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Die Schlucht

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Seine Nerven erschlafften, er konnte nicht essen noch schlafen. Die bloße Drohung des Direktors empfand er als Beleidigung, und es schien ihm, daß, wenn sie wirklich zur Ausführung gelangen sollte, alles Gute in ihm vernichtet, sein Leben häßlich und arm und er selbst zum verachteten, verlassenen Bettler werden würde.

Zufällig nahm damals gerade der Religionslehrer die Geschichte des armen Hiob durch, der, von allen verlassen, als elender Kranker auf dem Düngerhaufen saß . . .

Raiski brach in Tränen aus bei der Erzählung, und die anderen schalten ihn einen Waschlappen. Drei Tage lang, bis zum Sonntag, ging er einsam und düster umher, daß er kaum wiederzuerkennen war, und als die Kameraden ihn fragten, was ihm fehle, sprach er nicht ein Wort.

Am Sonntag fuhr er dann nach Hause und fand im Bücherschrank das »Befreite Jerusalem« in Moskotilnikows Übersetzung. Er vergaß den Direktor und seine Drohungen über dem Buche, rührte sich den ganzen Tag nicht vom Diwan, aß hastig zu Mittag und las weiter, bis es längst dunkel war. Am Montagmorgen nahm er das Buch in die Schule mit, las es heimlich voll Gier und Hast zu Ende und erzählte dann vierzehn Tage lang bald diesem, bald jenem den Inhalt.

Er träumte Nacht für Nacht von fernen Ländern und fremden Menschen, er sah die steinigen Wüsten Palästinas in ihrer dürren, traurigen Schönheit, sah den schimmernden Sand und fühlte die glühende Hitze und bewunderte die Menschen, die ein so hartes, tapferes Leben führten und so leicht starben!

Er sehnte sich förmlich danach, in diesen steinigen Wüsten umherzuziehen, Sarazenen zu töten, Hunger und Durst zu ertragen und zu sterben, einzig nur damit man sähe, daß er zu sterben wisse. Ganze Nächte brachte er schlaflos zu, als er von Armida las, wie sie die Ritter, selbst einen Rinaldo, bezauberte.

»Wie mag sie nur ausgesehen haben?« dachte er – und er stellte sie sich bald so vor wie seine Tante Warwara Nikolajewna, die immer den Hals verdrehte und mit den Augen blinzelte, bald wie die Frau des Direktors, die schöne weiße Hände und einen so durchdringend scharfen Blick hatte, bald wie die dreizehnjährige hübsche Tochter des Polizeimeisters, die in ihrem kurzen Kleidchen und den weißen Spitzenhöschen darunter so vergnügt umherhüpfte.

Ganz zusammengekauert saß er da und las voll Gier, fast atemlos, aufs heftigste erregt und gespannt, und plötzlich warf er dann das Buch wütend fort und lief wie ein Rasender davon, wenn der tapfere Rinaldo – oder Malek-Adel in dem Roman der Frau Cotton – zu den Füßen der Zauberin sich vor Gram verzehrten.

Dann trug ihn die Phantasie wieder in das Land des Ossian: ein neues Leben, neue Menschen und Bilder, noch großartiger und ungewöhnlicher, wenn auch rauher als jene.

Und alles dies, das so gar nicht dem Leben um ihn herum glich, zog ihn förmlich hinein in seinen Wunderbann, aus dem er immer erst mühsam wie aus einem Rausche erwachte. Bleich und matt ging er dann lange Zeit umher, bis wieder ein neues fremdes Leben, neue seltsame Freuden und Leiden ihn wie ein frischer Wasserstrahl weckten.

Der Onkel gab ihm die »Geschichte der vier Heinriche«, der »Bourbonen bis zu Ludwig XVIII.« und ähnliche Werke zu lesen, aber alles das war für ihn nur das, was das nüchterne Wasser für den ist, der sich bereits ans Rumtrinken gewöhnt hat. Nur ganz vorübergehend vermochten ihn Iwan III. und IV. und Peter der Große anzuregen.

Er vertiefte sich in den Plutarch, um sich nur recht weit vom Leben der Gegenwart zu entfernen, doch auch dieser Schriftsteller erschien ihm trocken, gab ihm nichts Farbiges, keine Bilder wie die Bücher, die er früher gelesen, und wie später der Telemach und bald darauf die Ilias. Im Verkehr mit den Kameraden benahm er sich sehr seltsam, sie wußten nicht, was sie aus ihm machen sollten. Seine Zuneigung und Abneigung wechselte so häufig den Gegenstand, daß er weder dauernde Freundschaften noch Feindschaften hatte.

