Read the book: «Gegenwindschiff», page 5

Font:

›Sind die Kinder noch nicht gekommen?‹

Frau Knechtel sagte, nein, noch keine Kinder. Ja, ja, ausgerechnet Kinder. Bei dem eingefleischten Junggesellen Schmidt, bei dem Astro-Optiker Schmidt verkehrten Kinder! Da haben Sie eine fromme Szene, wie sie im Buche steht: Lasset die Kindlein zu mir kommen; denn solcher ist der Sternenhimmel – oder so ähnlich, nicht wahr? Ein wenig modifiziert – Sternenhimmel pro Himmelreich – das ist auch für Sie hinnehmbar, oder? Wie dem auch sei …« Herr Kelter verzeiht mir väterlich meine Kleinlichkeit in der Frage des Himmelreichs sowie meine übermäßige Sympathie für Schmidt, füllt unsere Gläser mit Wermut auf und fährt fort:

»Nun gut. Wir betraten Schmidts Zimmer. Es war erwartungsgemäß. Recht geräumig, aber natürlich spärlich möbliert. Und das muss ich sagen: Für einen Präzisionsarbeiter unglaublich unordentlich. Und wenn Sie vermuten, dass das Zuhause eines Mannes, dessen Arbeitszimmer nur fünf Minuten entfernt liegt, sich deutlich von selbigem unterscheidet, nicht unbedingt hinsichtlich seiner Ausstattung, sondern seiner Funktion, in dem Sinne, dass das Arbeitszimmer für die Arbeit, das Zuhause aber für Erholung und Gemütlichkeit gedacht ist, dann täuschen Sie sich gehörig. Was Schmidt betrifft jedenfalls. Sein Wohnzimmer war fast genauso sehr ein Arbeitszimmer wie sein Kegelkeller. Nur gab es dort keine Drehbank, keine Apparate und kein Regal mit Poliergläsern. Sondern bloß kahle, mit Entwürfen übersäte Wände, einen Zeichentisch und sogar eine Reihe auseinandergenommener Amateurteleskope und deren Teile, einen Tisch voller verstreuter Stapel aus Büchern, Skizzen, Zeichnungen und Berechnungen, und in der Mitte all dessen einen großen, recht abgewetzten Plüschsessel. Sowie ein von einem Paravent abgeschirmtes Bett.

Wenn ich mich recht erinnere, hat uns Schmidt zunächst keinen Platz angeboten. Er zog aus irgendeiner Schublade ein weißes Blatt Papier hervor, drückte es mit dem Stumpf seines rechten Arms gegen den Tisch und fertigte mit der linken Hand blitzschnell eine Skizze seines Uranostats an. Dann begann er, meinem Vater die Konstruktion von dessen Rotationsvorrichtung zu erklären. Ich folgte den Ausführungen zwischen den beiden stehend, denn ich wusste durch Vater über die kleinen Sensationen in diesem Bereich Bescheid – aber ein paar Spezialisten hatten geschrieben, dass es sich dabei um ein außergewöhnliches und unglaublich präzises Gerät handeln solle. Das Problem war in etwa folgendes: Ein Teleskop muss während des Beobachtens in Einklang mit dem Sternenhimmel rotieren. Der Himmel rotiert absolut gleichmäßig. Aber es ist verdammt schwer, ein Teleskop mit absolut gleichmäßiger Geschwindigkeit rotieren zu lassen. Das Objekt gerät früher oder später immer aus dem Fokus. Schmidts Uranostat löste das Problem auf lächerlich einfache Weise und erreichte eine praktisch absolute Gleichmäßigkeit hinsichtlich der Rotation des Teleskops.

›Und welches Prinzip haben Sie dafür gefunden?‹, fragte Vater.

