Besteht irgendein Kontakt nach dort unten?“

Sie räusperte sich. Es klang fast wie ein Lachen. „Dem Stabschef des Präsidenten, David Halstram, ist es gelungen durchzurufen. Er hatte die 911 gewählt, ob du es glaubst oder nicht. Es gibt eine Aufzeichnung dieses Anrufs. Ich habe es vorhin gehört. Er klang panisch und hat sehr schnell gesprochen. Er sagte, dass seine Beine unter etwas lagen, er sich nicht vom Fleck bewegen könne und dass er fürchtete, dass der Präsident tot sei. Er hat auch gesagt, dass du ihn kurz davor angerufen hättest und ihm gesagt hättest den Präsidenten da raus zu holen. Er…“ Trudys Stimme zitterte… „sagte, dass er auf dich hätte hören sollen.“

Luke sagte nichts.

„Hast du ihn angerufen?“, fragte Trudy.

„Das habe ich, ja.“

„Wie hast du es wissen können? Wie hast du wissen können, was passieren würde?“

„Trudy, das kann ich dir nicht sagen.“

„Luke -“

Er schnitt ihr das Wort ab. „Hör zu, du musst etwas für mich tun. Ist der Verteidigungsminister am Leben? David Delliger?“

„Er lebt. Er ist im Flügel R.“

„Ich brauche eine direkte Leitung zu ihm, um ihn zu kontaktieren.“

„Warum er? Solltest du nicht viel eher mit dem Präsidenten sprechen?“

Luke schüttelte den Kopf. „Es gibt keinen Präsidenten.“

„Noch nicht. Aber der neue wird gerade eingeschworen… noch zehn Minuten bis dahin.“

„Wer ist es, wenn nicht Delliger? Wer lebt überhaupt noch um das Amt zu übernehmen?“

„Luke, du weißt das nicht? Bill Ryan, der Sprecher des Repräsentantenhauses.“

Luke dachte an all die Vertreter und Senatoren, die er heute Morgen in Mount Weather versammelt gesehen hatte. „Ryan? Wie hat er das überlebt?“

Trudys Stimme klang verunsichert. „Sie sagen, dass er einfach unverschämtes Glück gehabt hat. Er ist nicht nach Mount Weather gefahren.“

 

Ryan, dachte Luke entgeistert. Ein Geier unter den Geiern. Das konnte nur eines bedeuten, sie würden in den Krieg ziehen.

*

22.02 Uhr, Flügel R – Blue Ridge Summit, Pennsylvania

Es war wie ein Alptraum, aus dem er nicht aufwachen konnte.

Sein Name war David Delliger und er war der Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten. Er war durch seinen langjährigen Freund und College Mitbewohner Thomas Hayes, dem ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, zu diesem Amt gekommen.

Delligers Nominierung war eine Überraschung gewesen, in jeder Hinsicht. Er war Professor für Geschichte an der Naval Academy gewesen und hatte als Anwalt die meiste Zeit seiner Karriere als Vermittler zwischen den Parteien gearbeitet. In den Jahren bevor er das Amt angenommen hatte, hatte er das Carter Center beraten und die Wahlen in neuen Demokratien überwacht, Länder mit einer Geschichte voller despotischer Herrscher. Dieser Job war das Gegenteil von Kriegsstiftung gewesen.

Und das war der Grund gewesen, warum Hayes ihn berufen hatte. Thomas Hayes war jetzt seit einer Stunde tot. Momentan gab es keine Möglichkeit festzustellen, wer noch am Leben war und wer tot in den Trümmern, was einst die Mount Weather Einrichtung gewesen war, lag. Die Vize-Präsidentin galt als verschwunden, man vermutete, sie war tot. Die Feuer wüteten noch immer auf mehreren Etagen tief dort unten. Hunderte Menschen waren dort eingeschlossen, viele Kongressabgeordnete unter ihnen und auch einige Familienmitglieder.