In dieser Woche nähert er sich dem einen, sucht ihn überall, sitzt mit ihm ewig zusammen, liest, erzählt sich etwas, flüstert mit ihm. Dann wendet er sich plötzlich ohne ersichtlichen Grund von ihm ab, verguckt sich in einen anderen, steckt eine Zeitlang mit ihm zusammen und läßt ihn wieder laufen.

Beleidigt ihn einer seiner Kameraden, so schweigt er zunächst, nimmt nur eine finstere Miene an und läßt seinen Grimm und Zorn sich zu einer trotzigen Feindschaft auswachsen. Und wenn die Beleidigung selbst längst verblaßt und der Grund der Feindschaft vergessen ist, setzt er diese doch fort: die ganze Klasse beobachtet die Entwicklung, und er selbst wohl am aufmerksamsten. Dann überkommt ihn plötzlich eine großmütige Anwandlung, und er lechzt förmlich danach, sein edles Herz in seinem ganzen Glanze zu zeigen; eine feierliche Versöhnung wird in Szene gesetzt, in der sein Edelmut sich offenbaren kann, und wiederum hat die ganze Klasse ihr Pläsier, und er selbst am meisten.

Er spielte bei solchen Gelegenheiten gleichsam den unbeteiligten Zuschauer und fand einen eigenen Genuß darin, sich selbst und seinen Widerpart zu studieren, zu beobachten und die ganze Szene sich vor seinen Augen abrollen zu sehen.

Und wenn dann alles zu Ende ist, wenn die aufprasselnde Flamme in ihm erloschen und der Rausch verflogen ist, dann ist er wie einer, der plötzlich aus lebhaftem Traume erwacht: er schaut verwundert um sich, und eine Stimme aus seinem Innern heraus fragt: Was soll das alles? Und er zuckt die Achseln und weiß keine Antwort auf die Frage.

Ein andermal kann er wieder über irgendeine Kleinigkeit in Entzücken geraten: ein wohlgesättigter Mitschüler schenkt einem armen Schlucker eine Semmel, wie das die tugendsamen Kinder in den Lehrbüchern und Vorschriften zu tun pflegen; ein anderer nimmt bei irgendeinem dummen Streich die Schuld für einen Kameraden auf sich; ein dritter geht mit düsterer Miene umher, als ob er über die Lösung irgendeines tiefen Welträtsels nachsänne – gleich ist Raiski in heller Begeisterung entflammt, spricht nur mit Tränen der Rührung von ihnen, sucht in ihnen etwas Ungewohntes, Geheimnisvolles und behandelt sie mit einer Hochachtung, die sich unwillkürlich auch den anderen mitteilt.

Acht Tage später jedoch, wenn die Kameraden eines schönen Morgens zu Raiski kommen und das Gespräch auf einen der gefeierten Phönixe bringen, lacht er ihnen einfach ins Gesicht: »Da habt ihr euch mal den Rechten ausgesucht! Wie kann euch der nur imponieren? Dieser Hausnarr!«

Alle reißen den Mund auf vor Verblüffung, und er selbst schämt sich seiner früheren Begeisterung. Der Lichtstrahl, der für kurze Weile auf sein Idol gefallen war, ist erloschen, die Farben sind verblaßt, die Formen welk geworden, und schon sucht sein gieriger Blick etwas Neues, ein anderes Schauspiel, eine frische Sensation, und solange die nicht gefunden ist, empfindet er Langeweile, ist gallig und ungeduldig oder starrt dumpf brütend vor sich hin. Auch außerhalb der Schule war Raiskis Verhalten ganz seltsam, weder die heiteren Seiten des Lebens noch seine rauhen Wirklichkeiten vermochten tiefer auf ihn zu wirken. Forderte der Vormund ihn auf, sich doch einmal anzusehen, wie das Korn gedroschen, das Tuch in der Fabrik gewalkt oder die Leinwand gebleicht werde, dann suchte er sich so rasch wie möglich beiseite zu drücken und zog es vor, nach der »Aussicht« zu gehen und von da in den Wald zu schauen, oder er ging an den Fluß, ins Gebüsch, in den nahen Hain, beobachtete dort die Insekten, verfolgte aufmerksam die kleinen Waldvögel, wie sie aufflatterten und ins Gezweig niederschossen, wie ihr Federkleid gefärbt war, wie sie den Schnabel wetzten; er fängt einen Igel und befaßt sich stundenlang mit ihm, angelt mit den Bauernkindern den ganzen Tag im Flusse oder lauscht auf die Erzählung eines halbverrückten Greises, der draußen am Ende des Dorfes in einer Erdhütte haust und von den Zeiten des »Pugatsch« erzählt. Begierig hört Raiski all die Einzelheiten von den grausamen Folterungen und Hinrichtungen und starrt dabei in den zahnlosem Mund des Alten und die tiefen Augenhöhlen, in denen die halberloschenen Augen blinzeln.