›Ein Wasserreservoir mit Durchlauf‹, sagte Schmidt. ›Wenn der Wasserstand sich verändert, verändert sich die Geschwindigkeit. Wenn der Wasserstand gleich bleibt, bleibt auch die Drehung gleich. Das ist sehr einfach zu bauen.«

›Und diese Idee haben Sie tatsächlich‹, Vater hüstelte, ›wie man sich erzählt …‹

›Ja‹, sagte Schmidt, ›vom Spülkasten der Toilette.‹

Schmidt erklärte Vater, wie er mit seinem Apparat die Erdrotation und die daraus resultierende Eigenbewegung eines Objekts bestimmte, aber mir fiel auf, dass Vater ihm nicht mehr mit voller Aufmerksamkeit zuhörte. Dann verstummte Schmidt und Vater dankte ihm nochmals, wie er sagte, für den lehrreichen kleinen Vortrag, und dann fiel Schmidt auf, dass er seinen Gästen gar keinen Platz angeboten hatte. Er zeigte Vater den Sessel und holte hinter dem Paravent einen Hocker hervor, den er mir anbot, ehe ich einen anderen Hocker fand und ihm den ersten überließ. Wir saßen nun am mehr oder weniger leeren Ende des Tischs, und Vater stellte mit der selbstverständlichsten Miene die Flasche Korn auf den Tisch.

›Ich habe gesehen, dass das Ihre Marke ist. Könnten wir von Ihrer Wirtin vielleicht ein Tässchen Kaffee bekommen?‹

Ich erinnere mich: Schmidt war amüsanterweise einen Moment lang verlegen wie ein Kind. Er stammelte, dass die Dienstleistungen seiner Vermieterin nicht Bestandteil seines Mietvertrags seien und er diese bislang nicht beansprucht habe. Jedenfalls stand er widerwillig auf. Er wollte, oder vielmehr wollte er nicht zu ihr gehen, um sie nach Kaffee zu fragen. Aber Vater hielt ihn davon ab, das Zimmer zu verlassen, und sagte stattdessen:

›Herr Schmidt, wenn Sie erlauben, kümmere ich mich darum.‹

Vater ging in den Flur, und wir hörten durch den Türspalt, wie er mit der Wirtin sprach. Etwas, das in solchen Situationen wirkt. Dass er Professor Soundso aus Berlin sei. Dass er bereits am Nachmittag das Vergnügen gehabt habe, mit der Dame zu sprechen. Dass Herr Schmidt ein junger Kollege von ihm sei und ein sehr angesehener Mann. Und er, der Professor, wäre Frau Knechtel zutiefst dankbar, wenn sie Herrn Schmidt und seinen beiden Gästen ein Kännchen ordentlichen, starken Kaffee kochen würde. ›Nein-nein-nein, bitte nehmen Sie!‹ Offenbar hatte er der Dame ein wenig Geld in die Hand gedrückt. Und ob die Dame zusammen mit der Kanne vielleicht drei Tassen und drei Cognacgläser mit in Schmidts Zimmer bringen könne. ›Sie kennen doch Herrn Schmidt, Werteste. Er ist zu bescheiden. Er hat sich nicht getraut, selbst zu fragen.‹«

»Ich erinnere mich nicht«, fuhr Herr Kelter fort, »worüber die nächste Viertelstunde gesprochen wurde. Dann brachte Frau Knechtel jedenfalls auf einem Tablett die Kaffeekanne herein. Nebenbei bemerkt höchst erfreut und ergeben mit dem Hinterteil wackelnd.

Als sie gegangen war, öffnete Vater die Flasche und goss uns eigenhändig die Gläser voll. Nun, er ergänzte dies um ein paar angemessene Worte der Freude darüber, Schmidt kennengelernt zu haben, und beide tranken ihre Gläser leer. Aufgrund der Gegenwart meines Vaters befeuchtete ich mir nur die Lippen. Zu der Zeit war dies in guten Kreisen das Einzige, was ein Junge mit zwanzig Jahren tun konnte. Während Vater die Gläser wieder auffüllte, sagte Schmidt, dass er sich heute ausnahmsweise ein zweites Gläschen erlauben könne. Wie sich herausstellte, hatte er am Morgen desselben Tages dem Berliner Patentamt etwas geschickt, das rein gar nichts mit Astronomie zu tun gehabt habe – den Entwurf eines neuartigen Windmotors für Schiffe. Vater äußerte, dass Flettner bereits etwas Ähnliches gebaut habe, doch Schmidt verkündete äußerst selbstbewusst, dass sein Motor von Grund auf anders sei und deutlich besser als der von Flettner. Ich erinnere mich, wie er sagte, dass Prandtl persönlich der Konstruktion ein glänzendes Zeugnis ausgestellt habe. Aber er fügte beinahe grinsend hinzu:

›Das Patent werde ich natürlich nicht bekommen. Es ist bereits mein achter Versuch, bislang …‹«

Herr Kelter kehrt aus seinen Erinnerungen zurück ins Jetzt und erklärt: »Vielleicht haben Sie herausgefunden, wofür er diese Patente einholen wollte. Ich weiß es jedenfalls nicht genau. Über eines hatte er jedenfalls Verhandlungen mit Junkers geführt: ein Teleobjektiv für Kartierungsflüge. Ein anderes war offenbar ein Gastroskop, ein elastisches Instrument für Mediziner. Der Patient müsste es herunterschlucken, damit der Arzt ins Innere des Magens sehen könnte. Das dritte war eine Art Präzisionsschraube. Das vierte natürlich sein Uranostat. Das fünfte – nun, ich weiß gar nicht, ob er dafür überhaupt ein Patent beantragt hatte. Wohl kaum. Es war sein, wie soll ich sagen, Wohnungsperiskop. Aber nicht zum Durchs-Dach-Spähen, sondern um durch den Boden zu schauen. Nein, nein, nein, nicht für den Polizeigebrauch, haha. Sein Verhältnis zur Polizei war eher schlecht. Das Periskop hatte ein gewiefter Bauer aus Frankenau bei ihm bestellt, der vom Schwarzbrennen reich geworden war. Aus irgendeinem seltsamen Grund lebte er unter dem Dach seines Kuhstalls. Schmidts Apparat erhöhte ein Stück weit seinen Komfort. Er schaltete nachts in seinem Zimmer über dem Stall die Lichter ein und schaute durch den Apparat, der auf dem Nachttisch stand, richtete das Periskop links und rechts auf den Stall und sah alle zwanzig Kühe, wie sie kauten, schliefen, auf der Seite lagen und kalbten, ein vollständiger Überblick, ohne dass sich der Landwirt aus dem Bett hätte erheben müssen. Abgesehen von dem Uranostat handelte es sich dabei vermutlich um das einzige von Schmidt nach dem Krieg gefertigte Gerät, für das er Geld bekommen hatte. Und aus Verbitterung sagte er:

›Ich befürchte, selbst wenn ich für meinen Windmotor ein Patent bekomme, werden die Einnahmen ebenso mager sein wie bei den anderen sieben, für die ich keines bekommen habe. Denn dafür gibt es auch nicht mehr Käufer als für meinen astronomischen Kram.‹

Vater reminiszierte: ›Ja, Herr Schmidt, Ihre Erfahrung ist exakt die gleiche, die ich in jungen Jahren machen musste: ein Erfinder, der die Unabhängigkeit mehr braucht als alles andere, ist auf lächerlichste Weise abhängig von Zufällen. Das ist tragisch. Ich weiß.‹

Schmidt sah Vater lange und, wie mir schien, beinahe verdutzt in die Augen, steckte sich eine Zigarre an und sagte:

›Ich erwäge jedenfalls ernsthaft, ob ich nicht mein ganzes Gerümpel auf dem Flohmarkt verscherbeln und ein neues Leben beginnen soll.‹

Mich hätte interessiert, wie dieses neue Leben hätte aussehen können (und auch für den Autor wäre dies eine wertvolle Information gewesen), aber wenn ich mich recht erinnere, blieb das unausgesprochen. Denn Vater sagte plötzlich: ›Herr Schmidt, ich habe einen Vorschlag für Sie. Arbeiten Sie doch für die Firma Kelter.‹«

Herr Kelter junior nimmt eine Mandel aus der Kristallschale auf dem Tisch, die erste während unseres Gesprächs, und steckt sie sich in den Mund:

»Vaters Vorschlag kam für mich völlig unerwartet und deshalb kann ich mich sehr gut an den Moment erinnern. Ich war ja der zukünftige Chef der Firma. Und ich erinnere mich, dass mich der Gedanke an Schmidt im Dienste der Firma störte. Nicht etwa, weil er eine zu große Autorität gewesen wäre, wie Sie vielleicht annehmen. Sondern schlichtweg deshalb, weil ich seine Eigensinnigkeit spürte. Und natürlich hatte er im Bereich der Optik mehr erreicht als ich zu der Zeit. Also war mir eine gewisse Rivalität nicht ganz fremd. Ich erinnere mich, dass Schmidt auf Vaters Vorschlag hin den Arm in die Luft streckte, so wie zuvor, als er Vaters Einladung zum Abendessen ablehnte, oder als ob er mit seinen fünf Fingern die Aufmerksamkeit auf etwas richten wollte – und genau in diesem Moment klopfte Frau Knechtel an die Tür und gab Bescheid, dass die Kinder nun gekommen seien.

