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Sophienlust Classic – 62 –
»Andrea, ich habe das Gefühl, dass du dir ein bisschen zu viel zumutest.« Besorgt ruhte der Blick des jungen Tierarztes Doktor Hans-Joachim von Lehn auf dem schmalen Gesicht seiner Frau. »Du stehst jeden Morgen um die gleiche Zeit auf wie ich und arbeitest ununterbrochen«, fügte er hinzu und erhob sich von seinem Schreibtischsessel.
Andreas Wangen röteten sich leicht. Der Glanz in ihren schönen Augen vertiefte sich. »Hans-Joachim, ich bin glücklich, dass ich dir helfen darf. Nicht wahr, du bist doch mit mir zufrieden?« Fragend sah sie ihn an. »Du ahnst ja nicht, was für Freude ich an meinem Aufgabenbereich habe. Ich könnte mir ein Leben ohne die Tiere nicht mehr vorstellen.«
Hans-Joachim streckte seiner blutjungen Frau beide Arme entgegen. »Komm her zu mir«, bat er zärtlich.
Andrea ließ sich das nicht zweimal sagen. Als seine Arme sie umfingen, gestand sie ein wenig beschämt: »Ich bin sehr glücklich mit dir, Hans-Joachim.«
»Ich liebe dich, mein Kleines«, erwiderte er und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ohne dich könnte ich mir mein Leben nicht mehr vorstellen.«
»Ich mir mein Leben auch nicht.« Sie lachte fröhlich auf. Dann strich sie sich eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn. »Du, ich glaube, du musst noch fort«, erinnerte sie ihn an seine Pflichten. »Frau Köhler hat angerufen wegen ihrer Katzen. Dann hat Herr Meister darum gebeten, dass du noch einmal nach seiner Schäferhündin schaust. Ach ja, und Frau Doktor Knopp hat ebenfalls angerufen. Sie hat eine Dackeline. Die Hündin habe einen Brechdurchfall und sei völlig ohne Appetit.«
»Elfriede? Na, so was«, lachte HansJoachim und ließ Andrea los.
»Du kennst sie persönlich?«
»Aber ja. Elfriede ist sozusagen eine Sandkastenbekanntschaft.«
»Eine Sandkastenbekanntschaft?« Verwundert schüttelte Andrea den Kopf.
»Ja, mein Schatz. Wir sind fast im gleichen Alter. Unsere Eltern waren früher befreundet. Und wir Kinder haben miteinander Sandkuchen gebacken. Ich wollte Elfriede sogar mal heiraten«, setzte er humorig hinzu und packte bereits seine Utensilien in die Arzttasche ein.
»Ist sie sehr hübsch?« Andrea errötete leicht bei dieser Frage. Obwohl sie ihre Eifersucht auf Hans-Joachims Vergangenheit tapfer bekämpfte, kam sie doch immer wieder an die Oberfläche.
Hans-Joachim schmunzelte. »Ich kann dir das nicht sagen. Soweit ich mich erinnern kann, hat sie dunkle Augen und dunkle Haare. Ja, und eine Stupsnase. Ich habe sie lange nicht mehr gesehen. Sobald ich zurückkomme, gebe ich dir einen genauen Bericht«, spottete er gutmütig.
»Jetzt machst du dich über mich lustig.« Andrea drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. »Aber fahr jetzt. Denn heute abend kommen doch Mutti und Vati, vielleicht auch Nick.«
»Ich werde mich beeilen.« Er gab seiner Frau noch einen schnellen Kuss. »Ruh dich ein bisschen aus, mein Herzchen.«
»Ich muss erst noch ins Tierheim.«
»Du bist unverbesserlich. Ich werde demnächst jemanden für das Tierheim einstellen.« Er lachte sie an und verließ die Praxisräume. Andrea folgte ihm.
In der Diele wurden die beiden mit freudigem Gebell von der Dogge Severin und dem Dackel Waldi begrüßt, die nebeneinander in dem großen Hundekorb gelegen hatten.
Waldi sprang an Hans-Joachim hoch.
»Nein, mein Kleiner, heute kann ich dich nicht mitnehmen«, sagte der Tierarzt lächelnd.