Stundenlang kann er dasitzen und mit krankhafter Spannung die trübseligen Schicksale der »Verhexten Thekla« verfolgen. Alle möglichen Schmöker liest er zusammen; kommt ihm der »Sächsische Räuber« in die Finger, dann ruht er nicht, bis er mit ihm durch ist; er holt sich die Schriften Eckardthausens aus dem Bücherschrank und sucht durch den Nebel dieser wüsten Phantasien zu klaren Vorstellungen zu gelangen; zehnmal liest er den »Tristram Shandy«, den ihm ein Zufall in die Hand spielt; er entdeckt einen Band mit dem Titel »Geheimnisse der orientalischen Magie« – und vertieft sich sogleich in seine Lektüre; russische Märchen und Sagen kommen dann an die Reihe, und plötzlich wirft er sich wieder auf Ossian, Tasso und Homer, oder er unternimmt mit Cook gefahrvolle Reisen in unbekannte Welten.

Hat er gerade nichts vor, so liegt er tagelang unbeweglich da, doch hat sein Nichtstun den Anschein, als verrichte er eine schwere Arbeit: seine Phantasie treibt ihn weit hinaus über Ossian und Tasso und selbst über Cook, oder irgendein zufälliger Eindruck, eine vorübergehende Sensation versetzt ihn in fieberhafte Erregung, und er erhebt sich matt und bleich und kann lange nicht in einen normalen Zustand kommen.

»Ein Nichtstuer und Faulpelz!« heißt es allgemein. Er fürchtete dieses Urteil, vergoß im stillen Tränen darüber und sann verzweifelt darüber nach, warum man ihn eigentlich einen Faulpelz und Nichtstuer nenne.

»Was bin ich eigentlich? Was wird aus mir werden?« dachte er und vernahm die rauhe Antwort auf diese Frage:

»Lerne, wie die Sawrassow, Kowrigin, Maljujew, Tschudin und all die anderen Musterschüler lernen!«

Ja, die sind gleich beschlagen in der Mathematik wie in der Geschichte, sie schreiben gute Aufsätze, sind geschickte Zeichner, haben gute Kenntnisse in den fremden Sprachen und in sonstigen Fächern – die Glücklichen! Alle Welt achtet sie, sie schauen so stolz drein, schlafen so ruhig und bleiben stets sich selbst gleich.

 

Und er ist heute bleich und schweigt, als wäre er vor den Kopf geschlagen – und morgen springt er umher und singt Gott weiß, weshalb.

Am peinlichsten empfand er das kränkende Mitleid des Pedells Sidorytsch, wiewohl ihm andererseits dessen schlichte Gutmütigkeit wohltat. Er hatte einmal in zwei Lektionen hintereinander seine Aufgaben nicht gelernt und sollte, falls er sie bis zum nächsten Morgen nicht lernte, zur Strafe kein Mittagessen bekommen. Er hatte keine Zeit mehr, sie zu lernen, alles schlief bereits, und das Haus lag finster. Da stand Sidorytsch leise auf, machte Licht und brachte für Raiski das Buch aus dem Klassenzimmer.

»Immer lerne, Väterchen,« sagte er, »während sie schlafen. Niemand wird es sehen, und morgen wirst du es besser können als sie: warum beleidigen sie dich nur immer, du arme Waise?«

Die Tränen traten Raiski in die Augen – er weinte über die Beleidigungen, von denen Sidorytsch sprach, und über dessen Gutherzigkeit. Er sah, wie die anderen Schüler im festen Schlaf dalagen – und er lernte, aus lauter Stolz, die Lektion nicht.

Kam dagegen seine Eigenliebe ins Spiel, fanden seine Nerven die entsprechende Anregung, dann bedurfte es nur eines einzigen Blickes ins Buch, und er nahm, was er lernen sollte, gleichsam auf photographischem Wege in sein Gedächtnis auf, merkte sich ganze Zifferreihen, löste die schwersten Aufgaben und setzte ganz unvermutet, wie ein aufflammendes Feuerwerk die ganze Klasse samt dem Lehrer in Erstaunen.