Hinter der Dame standen drei oder vier kleine Rotzlöffel, wissen Sie, ungestüme Grundschüler zwischen zehn und zwölf, zudem noch schlecht erzogen … Statt infolge der Mitteilung der Hausdame – Herr Schmidt hat Gäste aus Berlin! – still zu verschwinden, verlangten sie, mit Onkel Bernhard zu sprechen: Sie hätten eine Verabredung mit Onkel Bernhard. Und Onkel Bernhard ging ihnen beileibe nicht mit gutem Beispiel voran. Statt die Kinder nach Hause zu schicken, sich bei uns zu entschuldigen und Vaters äußerst ernstzunehmenden Vorschlag abzuwägen, rief er die Kinder hinein und entschuldigte sich fast schon bei ihnen, verstehen Sie: Seht her, Jungens, ich habe gerade Gäste, aber wir klären unsere Sache trotzdem.

Wie sich herausstellte, organisierte Schmidt für Schulkinder aus Mittweida und Umgebung ›Einführungen in die Sternkunde‹. Und nebenbei – nicht gegen Bezahlung, sondern ›um ihre Kenntnis der Astronomie‹ zu verbessern. Also genau wie ich sagte: Lasset die Kindlein zu mir zu kommen, zum astronomischen Christus unseres Jahrhunderts.

Er vereinbarte mit seinen Jüngern, dass sie sich um zehn Uhr versammeln würden – beachten Sie, es war schon nach halb neun, somit gab er meinem Vater und dessen Vorschlag (von mir ganz zu schweigen) etwas über eine Stunde Zeit. Die Jünger sollten um zehn Uhr zusammenkommen – nein, nicht im Garten von Gethsemane, sondern am Tor zu Hetzgers Garten. Er würde ihnen dort die Ringe des Saturn zeigen. Wenn ich mich richtig erinnere.

Und als diese kleine oder im Grunde recht große Unverschämtheit vorüber war, die Jungen gingen und Vater auf seinen Vorschlag zurückkam – denn er war beharrlich, und hatte er sich etwas in den Kopf gesetzt, kam er darauf zurück –, erhielt er immer noch keine Antwort. Denn genau in dem Moment marschierte Schmidts Fräulein klopfenderweise, aber ohne eine Reaktion abzuwarten, herein.«

»Oh!«, ich kann einen Aufschrei nicht unterdrücken, »Sie sind also Johanna begegnet! Was für ein Geschenk, dass ich jetzt hören darf, welchen Eindruck Sie von ihr hatten …«

»Ich weiß nicht recht«, sagt Herr Kelter, »welche Rolle diese Frau in Schmidts Leben gespielt hatte. Wir hörten – oder vielmehr wir hatten gehört –, dass Schmidt während seiner ersten Jahre in Mittweida trotz seiner Behinderung ein ziemlicher Schürzenjäger war. Ob trotz oder gerade wegen seiner Behinderung werden wir nie genau erfahren. Später und auch zu der Zeit, als Vater und ich Mittweida besuchten, war die junge Dame offenbar seine nichteheliche Frau. An ihren Familiennamen erinnere ich mich leider nicht«, Herr Kelter lächelt entschuldigend, »Herr Schmidt hat uns ihre Adresse nicht geschickt und im Firmenarchiv ist sie auch nicht. Welchen Eindruck ich von ihr hatte? Nun, eine kurvige Brünette mit rosigen Wangen. Damals war sie vielleicht fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahre alt. Und ein bisschen zu groß für Schmidt. Fast so groß wie er. Für damalige Verhältnisse ungewöhnlich groß. Heute würde sie damit in keiner Basketballmannschaft aufgenommen werden. Ein nettes, lebhaftes Mädchen, das ein billiges blaues Kostüm und etwas abgelaufene Straßenschuhe trug. Mit niedrigen Absätzen, sicher wegen Schmidt. Aber an sich würde ich sagen: eine ganz und gar gewöhnliche Frau. Eine Tippse aus der Kommunalverwaltung oder so was. Wissen Sie, viele außergewöhnliche Männer hatten ganz gewöhnliche Frauen.«