»Waldi, sei brav!«, rief Andrea. »Wir gehen jetzt zum Tierheim hinüber. Du darfst heute das Säckchen mit dem Vogelfutter tragen.«
Waldi warf seinem Herrchen noch einen fragenden Blick zu. Endlich
schien er begriffen zu haben, dass heute nichts mit ihm anzufangen war. Deshalb folgte er seinem Frauchen in die Küche und wartete mit leuchtenden Augen auf das versprochene Säckchen.
Andrea blickte noch einmal aus dem Fenster und sah, dass Hans-Joachims Wagen das Grundstück verließ. Dann rief sie: »Severin! Waldi! Kommt!«
Übermütig umsprangen die Hunde sie, als sie das Haus verließ. Draußen gab Andrea dem Dackel das Säckchen. Stolz und mit hocherhobenem Schwanz wackelte er vor seinem Frauchen einher.
Jedesmal, wenn Andrea das Tierheim WALDI betrat, weitete sich ihr Herz vor Glück. Das langgestreckte, ebenerdige Gebäude war ein Hochzeitsgeschenk ihres Vaters. Hans-Joachim und sie aber hatten das Tierheim mit viel Liebe ausgestattet. Sie taten alles für die pflegebedürftigen Tiere, die ihnen immer wieder gebracht wurden. Auch die Kinder von Sophienlust hatten schon manches kranke Tier, das sie gefunden hatten, abgeliefert. Außerdem gab es Dauerpensionäre in dem Tierheim. Da war der Igel Mumps, der Feldhase Langohr, die beiden Füchse Pitt und Patt, und der Waldkauz Fabby, der nach einem kurzen Ausflug in die Freiheit freiwillig ins Tierheim zurückgekommen war. Seit kurzem gehörte auch noch die Dohle Dolly zu den Dauerpfleglingen.
Alle diese Tiere kannten Andrea gut, ebenso den Dackel Waldi, der es gelernt hatte, sich in dem Tierheim sehr still zu verhalten. Er folgte Andrea stets auf dem Fuß, wenn sie die einzelnen Tiere fütterte und mit ihnen wie mit Menschen sprach. Die Dogge Severin dagegen durfte nicht ins Tierheim. Zwar war sie ebenfalls sehr brav, doch ihre Größe erschreckte die Tiere immer wieder.
Bei den Füchsen hielt sich Andrea etwas länger auf. Pitt und Patt waren sehr zutraulich. Sie hatte sie mit der Flasche aufgezogen. Ohne weiteres konnte man die Tür ihres Geheges offenstehen lassen. Die beiden Füchse dachten nicht daran, davonzulaufen.
Auch das Reh Bambi, das winters wie sommers draußen war, war ganz zahm geworden und schien keine Sehnsucht nach den Wäldern zu haben. Andrea war sehr froh, dass ihre Lieblinge in ihrer Obhut blieben. Denn solange sie bei ihr waren, konnte sie keiner erschießen.
Daran dachte die junge Frau, als sie mit den beiden Hunden zum Haus zurückkehrte. Severin und Waldi legten sich auf das Eisbärfell vor dem offenen Kamin im Wohnzimmer und warteten auf die Rückkehr ihres Herrchens.
*
Hans-Joachim fuhr langsam durch die engen Straßen von Bachenau. Er liebte diese kleine Stadt, in der er aufgewachsen war. Er kannte jedes Haus und auch die meisten Einwohner. Seine Augen leuchteten vor Glück, als er hin und wieder einen Blick in die Gärtchen warf, in denen sich bereits der Frühling bemerkbar machte. Obwohl seit Tagen ein kühler Ostwind blies und die Nächte noch sehr kühl waren, sprießte es überall. Schneeglöckchen und Veilchen waren schon da, auch Krokusse steckten schon hin und wieder ihre Köpfchen aus der Erde.
Hans-Joachim hielt vor einem alten Haus, das Frau Köhler gehörte. Seit dem Tod ihres Mannes galt ihre ganze Liebe ihren vier Angorakatzen. Im Augenblick hatte sie sich in den Kopf gesetzt, ihre Lieblinge sterilisieren zu lassen, weil sie befürchtete, dass sie sonst Kinder auf die Welt brächten, deren Stammbaum nicht ganz rein war.