»Er verstellt sich!« dachten die Schüler. – »Was für Fähigkeiten hat doch dieser Faulpelz!« meinte der Lehrer. Er fühlte es deutlich, daß er kein Nichtstuer und Faulpelz war, sondern etwas anderes; er war jedoch der einzige, der das fühlte und begriff – nur das eine begriff er nicht, was er eigentlich war, und kein Mensch fand sich, der es ihm erklärt und ihn darüber belehrt hätte, ob die Mathematik, oder was sonst für ihn das Richtige sei.

Als er dann später in Dienst trat, waren seine Vorgesetzten noch mehr geneigt, ihn für einen Hohlkopf zu halten. Er lieferte nicht einen einzigen zufriedenstellenden Bericht, arbeitete nicht ein Aktenstück vorschriftsmäßig durch und brachte dafür einen Schwall von Heiterkeit, Lachen und Anekdoten in das Amtszimmer mit, in dem er saß. Beständig war eine ganze Schar von Leuten um ihn versammelt.

Dabei war ihm jedoch der Kernpunkt der Sache, um die es sich handelte, stets klar – nur wollte er ihn mehr spielend und tändelnd behandeln, nicht in der strengen, papiernen Form, die der Dienstweg vorschrieb; ganz so wie er früher wohl die russische Sprache geliebt, aber alles, was nach grammatischem Zwang aussah, verabscheut hatte.

Er verblüffte die übrigen Beamten oft durch die Neuheit seiner Auffassung. Der Tischvorsteher hörte ihn lächelnd an, nahm die Akten, die Raiski bearbeiten sollte, übergab sie irgend einem andern Beamten und sagte:

»Machen Sie lieber den Bericht dazu, bevor Boris Pawlowitsch sein Projekt hinmalt!«

Der Tischvorsteher hatte recht: Raiski sah die Dinge wie ein Gemälde und gab sie auch als ein solches wieder.

Seine Einbildungskraft flammte auf, er sah intuitiv das Wesentliche, seine Phantasie ergänzte das Bild, und er empfand nicht mehr das Bedürfnis, durch Arbeit und Erfahrung die Sache, um die es sich handelte, auf festem Boden weiterzuführen.

Er war ihrer schon müde, es drängte ihn weiter, Augen und Geist suchten etwas Neues, und er schwebte bereits auf den Flügeln der Phantasie über die Abgründe, Berge und Ozeane hin, über die sich die Menschheit nur mit harter Mühe und Geduld den Weg bahnt.

Sein Wissen und seine Kenntnisse besaß er nicht so wie andere, er sah sie nur gleichsam im Spiegel der Phantasie, als etwas Fertiges, fühlte ihren Besitz und freute sich seiner; die Aneignung des Wissens langweilte ihn, und ward er eines Gegenstandes einmal überdrüssig, dann schob er ihn zur Seite und suchte etwas anderes, Lebendiges, Überraschendes, was in ihm selbst lebhafte Reflexe hervorrief und ihm die Möglichkeit gewährte, Leben gegen Leben zu geben.

Es fand sich kein Mensch in seiner nächsten Umgebung, der diese heiße Begier nach lebendigem Erfassen in bestimmte Bahnen gelenkt hätte.

Der Vormund und die Großtante hatten die Sorgfalt, die sie ihm zuwandten, immer nur auf das Äußerliche gerichtet. Jener hatte darauf gesehen, daß die Lehrer, die ihn zu Hause unterrichteten, stets pünktlich zur Lektion erschienen, und daß er selbst in der Schule keine Stunden versäumte. Und die Großtante war vor allem darauf bedacht, daß er gesund bliebe, daß Appetit und Schlaf in Ordnung wären, daß er auf seinen äußeren Menschen hielte und, wie es sich für einen wohlerzogenen Knaben schickte, nicht mit Krethi und Plethi verkehrte.

Was er las, welche Bücher er verschlang, darum kümmerten sie sich nicht weiter. Die Großtante übergab ihm die Schlüssel zur Bibliothek seines Vaters in dem alten Hause, und dort verschloß er sich nun und las regellos alles durcheinander, bald Spinoza, bald einen Roman, bald die Bekenntnisse des heiligen Augustin, Voltaire oder gar Boccaccio.