Herr Kelter sieht mir in die Augen. Er verfolgt meinen Gesichtsausdruck wie ein triumphierender alter Fuchs und reckt lehrerhaft einen Finger in die Luft. »Nein, nein, schließen Sie daraus nicht, dass ich mit Fräulein Johannas Gewöhnlichkeit Schmidts Außergewöhnlichkeit verstärken möchte. Viele außergewöhnliche Männer hatten gewöhnliche Frauen – aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Der andere Teil ist, dass wirklich auch nahezu alle gewöhnlichen Männer gewöhnliche Frauen haben. Wie dem auch sei. Ich erinnere mich nicht mehr, weshalb Johanna vorbeikam. Ich meine, dass sie Schmidt sein Abendessen brachte, irgendeine Kohlsuppe oder dergleichen. Wichtiger ist vielleicht mein Eindruck, wie sich Schmidt ihr gegenüber verhielt. Nein, nein, ganz normal natürlich. Er stellte uns sogar vor. Aber während Johannas halbstündiger Anwesenheit hatte Schmidts Verhalten etwas jungenhaft Ungehaltenes. Er schämte sich vor uns Fremden wie ein Dreikäsehoch über Johannas Erscheinen und gleichzeitig schien er über ihr Kommen eine, wie soll ich sagen, mit Unzufriedenheit vermischte Freude zu spüren. Wobei das Mädchen ihn, so schien mir, mit mütterlichem Stolz behandelte, einem besorgten mütterlichen Stolz. Wie ein schlaues Kind. Das die Mutter natürlich für außergewöhnlich schlau hält. Wie alle Mütter. Johanna trank mit uns eine Tasse Kaffee, doch Schnaps lehnte sie ab. Ja, mir kam es vor, als hätte Schmidt beim Erscheinen der Schulkinder ein wenig vor uns geprahlt, ohne Worte, selbstverständlich. Aber Johanna verunsicherte ihn irgendwie. Während die junge Frau selbst damit prahlte – recht dezent, muss ich sagen, aber dennoch –, wie zu Hause sie sich bei ihrem Schmidt fühlt und überhaupt wie wohl mit ihm. Trotz aller vermeintlicher Feinfühligkeit wirkte das, so erinnere ich mich, ein klein wenig sentimental. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen. Aber all das war nur ein flüchtiger Eindruck. Den ich im Gespräch mit Ihnen aufgewärmt habe. Dann ging die junge Frau ihres Weges und ich sah sie nie wieder. Und einige Jahre später verschwand sie auch aus Schmidts Leben, soviel ich weiß, als Schmidt zunächst vorübergehend und schließlich dauerhaft nach Hamburg zog. Nun ja. Dann waren wir wieder zu dritt in Schmidts Mittweida-Zimmer und Vater kam ein zweites Mal auf seinen Vorschlag zurück:

›Herr Schmidt, ich warte immer noch auf Ihre Antwort.‹

Die Verzögerungen hatten Schmidt Zeit gegeben, seine Antwort abzuwägen, sodass er augenblicklich die Karten auf den Tisch legte. Nebenbei hatte ich den Eindruck, dass er auch sonst ein wortkarger Mensch war, vielleicht nicht so wortkarg, wie der Mythos es will, aber seine Worte waren wohl formuliert und äußerst schnell ausgesprochen. Er sagte:

›Ich stimme unter einer Bedingung zu. Die Firma bezahlt mir zweihundert Mark im Monat …‹

Vater unterbrach ihn: ›Zweihundertfünfzig.‹ Woraus ich überrascht schlussfolgerte, wie sehr er daran interessiert war, Schmidt für sich zu gewinnen. Schmidt wiederholte:

›Zweihundert Mark, aber mit dem Status eines freiwilligen Mitarbeiters. Die Firma stellt keine konkreten Anforderungen an mich.‹

›Wie habe ich das zu verstehen?‹, wunderte mein Vater sich. ›Das wäre ja recht ungewöhnlich. Solche freiwilligen Mitarbeiter, wie Sie sagen, gibt es in meiner Firma nicht. Sie bekommen zweihundertfünfzig Mark im Monat und einen Posten als Junioringenieur. Und wenn Sie eingearbeitet sind, die Aussicht auf eine Stelle als Senioringenieur und dreihundert Mark im Monat. Ungeachtet dessen, dass Ihr Ingenieursdiplom lediglich vom Technikum in Mittweida ausgestellt wurde.‹

›Nein‹, sagte Schmidt, ›ich werde in keiner Weise Verantwortung für die Produkte von Kelter übernehmen.‹

›Warum?! Sind die Produkte von Kelter Ihnen nicht gut genug?!‹, fragte Vater schockiert.