Hans-Joachim begrüßte die alte Dame freundlich und wandte sich dann den bildschönen Katzen zu. Besonders die silbergraue mit den hellblauen Augen war eine Schönheit.
»Nicht wahr, Herr Doktor, Sie werden sie sterilisieren?«, fragte Frau Köhler leise.
»Gern tue ich das nicht, Frau Köhler. Die Tiere werden danach meist fett und lustlos. Sie verlieren ihr Temperament und ihre große Lebensfreude.«
»Wirklich? Dann meinen Sie, ich sollte es nicht machen lassen?«
»Ja, das meine ich, liebe Frau KöhIer. Es gibt doch andere Möglichkeiten, zu verhindern, dass sie Junge bekommen.«
»Das schon. Nun gut, ich tue es nicht. Meine Lieblinge sollen so fröhlich bleiben, wie sie sind. Ich werde ein Gehege im Garten errichten lassen, das so dicht ist, dass keine unerwünschten Besucher eindringen können.« Die alte Dame atmete sichtlich auf.
»Ja, Frau Köhler, Ihre Katzen sind Prachtexemplare, und es wäre ein Jammer, wenn sie etwas von ihrer Schönheit einbüßten.«
Hans-Joachim verabschiedete sich freundlich. Er war froh, dass es ihm gelungen war, die alte Dame davon zu überzeugen, dass eine Sterilisation ein schwerer Eingriff in die Natur war. Vergnügt fuhr er weiter.
Der Rentner Meister erwartete ihn schon voller Aufregung. Seine Schäferhündin Kora hatte seit kurzem einen Schleier über den Augen. Als Hans-Joachim den Hund untersuchte, wusste er, dass Kora es nicht mehr lange machen würde. Immerhin war die Hündin schon dreizehn Jahre alt. Das war für einen Schäferhund ein beachtliches Alter. Doch Hans-Joachim brachte es nicht übers Herz, dem alten Mann zu sagen, wie es um Kora stand. Er verschrieb eine Medizin für den Hund und verabschiedete sich. Dann fuhr er zu der Kinderärztin Doktor Elfriede Knopp. Sie wohnte etwas außerhalb in einem kleinen hübschen Haus.
Auf dem Weg dorthin dachte HansJoachim an Andrea. Wie sehr er sie liebte! Eigentlich hatte er sie schon immer geliebt, schoss es ihm durch den Kopf. Schon als Halbwüchsige hatte sie ihm gefallen. Doch damals war er noch viel zu jung gewesen, um an eine gemeinsame Zukunft mit ihr zu denken.
Auch hatten ihn zu jener Zeit nur gleichaltrige Mädchen und manchmal sogar ältere Frauen interessiert. Wenn er aber genau darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass er jedes Mädchen, jede Frau unbewusst mit Andrea verglichen hatte. Es schien so, dass das Schicksal sie füreinander bestimmt hatte. Eines Tages würden sie auch Kinder haben. Doch damit wollte er noch warten, bis Andrea älter war. Er hatte sie ja direkt von der Schulbank weggeheiratet.
Hans-Joachim hielt jetzt vor einer niedrigen Gartentür, über die sich ein Bogen spannte, an dem sich Efeu emporrankte. Er stieg aus und drückte auf den Messingknopf. Kurz darauf trat eine dunkelhaarige schlanke Frau aus der Haustür und kam mit schnellen Schritten auf ihn zu.
Sie trug Bluejeans und einen saloppen silbergrauen Pullover mit einem großen Rollkragen. Das Haar fiel ihr glatt bis auf die Schultern. Dem jungen Tierarzt entging nicht ihre ungesunde Gesichtsfarbe. War Elfriede krank? fragte er sich und lächelte sie freundschaftlich an.