Die Künste lagen ihm besser als die Wissenschaften. Allerdings ging auch hier bei ihm nicht alles nach der Schnur. So hatte der Zeichenlehrer einmal der Klasse die Aufgabe gestellt, ein Augenpaar zu zeichnen. Ganze vierzehn Tage waren hierfür in Aussicht genommen; aber Raiski hielt es so lange nicht aus, er fügte zu den Augen noch die Nase und war eben dabei, auch den Schnurrbart zu zeichnen, als der Lehrer ihn bei diesem vorschriftswidrigen Tun überraschte. Er packte ihn beim Schopfe und schüttelte ihn ganz gehörig, dann aber begann er die Zeichnung eingehend zu betrachten.

»Wo hast du das gelernt?« fragte er ihn.

»Nirgends,« lautete die Antwort.

»Gar nicht so übel, mein Lieber; doch sieh, was dabei herauskommt, wenn du so voraustrabst: Stirn und Nase sind recht gut geworden, aber guck’ mal, wohin du das Ohr gesetzt hast! Und das Haar sieht aus wie Lindenbast!«

Der Tadel focht Raiski nicht an, er triumphierte: »Nicht übel, mein Lieber – Stirn und Nase sind recht gut geworden!« – das war für ihn gleichbedeutend mit dem Lorbeerkranz.

Er spazierte stolz auf dem Hofe umher, in dem Bewußtsein, besser zu sein als die anderen – bis dann am nächsten Tage ein böser Reinfall in den »ernsten« Disziplinen ihn aus allen Himmeln stürzte.

Er behielt jedoch eine Vorliebe für das Zeichnen, und einen Monat nach den »Augen« durfte er einen lockigen Knaben und einen Fingalkopf zeichnen.

Sein sehnlichster Wunsch aber war, einen Mädchenkopf, der in der Wohnung des Lehrers hing, kopieren zu dürfen. Ein wenig auf die Schulter geneigt, schaute dieser Kopf mit träumerischem Ausdruck in die Ferne.

»Gestatten Sie mir doch, bitte, diesen Kopf nachzuzeichnen!« bat er schüchtern, mit mädchenhaft sanfter Stimme den Lehrer, während ein nervöses Zucken um seinen Mund spielte.

»Und wenn du das Glas zerschlägst?« sagte der Lehrer, gab ihm aber doch den Mädchenkopf mit.

Boris war glücklich. Jedesmal, wenn er den Lehrer besuchte, hatte sein Herz beim Anblick des Kopfes heftig zu schlagen begonnen. Und nun durfte er diesen Kopf mit sich nehmen und ihn nachzeichnen!

In jener Woche konnte keiner der wissenschaftlichen Lehrer aus ihm auch nur ein vernünftiges Wort herausbekommen. Er hockt in seinem Winkel, zeichnet, radiert, tuscht aus, radiert wieder oder sitzt in schweigendem Anschauen da; die blauen Augen des Mädchens beginnen wie durch einen leichten Nebel zu schimmern, und die zarten Rosenlippen scheinen kaum merklich zu zucken.

Über Nacht nahm er die Zeichnung mit in den Schlafsaal, und als er einmal so recht in das Anschauen dieser süßen Augen vertieft war und die schöngeschwungene Linie des vorgebeugten Nackens verfolgte, durchzuckte es ihn plötzlich: eine tiefe Beklemmung legte sich ihm auf die Brust, er atmete schwer, und in jähem Selbstvergessen schloß er die Augen und preßte, einen verhaltenen Seufzer ausstoßend, mit beiden Händen das Bild gegen seine linke Seite. Die Glasscheibe platzte, und die Scherben flogen klirrend zur Erde. . . .

Als Boris diesen Kopf zu Ende gezeichnet hatte, kannte sein Stolz keine Grenzen. Seine Zeichnung wurde zugleich mit den Zeichnungen der oberen Klassen beim öffentlichen Examen ausgestellt; der Lehrer hatte nur wenig daran verbessert, da und dort vielleicht die allzu zarte Zeichnung mit kräftigen Strichen verstärkt, die sich nun wie ein eisernes Gitter von der Arbeit des Schülers abhoben; außerdem hatte er das Haar um drei, vier Strähnen verstärkt und in die Augen Punkte gesetzt, daß sie nun plötzlich wie lebendig dreinschauten.

»Wie hat er das nur gemacht? Und wie kommt es, daß bei ihm alles so kühn, so sicher, wie belebt erscheint?« dachte Raiski und vertiefte sich in die Betrachtung der Striche und Punkte, insbesondere jener beiden, die plötzlich den Augen einen so lebendigen Ausdruck gegeben hatten. Er übte sich fortan mit großem Fleiße darin, die Striche und Punkte ebenso fest und sicher hineinzusetzen wie der Lehrer, um dadurch dieselbe Lebendigkeit und Kraft, dieselbe packende Wirkung zu erzielen. Bisweilen glaubte er fast, das Geheimnis erfaßt zu haben, doch war es ihm im nächsten Augenblick wieder entschlüpft.