Delliger stand in einem tief unter der Erde liegenden Raum aus Zement, der vierzig Kilometer vom Ort der Katastrophe entfernt war. Etwa dreißig weitere Leute waren mit ihm in dem Raum. Ein blauer Vorhang war an einer der Zementwände angebracht worden, um die Hässlichkeit des Raumes wenigstens ein wenig zu verbergen. Zwei Männer und eine Frau standen auf einem kleinen Podium. Fotografen machten Fotos von ihnen.

Einer der beiden Männer war klein und glatzköpfig. Er trug ein langes Gewand. Es war Clarence Warren der Präsident des obstersten Gerichtshofes. Die Frau war Karen Ryan. Sie trug einen hellblauen Anzug und eine rote Rose an ihrem Revers. Eine offene Bibel lag in ihren Händen. Ein großer, gutaussehender Mann in dunkelblauem Anzug und Krawatte stand neben ihr, seine linke Hand ruhte auf der Bibel. Seine rechte Hand hielt er in die Höhe. Bis zu diesem Moment war der Mann Repräsentant North Carolinas und Sprecher des Repräsentantenhauses gewesen.

„Ich, William Theodore Ryan“, sagte er, „schwöre feierlich, dass ich das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten getreulich ausführen…“

„Und die Verfassung der Vereinigten Staaten“, soufflierte Richter Warren.

„Und die Verfassung der Vereinigten Staaten“, sagte Ryan.

„Nach besten Kräften wahren, schützen und verteidigen werde.“

Ryan wiederholte die Worte und wurde dabei mit einer zeremoniellen Feierlichkeit zum Präsidenten der Vereinigten Staaten vereidigt, die eher an die Mitgliedschaftsverleihung eines Wandervereins erinnerte. Delliger befand sich nahezu im Schockzustand. Ja, sein Freund war gerade getötet worden. Thomas Hayes war ein großartiger Mensch gewesen und sein Verlust war nicht nur für Delliger selbst, sondern vor allem für das gesamte amerikanische Volk eine Tragödie.

Doch schlimmer noch hatte gerade einer der ärgsten Feinde des Präsidenten seinen Job übernommen. Der selbe Mann, der noch heute Morgen dem Präsidenten mit einem Amtsenthebungsverfahren gedroht hatte, war gerade selbst zum Präsidenten ernannt worden.

Es ergab keinen Sinn. Wie konnten nur sowohl das Weiße Haus als auch Mount Weather an ein und dem selben Tag zerstört werden? Warum waren der Präsident und die Vize-Präsidentin in die selbe Einrichtung evakuiert worden? Sie hätten getrennt werden sollen sobald dem Geheimdienst aufgegangen war, dass sie beide zusammen dort waren.

Delliger sah, wie Ryan und seine Frau Karen sich flüchtig küssten. Dann zog Ryan für einen kurzen Moment eine Grimasse für die Kameras und verschiedene Leute im Raum lachten. Delliger schaute sich nach den Leuten um, die dort gelacht hatten. Er erkannte viele der Diensthabenden. Es waren die fanatischsten Kriegstreiber der Regierung. Mitglieder des Vereinigten Generalstabs. Der Direktor der CIA. Kongressabgeordnete mit engen Verbindungen zur Kriegsindustrie. Lobbyisten der Rüstungsindustrie und der Ölindustrie.

Wie waren gerade sie alle hier gelandet? Nein, die eigentliche Frage war, wieso war er hier mitten unter ihnen gelandet? Er war ein Fremder für sie, ein Outsider. Er war Verteidigungsminister, aber er war von einer Taube in dieses Amt befördert worden, von einem Mann, der alles in seiner Macht befindliche dafür tat einen Krieg zu vermeiden. Ein Mann, der jetzt tot war.