»Hans-Joachim!«, rief sie und streckte ihm beide Hände entgegen. »Fein, dass du kommst. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Wie geht es dir?«
Hans-Joachim hielt noch immer ihre Hände fest. »Erst einmal guten Tag, Elfie«, begrüßte er sie. »Mir geht es blendend. Sicherlich weißt du schon, dass ich verheiratet bin?« Er forschte in ihrem Gesicht und stellte fest, dass sie wirklich auffallend elend aussah.
»Aber ja, Hans-Joachim. So etwas spricht sich doch herum. Deine Frau soll noch sehr jung und besonders reizend sein.«
»Das ist Andrea auch. Sie ist die Tochter des Großgrundbesitzers Alexander von Schoenecker.«
»Aber ja, nun weiß ich alles. Ich kenne Denise von Schoenecker. Ich habe sie einmal auf einem Wohltätigkeitsfest kennengelernt. Auch das Kinderheim Sophienlust ist für mich ein Begriff. Mein Kollege Wolfram ist der Hausarzt von Sophienlust. Es hätte mir viel Freude gemacht, die Kinder dort zu behandeln. Aber ich löse ja in wenigen Tagen meine Praxis auf«, erklärte sie mit einem glücklichen Seufzer.
»Wieso?« Hans-Joachim folgte seiner Jugendgespielin ins Haus.
»Weil ich in Kürze heirate, mein Lieber. Erstaunlicherweise habe ich altes Mädchen noch einen Mann bekommen«, scherzte sie. »Und was für einen! Doktor Heinz Erdmann ist Spezialist für Tropenkrankheiten. Er arbeitet in einem Tropenkrankenhaus in Catania auf Sizilien. Wir heiraten dort. Er ist Witwer und hat zwei neunjährige Mädchen. Zwillinge. Seine Frau ist übrigens bei der Geburt der Kinder gestorben. Er war lange in Afrika und auch in Spanien. Nun hat er sich in Catania niedergelassen. Wir haben uns dort bei meinem letzten Urlaub vor zwei Monaten kennengelernt.«
Beim Sprechen hatten sich Elfriedes Wangen rosig gefärbt. Auf einmal sah sie bedeutend besser aus als zuvor. Sie ist bestimmt überarbeitet, dachte Hans-Joachim, der sich eine Weile richtige Sorgen um sie gemacht hatte.
»Aber deshalb habe ich dich nicht gerufen«, fuhr sie nun fröhlich fort. »Es geht um meine kleine Hexe. Ja, ich bin auch auf den Hund gekommen. Hexe ist eine bildschöne Dackeline. Sie ist etwas über ein Jahr alt und war bis gestern pumperlgesund. Ich bin zwar Ärztin, doch ich bin sicher, dass du mehr von Tiermedizin verstehst als ich«, fügte sie scherzend hinzu und öffnete die Tür, die in das helle freundliche Wohnzimmer führte.
Auf der Couch lag die Hündin. Sie wedelte matt mit der Rute, hob jedoch nicht einmal den Kopf, als Hans-Joachim zu ihr trat. Sofort stellte er fest, dass ihre Augen trüb waren.
»Ich befürchte, sie hat Gift erwischt«, meinte Elfriede kummervoll. »Ich habe ihr schwarzen Tee gegeben, nachdem sie sich laufend erbrochen hatte. Nun ist sie ganz apathisch. Hoffentlich geht sie nicht ein.«
»Aber nein.« Behutsam nahm Hans-Joachim die Dackeline hoch. »Darf ich sie auf den Tisch stellen?«, fragte er.
»Natürlich. Ich habe ja deswegen das Wachstuch darauf ausgebreitet.« Elfriede atmete schneller. Ihr war vor Aufregung ganz übel. Sie griff in ihre Kleidertasche und steckte verstohlen eine Kapsel in den Mund. Ja, es war höchste Zeit, dass sie anfing, auf sich selbst zu achten. Mit ihrem Herzfehler müsste sie sich eigentlich in ärztliche Behandlung begeben, dachte sie mit Galgenhumor. Aber das wollte sie nicht. Auf keinen Fall wollte sie die Hochzeit mit Heinz verschieben. Denn sie sehnte sich sehr nach ihm und konnte es kaum erwarten, endlich für immer bei ihm zu sein. Auch warteten ja die Kinder auf sie. Sie sollte mit ihnen zusammen nach Sizilien fliegen.