Aber nur immer so die Köpfe und Nasen, die Stirnlinien, Ohren und Hände hundertmal zu wiederholen, schien ihm zum Sterben langweilig.

Die Augen behandelte er noch mit einiger Sorgfalt, weil er hauptsächlich darauf Gewicht legte, daß die Punkte richtig darin säßen und der Ausdruck recht lebendig wäre. Gelang ihm das nicht, dann schob er die Zeichnungen beiseite, setzte finster den Ellbogen auf den Tisch, legte den Kopf auf die Hand und sattelte sein Phantasieroß, um sich von ihm in die Ferne, in die Welt seiner Träume und Bilder tragen zu lassen.

Der leicht errungene Erfolg steigerte sein Selbstgefühl ins Ungemessene: »Ein Talent, ein Talent!« klang es beständig in ihm. Aber bald gab es an der Schule niemanden mehr, der nicht gewußt hätte, wie schön er zeichnete, kein bewunderndes »Ach!« ließ sich mehr vernehmen der Beifall war ihm etwas Alltägliches, Gewohntes geworden.

Auf dem Lande begann er dann wieder leidenschaftlich zu zeichnen, porträtierte die Stubenmädchen, die Kutscher, die Bauern.

Er malte ein Bild der »verhexten Thekla« – sie saß in einer Höhle, und das Licht fiel sehr wirkungsvoll auf ihr Gesicht und ihr zerzaustes Haar, während der übrige Körper ganz im Dunkeln blieb; es fehlte ihm am nötigen Können wie an Geduld, um letzteren besser herauszuarbeiten. Wie sollte er auch den ganzen Morgen dasitzen und zeichnen, während draußen die Sonne lachend auf Wiese und Fluß niederschien . . .

Da kommt eben der Diener vom Nachbargute – er bringt jedenfalls eine Einladung zum Tanze!

Nach drei Tagen ist das Bild, das ihm vorschwebt, schon ganz verblaßt, und ein anderes nimmt von seiner Phantasie Besitz. Er möchte einen Mädchenreigen zeichnen, mit einem betrunkenen alten Bauern als Zuschauer und einem Dreigespann, das gerade vorüberjagt. Zwei Tage lang ist er einzig mit dem Entwurf dieses Bildes beschäftigt: es steht lebendig vor seinem Geiste. Die tanzenden Mädchen und der Alte würden ihm wohl gelingen, aber mit dem Dreigespann wird es nichts: Pferde haben sie in der Schule »nicht gehabt«.

Acht Tage später ist auch dieses Bild vergessen und ein neues an seine Stelle getreten . . .

Der Musik war er leidenschaftlich ergeben. Auf der Schule hatte er einen Kameraden namens Waßjukow – ein unbedeutendes, von den übrigen Schülern geringschätzig behandeltes Kerlchen, dem Raiski um so zärtlicher zugetan war.

Alle fanden ein Vergnügen darin, Waßjukow am Ohr zu ziehen: »Mach’, daß du fortkommst, Dummkopf! Schaf!« hörte er beständig. Raiski allein war voll Mitgefühl gegen ihn und konnte ihn immer nur mit zärtlicher Rührung ansehen. Der Grund davon war, daß Waßjukow, der sonst für nichts Sinn hatte und selbst in den Stunden des allgemein beliebten russischen Lehrers träg und schlaff dasaß, jeden Tag nach dem Mittagessen seine Geige vornahm, das Kinn auf den Griff stützte, mit dem Bogen über die Saiten strich und über seinem Spiel die Schule, die Lehrer und die Mißhandlungen der Kameraden vergaß.

Seine Augen sahen dabei nichts von alledem, was rings um ihn vorging, sondern schauten irgendwohin in die Ferne, als erblickten sie da etwas ganz Besonderes, Geheimnisvolles. Sie nahmen zuweilen einen wilden, finsteren Ausdruck an, um gleich darauf wieder förmlich zu weinen.

Raiski pflegt sich ihm gegenüber zu setzen und wie vergeistert in sein Gesicht zu schauen; er beobachtet, wie Waßjukow, zunächst noch mit dem gewohnten stumpfen Blick, seine Geige hervorholt, träg den Bogen in die Hand nimmt, mit dem Kolophonium darüber hinfährt, dann mit dem Finger die Saiten anschlägt, sie fester spannt, von neuem probiert und schließlich, immer noch schläfrig dreinschauend, mit dem Bogen über die Saiten streicht. Doch nun ist er im Zuge, nun erwacht er und fliegt auf und davon.