›Wollen Sie das wirklich wissen?‹, fragte Schmidt zurück.

›Unbedingt will ich das wissen!‹, rief mein Vater, ohne sich provozieren zu lassen.

Schmidt sagte: ›Nun gut. Wenn es um mechanische Schliffe geht, gehört Kelter zu den besten Firmen. Aber alle Firmen mit ihren Michels und anderen Bänken sind in Hinblick auf Feinschliffe Graupenmühlen. Ich wäre bereit, mit Ihnen Folgendes zu vereinbaren: Ich arbeite weiterhin selbständig. Aber im Laufe eines Jahres würde ich mir von Ihren Aufträgen ein bis zwei angemessene Dinge aussuchen und erledigen. Unter dem Markennamen Bernhard Schmidt bei Kelter. Und dafür bezahlen Sie mir zweihundert Mark im Monat.‹

Vater schrie auf: ›Das heißt ohne jegliche Verpflichtungen Ihrerseits und ohne Kontrolle seitens der Firma?!‹

Schmidt sagte: ›Mit dem nötigen Vertrauen beider Seiten.‹

Mein Vater schwieg und verkniff sich, Schmidt zur Hölle zu schicken und lachte:

›Herr Schmidt – normale Verpflichtungen, Disziplin, ein Arbeitstag mit acht Stunden. Als Markenname Kelter. Aber der Titel Chefkonstrukteur und vierhundert Mark im Monat.‹

Ich sah, wie Vater mit der Zunge winzige Schweißtropfen vom Rand seiner Oberlippe leckte und Schmidt mit verengten Augen ansah.

Schmidt schüttelte den Kopf. Und wissen Sie, mir scheint, dass dieser Flegel die Situation genoss. Als ich vor unserer Fahrt auf Geheiß meines Vaters ein paar Informationen über Schmidt sammelte, erzählte man mir, dass er vor dem Krieg sonntags hin und wieder nach Dresden gefahren sei, um auf Pferde zu wetten. Vor dem Krieg hatte er manchmal Geld übrig. Kurz gesagt musste er tief in sich eine Spielernatur sein. Und da kam es mir augenblicklich vor, als zuckte in seinem kleinen roten Schnauzer eine Art wilde Spielfreude auf. Umso mehr stieg mein Vater auf das Spiel ein:

›Fünfhundert Mark im Monat!‹

Schmidt schüttelte den Kopf. Ich trat meinem Vater unter dem Tisch auf den Fuß. Er befreite seinen Fuß und schob meinen davon. Vielleicht hatte ich geahnt, dass in ihm die Möglichkeiten zu derartigen elementaren Impulsen, sich selbst zur Geltung zu verhelfen, stecken, aber nie zuvor hatte ich so etwas erlebt. Vater rief:

›Verdammt nochmal – was denken Sie eigentlich, wie viel Sie wert sind?‹ Und als ich versuchte, ihn am Ärmel zu zupfen, brüllte er mich an: ›Nein! Versuch nicht, mich zu belehren! Ich will ein für alle Mal wissen, was dieser junge Mann (beachten Sie, dass er Schmidt in seiner Wut als jungen Mann bezeichnete) von sich hält. Sechshundert!‹

Schmidt schüttelte den Kopf. Und Vater rief: ›Neunhundert!‹

Vielleicht kann der Herr Schriftsteller einen feinen psychologischen Grund finden, weshalb mein Vater zwei Hunderterschritte übersprang, aber nicht bis Tausend ging. Ich war mir sicher, dass Schmidt zum fünften Mal den Kopf schütteln würde. So sicher, dass ich nicht einmal zu ihm sah. Ich betrachtete nur peinlich berührt Vaters rot angelaufenes und verschwitztes Gesicht. Er litt schon damals unter starkem Bluthochdruck. Und dann, stellen Sie sich vor, sagte Schmidt plötzlich ganz ruhig, aber äußerst vorsichtig:

›Einverstanden.‹

Ich dachte mir: Setzt dieser verdammte Flegel in allem Ernst darauf, dass Vater ein preußischer Ehrenmann alter Schule ist, der sein Wort hält? Er konnte davon ausgegangen sein, dass Vater aus einem Anflug von Wahnsinn sein Wort halten würde. Und nicht einmal ich wusste es – vielleicht würde Vater sich daran halten –, und in diesem Fall wäre Schmidt wirklich ein Schurke gewesen. Aber nein. Zu meiner Freude erwies sich mein Vater als etwas flexibler, als ich befürchtet hatte. Wissen Sie, seine Erfahrungen in Amerika haben ihm sehr geholfen. Er blieb nur drei oder vier Sekunden stumm. Dann brach er in Gelächter aus und sagte, mit beinahe gefasster Stimme:

›Hören Sie, Schmidt.‹ Er sagte: Hören Sie, Schmidt. Er hatte das Herr vergessen. Daran wurde auf verblüffende Weise deutlich, wie sehr er sich darüber ärgerte, dass er im Namen der Vernunft zu diesem Selbstbetrug gezwungen war. ›Hören Sie, Schmidt. Sie haben doch nicht wirklich geglaubt, dass mein Angebot ernst gemeint war?! Hahaha!?‹

Und ich muss sagen, Schmidt war nicht blöd. Er erwiderte mit einem trockenen Lachen:

›Nein, Professor. Sie dachten doch nicht wirklich, dass ich Ihr Angebot ernsthaft annehmen würde?! Dass Sie meine Unabhängigkeit erkaufen könnten – für neunhundert Mark im Monat?!‹«

»Nebenbei«, ergänzt Doktor Kelter, »beachten Sie Folgendes: Er hielt es nicht für nötig hinzuzufügen, dass es natürlich eine Schweinerei ohnegleichen gewesen wäre, neunhundert Mark im Monat einzustecken – sofern mein Vater sich wirklich darauf eingelassen hätte. Aber Schmidt sagte offenbar die Wahrheit, als er bestätigte, dass er das Angebot meines Vaters nicht ernsthaft in Betracht gezogen hatte. Er hatte es womöglich gesagt, weil er wissen wollte, wie mein Vater reagieren würde. Aber mein Vater, dieser gutherzige alte Narr, flunkerte natürlich. Als er sagte, sein Angebot sei ein Scherz gewesen. Denn zumindest in dem Moment, in dem er neunhundert Mark herausbrüllte, war er bereit, Schmidt die Summe zu bezahlen.«

»Nun«, Doktor Kelter trinkt Wermut auf seine Mandel. »Wie ich mich erinnere, tranken wir danach keinen Schnaps mehr. Vater blickte auf die Uhr und erklärte das Gespräch für beendet, Herr Schmidt könne nun los zu seinen Jüngern. Schmidt war damit unhöflicherweise augenblicklich einverstanden, und wir verabschiedeten uns voneinander. Noch am selben Abend fuhren wir zurück nach Berlin, und ich sah Schmidt mehr als zehn Jahre nicht mehr.«

Ich sage: »Aber dann trafen Sie ihn noch einmal in Bergedorf?«

»Ja, einige Monate vor seinem Tod.«

»Und wann kann ich Ihre Eindrücke von dieser Begegnung hören?«

»Hmm. Rufen Sie mich nächste Woche an.«

»Vorab noch eines: Zu dieser Zeit hatte er ja schon längst sein komafreies Teleskop erfunden. Sagen Sie: Müssen Sie in Anbetracht dieser Erfindung nicht zugeben, dass er ein Genie war

»Großer Gott«, rief Doktor Kelter ein wenig eitel, »warum belästigen Sie mich schon wieder mit diesem Wort?! Nun gut. Ich gebe zu: Er war genial. Sagen wir in seinem Fall nicht in dem Sinn wie ein blindes Huhn, das ein Korn findet, sondern wie ein einäugiger Hahn, der pickt und pickt und pickt, bis er einen Diamanten findet. Hahahahaa …«

$16.64