»Was ist los?«, fragte sie etwas ungeduldig, denn Hans-Joachim sagte noch immer nichts.
»Vergiftet ist sie nicht. Das Herz geht etwas zu schnell, und auch sonst scheint sie recht matt zu sein. Ich gebe ihr jetzt eine stärkende Spritze. Morgen wird es ihr schon besser gehen. Sie hat eine Magen- und Darmverstimmung. Gib ihr nichts zu fressen. Morgen früh kannst du ihr dann in Wasser gekochte Haferflocken geben und geschabtes Kalbfleisch.«
»Da fällt mir ein Stein vom Herzen«, sagte Elfriede aufatmend. »Ach ja, ich wollte noch etwas mit dir besprechen. Ich kann Hexe nicht gleich nach Sizilien mitnehmen, weil wir anfangs noch im Hotel wohnen müssen. Ich habe von deinem Tierheim gehört. Sag, könntest du meinen Liebling für einige Wochen in Pflege nehmen?«
»Aber ja, Elfie. Waldi wird sich freuen.«
»Waldi?« Verständnislos sah sie ihn an.
»Waldi ist unser Dackel. Er sieht Hexe sehr ähnlich. Ich habe ihn einem Gastwirt abgekauft, weil Waldi durchaus bei uns bleiben wollte. Wir hatten den Hund einige Tage in Pflege, aber er hatte sich so sehr an meine Frau gewöhnt, dass er nicht mehr fort wollte. Immer wieder brannte er von daheim durch und kam zu uns zurück. Nachdem sich das einige Male wiederholt hatte, entschloss sich sein Besitzer, ihn zu verkaufen. Wir haben unser Tierheim nach ihm benannt. Es war ein Wunsch der Kinder von Sophienlust. Waldi hat durch seine Initiative ein kleines Mädchen gerettet.«
»Ich bin sehr beruhigt«, sagte Elfriede erleichtert. »Demnach scheint es allen Tieren bei euch gut zu gefallen.«
»Ja, das stimmt. Auch unsere Dogge haben wir auf eine ungewöhnliche Weise bekommen. Sie ist lange in den Wäldern umhergeirrt. Der Förster wollte sie schon erschießen. Doch wir haben sie eingefangen und dann gesundgepflegt. Es stellte sich heraus, dass sie einem kleinen Jungen gehörte, der jetzt auf Sophienlust weilt. Fabian Schöller hat nach dem Tod seiner Eltern bei seiner Großmutter gelebt. Aber diese war froh, als sie ihn loswurde. Auch den Hund hatte sie nicht leiden können und ihn sozusagen aus dem Haus gejagt. Natürlich war Fabian sehr traurig, als Severin, der damals noch Anglos hieß, nicht mehr zu ihm zurück wollte. Doch schließlich hat er eingesehen, dass der Hund sehr glücklich bei uns ist.«
»Dein Leben scheint sehr erfüllt zu sein, Hans-Joachim«, stellte Elfriede gedankenvoll fest. »Mir ist manchmal so bange vor der Zukunft«, sagte sie impulsiv. »Lächerlich, nicht wahr? Dabei liebe ich meinen Verlobten und bin sicher, dass ich mich auch mit den Zwillingen gut verstehen werde. Aber manchmal ist mir ganz eigenartig zumute.« Sie lachte auf. »Du siehst, ich bin bereits eine alte Jungfer mit dummen Gedanken. Höchste Zeit, dass ich heirate.«
»Ich würde mich freuen, wenn du uns noch vor deiner Abreise besuchen würdest. Aber ja, du kommst ja und bringst Hexe. Dann bleibst du am Abend bei uns. Andrea wird sich freuen, eine Sandkastenbekanntschaft von mir kennenzulernen.«
Sehr nachdenklich fuhr Hans-Joachim nach Hause. Elfie sah wirklich sehr elend aus. Doch dann konzentrierten sich seine Gedanken wieder auf Andrea.
*
Henrik stand mit hochroten Wangen vor seinen Eltern. »Ich möchte auch mitfahren!«, rief er zornig und stampfte mit dem Fuß auf.