 

Jetzt ist kein Waßjukow mehr da, ein anderer steht an seiner Stelle. Die Pupillen weiten sich, die Augen blinzeln nicht mehr, sondern werden immer durchsichtiger, heller, tiefer und schauen so stolz und so klug drein, und die Brust atmet langsam und schwer. Ein Ausdruck von Wonne und Glück huscht über das jugendliche Gesicht, die Haut erscheint klarer und weicher, die Augen schimmern blau und senden Strahlen aus – Waßjukow ist schön geworden! Raiski sucht ihm in Gedanken dahin zu folgen, wohin seine Blicke schauen, und zu sehen, was er sieht. Niemand und nichts existiert für ihn – weder die Schüler, noch die Bänke und Spinde. Alles das ist wie in einen Nebel gehüllt.

Bald nach den ersten Tönen hat sich die blaue Weite geöffnet, und eine schwankende Welt von Wogen und Schiffen, von Menschen, Wäldern und Wolken taucht empor – alles schwimmt gleichsam und schwebt an ihm vorüber in den luftigen Räumen. Und er selbst meinte höher und höher zu wachsen, und der Atem versagte ihm, und es war ihm, als würde er gekitzelt, oder als nähme er ein Bad . . .

Und dieser Traum währte so lange, als die Töne erklangen.

Ein Klopfen, ein Schreien, ein Stoß weckt ihn plötzlich und mit ihm zugleich Waßjukow. Die Töne sind verstummt, die Welten entschwunden, er ist erwacht: ringsum sieht er Schüler und Bänke und Tische, Waßjukow legt seine Geige in den Kasten, irgend jemand zieht ihn am Ohr, Raiski stürzt sich wütend auf den Händelsucher, prügelt ihn durch und geht dann eine ganze Weile in Nachdenken versunken umher.

Seine Nerven singen ihm unbekannte Hymnen vor, das Leben wogt und flutet in ihm wie ein Meer, Gedanken und Gefühle fließen in Wellen dahin, stoßen sich untereinander, enteilen irgendwohin und werfen Gischt und Schaum auf.

Er hört in diesen Tönen etwas ihm Bekanntes: wie eine Erinnerung lebt es darin, wie der Schatten einer Frau, die ihn einstmals auf dem Schoße hielt.

Er durchwühlt sein Gedächtnis und errät, daß es seine Mutter war, die ihn so hielt, während er, mit seiner Wange an ihre Brust gelehnt, zusah, wie ihre Finger über die Klaviertasten hinglitten, und aufmerksam lauschte, wie bald traurige, bald frische, kecke Weisen unter ihren Händen erklangen, und wie bald ihr Herz in der Brust klopfte.

Immer deutlicher tauchte die Frauengestalt in seiner Erinnerung auf, als sei sie eben im Augenblick aus dem Grabe erstanden und lebendig vor ihn getreten.

Er erinnerte sich, wie nach beendetem Spiel ihre ganze, zitternde Lust sich in dem heißen Kuß auslöste, den sie ihm aufdrückte. Er erinnerte sich, wie sie ihm die Bilder im Zimmer erklärte: wer jener Alte mit der Leier sei, auf dessen Spiel der stolze König da lauschte, stumm, ohne daß er sich zu regen wagte – wer die Frau sei, die dort zum Richtplatz geführt ward, und so weiter. Er erinnerte sich, wie sie ihn ans Ufer der Wolga führte, wie sie dort stundenlang saß und in die Ferne schaute, oder ihn auf die im Sonnenschein aufragenden Berge, auf die üppig grünenden Wälder und die vorüberfahrenden Schiffe aufmerksam machte.

Und er sah sie an, wie sie so unbeweglich dasaß und schaute, und er blickte in ihre durchsichtigen, tiefen, guten Augen – die ganz so waren wie die Augen Waßjukows, wenn er spielte.

Vielleicht sah auch sie in dem Grün der Wälder, dem raschen Lauf des Flusses, dem Blau des Himmels dasselbe, was Waßjukow sah, wenn er auf der Geige spielte . . . Berge, Meere, Wolken . . . »kurz alles, was auch ich sehe«, dachte er im stillen.