Das hier war ein Militärbunker. Diese Leute fühlten sich hier zu Hause. David Delliger hätte sich trotz seiner eigenen militärischen Laufbahn in einem zivilen Bunker mehr zu Hause gefühlt, aber dieser Bunker…

… war gerade zerstört worden.

Ein seltsames Gefühl überkam Delliger. Für einen Moment erschienen ihm die Gesichter der Menschen in der Menge verzerrt, so wie die Gesichter in einem Gruselkabinett. Alle grinsten sie. Die größte aller Katastrophen in der amerikanischen Geschichte hatte sich vor gerade einmal einer Stunde zugetragen, und hier lachten die Menschen. Warum sollten sie auch nicht? Sie saßen jetzt an den Schalthebeln der Macht.

Delliger blickte sich erneut im Raum um. Niemand achtete auf ihn. Warum auch? Er war Verteidigungsminister eines toten Präsidenten. Er war ein Witz für sie, Teil eines Regimes, das ausgelöscht worden war.

Auf dem Podium war Ryan wieder ernst geworden. Er blickte in die Menge.

„Niemand will in das Amt des Präsidenten so gelangen wie ich es heute bin. Aber ich werde hier heute nicht stehen und so tun als würde ich den Job nicht wollen. Ich wollte ihn und will ihn noch immer. Ich will ihn, weil ich Amerika wieder groß machen will. Thomas Hayes war ein großartiger Mann in vielerlei Hinsicht, aber er war auch ein schwacher Mann. Er konnte unseren Feinden nicht die Stirn bieten und dafür hat er einen bitteren Preis bezahlt. Diese Art politischer Entscheidungen, Entscheidungen aus der Schwäche geboren, sie werden jetzt aufhören.“

Jubel ging durch die Menge. Jemand lies einen langen Pfiff los. Das Klatschen hielt eine Weile an. Ryan gebot mit seinen Händen Ruhe.

„Heute Abend werde ich mich an das amerikanische Volk richten und darüber hinaus an die Menschen in der ganzen Welt. Das, was ich ihnen sagen werde, wird denjenigen Hoffnung und Mut geben, die durch die Ereignisse des heutigen Tages und der letzten Monate in Angst und Schrecken versetzt worden sind. Ich werde ihnen sagen, dass wir in den Krieg ziehen werden, dass wir eine Offensive starten werden und dass wir nicht eher aufhören werden bis wir die Verantwortlichen für die Grausamkeiten des heutigen Tages in die Knie gezwungen haben. Und auch dann werden wir noch nicht aufhören. Wir werden nicht aufhören bis ihre Paläste und Tore in Flammen stehen und ihre Bevölkerung schreiend auf den Straßen umherirrt. Und auch dann werden wir noch nicht aufhören.“

Der Jubel war jetzt so laut, dass Ryan aufhören musste zu sprechen. Es war zwecklos weiterzureden. Niemand hätte ihn gehört.

Er wartete. Langsam beruhigte sich die Menge wieder. Ryan starrte zu Delliger hinüber.

„Wir werden unsere Verluste rächen“, sagte er. „Und wir werden die rächen, die wir lieben. Und wir werden erst aufhören, wenn Iran nie wieder in der Lage sein wird, seine Macht in der Welt geltend zu machen. Wir werden erst dann aufhören, wenn sie nicht mehr in der Lage sein werden, sich selbst zu ernähren und sie auf unsere Nahrungs- und unsere Kleidungsspenden angewiesen sind. Dann erst wird eine Zeit des Trauerns und des Erinnerns kommen. Aber noch nicht jetzt. Jetzt ist die Zeit der Rache angebrochen!“

Wieder jubelte die Masse, Delligers Handy vibrierte in seiner Hosentasche. Er zog es heraus und blickte darauf. Es war eine Textnachricht. Das war sein Privathandy. Er bekam nur äußerst selten Nachrichten. Er öffnete sie.

Mein Name ist Luke Stone. Ich weiß, warum der Präsident sterben musste. Treffen Sie mich!