»Henrik!« Denise sah ihren Jüngsten vorwurfsvoll an. »Wie benimmst du dich denn?«
»Nick darf auch mitfahren. Ich will auch zu Andrea.« Henriks große Augen schwammen plötzlich in Tränen. »Nick darf immer alles.«
Alexander von Schoenecker lachte. »Nick ist auch einige Jahre älter als du, mein Filius«, sagte er. »Und wenn du weiterhin so zornig bist, muss ich andere Saiten aufziehen.«
Henrik blinzelte seinen Vater an. Er war nicht ganz sicher, ob dieser seine Drohung ernst meinte. Meist waren seine Worte nur Spass. Trotzdem hielt er es für besser, jetzt artig zu sein. »Nun gut, dann bleibe ich hier«, erklärte er nach einem herzerweichenden Seufzer.
Dominik kam die Treppe herunter. Er trug hellgraue Hosen, einen weißen Pulli mit Rollkragen und eine Wildlederjacke, das letzte Weihnachtsgeschenk seiner Eltern. »Ich bin fertig!«, rief er.
»Fahren wir über Sophienlust? Ich wollte noch Pünktchen gute Nacht sagen.«
»Gut, mein Sohn.« Wohlgefällig musterte Alexander seinen hübschen Stiefsohn, den er genauso liebte wie seine beiden eigenen Söhne Sascha und Henrik. Vom ersten Tag an hatte er sich prächtig mit dem Jungen verstanden. Der damals Fünfjährige hatte sofort Vertrauen zu ihm gefasst und war stets mit seinen großen und kleinen Problemen zu ihm gekommen. Soweit es in seiner Macht gestanden hatte, hatte er ihm immer wieder Ratschläge erteilt und ihm geholfen. Natürlich war er auch, wenn es die Umstände erforderten, streng gewesen. Denn Nick war ein gesunder Junge, der immer wieder Dummheiten im Kopf hatte.
»Wir müssen aber fahren!«, rief Denise nach einem Blick auf ihre Armbanduhr. Sie sah in dem mittelblauen Kostüm bezaubernd aus. Noch immer war sie mädchenhaft schlank, und ihr Teint war so zart wie bei einer Zwan-zigjährigen. Mit Recht war Alexander stolz auf seine schöne und kluge Frau. Auch war er noch genauso verliebt in sie wie am Anfang ihrer Ehe. Nein, er liebte sie heute noch inniger, noch tiefer.
Henrik blickte seinen Eltern und Nick nach. Dabei schob sich seine Unterlippe vor. Ein Jammer, dachte er, dass es so lange dauerte, bis er so groß wie Nick war.
*
Kaum hatte sich Hans-Joachim umgezogen, erschienen auch schon An-dreas Eltern und Dominik. Andrea lief aus dem Haus, um sie zu begrüßen. Das Hausmädchen Betti nahm ihnen die Mäntel ab, und Hans-Joachim kam aus dem Schlafzimmer.
Andrea schmiegte sich an Denise, die sie wie eine leibliche Mutter liebte. »Ich freue mich sehr, dass ihr gekommen seid«, sagte sie leise.
»Ich freue mich dagegen, zu sehen, dass es dir so gut geht. Dir strahlt ja das helle Glück aus den Augen, mein Kleines.«
»Müsst ihr Frauen denn immer wispern«, ärgerte sich Nick. »Du, Andrea, ich lauf mal schnell zum Tierheim rüber. Nicht wahr, ich darf doch?«
»Aber ja, Nick. Der Schlüssel hängt dort am Brettchen.« Sie deutete in die Diele hinaus.
»Kann ich die Hunde mitnehmen?«
Andrea lachte. »Ich glaube, sie werden nicht mitlaufen.«
»Severin! Waldi!«, rief Nick. Doch die beiden Hunde dachten nicht daran, ihm zu folgen. Sie ließen kaum einen Augenblick ihr Frauchen und ihr Herrchen aus den Augen.
»Dann nicht«, maulte Nick und stürmte davon.