Hörte er irgendwo eine Dame auf dem Klavier spielen, etwa die Gouvernante auf dem Nachbargute, so blieb er wie angewurzelt stehen, vergaß selbst die Angel, die er eben unten am Flusse auswerfen wollte, und blieb, mit offenem Munde hinter der Spielenden stehend, im Zimmer. Es war, als sei er gar nicht da, als sei er in die Erde versunken – weit, weit hinweg trug’s ihn durch die Lüfte, und er wuchs ins Riesengroße, und Kräfte strömten ihm zu, daß er sich stark genug fühlte, gleich Simson an Säulen zu rütteln und Gewölbe zum Einsturz zu bringen.

Die Töne dringen in sein Hirn ein, erschüttern seine Brust, treiben ihm den Schweiß auf die Stirn und die Tränen in die Augen . . .

Verklingen die Töne, so erwacht er jäh, schämt sich und läuft davon.

Er begann zunächst bei Waßjukow das Geigenspiel zu erlernen – eine ganze Woche schon streicht er mit dem Bogen auf der Geige hin und her: »a, c, g«, intoniert Waßjukow geduldig, während die schrillen Mißtöne, die sein Schüler dem Instrument entlockt, ihm in die Ohren schneiden. Bald kriegt der Bogen zwei Töne auf einmal zu fassen, bald zittert die spielende Hand vor Schwäche: nein, das ist nichts! Wenn Waßjukow spielt, geht es wie geölt. Zwei Wochen sind bereits vergangen, und er vergißt immer noch bald diesen bald jenen Finger. Die Schüler murren: »Hol’ euch der Teufel mit eurem Gefiedel!« ruft der Primus. »Hier gibt’s ernste Arbeit genug, und sie sägen auf ihrer Geige herum!«

Raiski gab das Geigenspiel auf und bat den Vormund, ihn doch Klavierunterricht nehmen zu lassen. »Das ist nicht so schwierig,« dachte er, »das werde ich leichter erlernen.«

Der Vormund engagierte einen deutschen Klavierlehrer für ihn, nahm sich jedoch vor, einmal ernsthaft mit ihm zu reden.

»Höre einmal, Boris,« begann er, »ich wollte dich immer schon fragen, was du eigentlich einmal anfangen willst?« Raiski verstand die Frage nicht und schwieg.

»Du bist nun sechzehn Jahre alt,« fuhr der Vormund fort, »es ist wirklich hohe Zeit, daß du einmal ernstlich an deine Zukunft denkst. Du hast, wie ich sehe, noch gar nicht überlegt, was du auf der Universität und später im Staatsdienst anfangen sollst. Mit der Offizierslaufbahn wird es nichts werden: dein Vermögen ist nicht groß, und nach den Traditionen deiner Familie müßtest du schon bei der Garde dienen.«

Raiski schwieg und sah zum Fenster hinaus in den Hof, wo eben zwei Hähne aneinandergeraten waren, ein Schwein in dem Düngerhaufen wühlte und eine Katze sich still an eine Taube heranschlich.

»Ich spreche mit dir von ernsten Dingen,« sagte der Vormund, »und du guckst zum Fenster hinaus! Wofür bereitest du dich eigentlich vor?«

»Ich will ein Künstler werden.«

»Was?«

»Ein Künstler will ich werden,« wiederholte Raiski.

»Was Teufel ist dir in den Kopf gefahren? Wer wird dann noch mit dir verkehren wollen? Weißt du, was ein Künstler ist?« fragte der Vormund.

Raiski schwieg.

»Ein Künstler ist ein Mensch, der dich entweder anpumpt oder dir so viel Blödsinn vorschwatzt, daß dein Gehirn eine ganze Woche lang umnebelt bleibt . . . Ein Künstler will er werden! . . . Das heißt doch nichts anderes,« fuhr der Vormund fort, »als ein wüstes Zigeunerleben führen, an Geld, Garderobe und allen sonstigen Dingen Mangel und einzig an schwärmerischen Ideen Überfluß haben! Wo leben denn diese Künstler? Auf den Hausböden, wie die Vögel des Himmels! Ich habe sie in Petersburg gesehen: das sind diese Allerweltskerle, die, mit phantastischen Kostümen angetan, sich des Abends auf ihren Buden zu versammeln pflegen, auf den Diwans herumliegen, Tabak rauchen, allerhand Unsinn schwatzen, sich gegenseitig Verse vorlesen, sehr viel Branntwein trinken und dann erklären, daß sie Künstler sind. Sie kämmen sich nicht, laufen in unordentlicher Kleidung umher . . .«

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