»Aber komm gleich zurück!«, rief Andrea ihm nach. »Wir essen sofort!«
Hans-Joachim bückte sich und nahm Waldi auf den Arm. »Andrea, habe ich dir schon erzählt, dass wir einen Hund in Pension bekommen? Eine Dackeline, die unserem Waldi auffallend gleicht.«
»Das ist nett. Wem gehört sie denn?« Interessiert richtete die junge Frau ihren Blick auf ihren Mann.
»Elfie. Elfriede Knopp.«
»Deiner Sandkastenbekanntschaft?«
»Ja, Andrea. Sie heiratet nämlich, kann aber den Hund erst später nach Sizilien nachholen. Doch jetzt habe ich einen Mordshunger«, erklärte er und legte seinen Arm um Andreas Taille. »Betti, Sie können auftragen«, rief er in die Küche.
Dominik kam einige Minuten später mit leuchtenden Augen zurück. Wie gewöhnlich überfiel er seinen Schwager mit vielen Fragen über die einzelnen Tiere.
Alexander war an diesem Abend gut gelaunt – ein Zeichen, dass er sich sehr wohl fühlte. Es wurde ein wirklich netter Abend, und man trennte sich in bester Harmonie.
Andrea und Hans-Joachim blickten dem abfahrenden Wagen nach. »Weißt du, Hans-Joachim, es ist manchmal wie ein Traum.«
»Was, mein Lieb?«, fragte er und zog sie an sich.
»Alles. Unser Leben, unser Glück. Manchmal ist es für mich unvorstellbar, dass es auch Unglück auf der Welt gibt. Wenn ich daran denke, werde ich ganz traurig. Dann frage ich mich, ob das Schicksal seine Huld wirklich so ungerecht verteilt. Schau, solange ich zurückdenken kann, war ich glücklich. Vielleicht war ich in der Zeit, als meine Mutter starb, unglücklich. Merkwürdigerweise kann ich mich kaum mehr an meine richtige Mutter erinnern. Ich glaube, sie hatte nie viel Zeit für uns Kinder. Aber Mutti ist wunderbar.«
»Ja, das ist sie. Mein Liebling, der liebe Gott weiß schon, warum er uns so glücklich macht. Soviel ich mich entsinnen kann, hast du noch niemals etwas Böses getan. Das wird belohnt.«
»Ach, ich bin doch genauso wie die meisten Frauen.«
»Nein, das bist du nicht, Andrea«, erwiderte er fest. »Du bist einmalig. So einmalig wie deine Mutti. Frauen wie ihr beide gibt es nur wenige auf der Welt. Dein Vater und ich, wir sind vom Glück bevorzugt, weil wir euch bekommen haben«, setzte er ungewöhnlich ernst hinzu.
Andreas Augen füllten sich mit Glückstränen. Im stillen betete sie darum, dass sie alle auch weiterhin so glücklich bleiben würden.
*
Acht Tage später erschien Doktor Elfriede Knopp bei den von Lehns und brachte ihre Dackeline Hexe, die wieder völlig gesund war.
Andrea hatte Waldi immer wieder von dem Dackelmädchen erzählt und ihm ein Veilchensträußchen gegeben, als die Kinderärztin mit ihrem Hund aus dem Auto stieg. Waldi wollte das Sträußchen zuerst gar nicht nehmen, doch schließlich packte er zu und stürmte damit die Stufen zum Garten hinunter.
Beim Anblick des Dackels, der Blumen in der Schnauze hielt, brach Elfriede in helles Lachen aus. Andrea ging ihr entgegen und stellte fest, dass ihr Hans-Joachims Sandkastenbekanntschaft gut gefiel.
»Wie nett, dass ich Sie kennenlerne«, begrüßte sie die Besucherin. »Und das ist Hexe? Sie sieht tatsächlich genauso wie Waldi aus. Aber sie ist zierlicher.«
Waldi blickte interessiert hoch, als Andrea Hexe empornahm und kurz an sich drückte. »Keine Angst, Hexe«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Du wirst es bei uns gut haben.«
Ängstlich blickte die Hündin ihr Frauchen an. Andrea setzte sie auf den Boden, und Waldi ließ vor ihr die Veilchen fallen.