Die Tote am Steinkamp

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Die Tote am Steinkamp
Font:Smaller АаLarger Aa

Ingo M Schaefer

Die Tote am Steinkamp

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Tote am Steinkamp

Impressum

Grundsätzliches

Für Melanie, meine liebste Große

1

Der Autor

Kein Zurück Ohne Dich

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Über Balidan

Die Gruppen

Sprüche

Kapitel 1

Kapitel 2

Die Tote im Heidbergbad

Die Tote am Steinkamp

Der Tote an der Lesum

Tödliche Rechnung

Leseproben Romane und Erzählungen von Ingo M. Schaefer

ARTIR - Krieger der Wahrheit

Impressum neobooks

Die Tote am Steinkamp

Ein LESUMI

Ingo M. Schaefer

Impressum

Text: ©Copyright by Ingo M. Schaefer 2018

Umschlag: ©Copyright by Ingo M. Schaefer

Fotoquellen: Ingo M. Schaefer

Verlag: Ingo M. Schaefer

Hockenstr. 55

28717 Bremen

info@ingomschaefer.de

Grundsätzliches

Nichts, aber auch gaaar nichts, verbindet meine Krimis mit der real existierenden Polizei, deren Methoden, Zugehörigkeiten oder Instituten.

Alles hier Niedergeschriebene ist frei erfunden: die Figuren, die Handlungen, einfach alles.

Mit einer Ausnahme:

Lesum.

Für Melanie, meine liebste Große

1

Auf der Straße Hinterm Halm radelte ich am einzigen Hochmoor Norddeutschlands vorbei zur Straße Am Ruschdahl. Rechts auf der kleinen Wiese malmten die schwarzen Mufflonschafe im durchsichtigen Frühnebel, der aus dem Feuchtgebiet aufstieg. Eine Elster flog aus der Richtung, in die ich wollte, recht niedrig auf mich zu. Ich stellte das Treten ein und rollte in der Hoffnung aus, der Vogel gewänne bald an Flughöhe. Erst das silberne Blinken im Maul des Ahnherrn der Diebe ließ mich auf die Bremse treten. Der fliegende Vater des Kontrastes vermied das typische Schäkern, wenn er aufgeregt war, fast sang er zu mir. Weil mir gerade Greifbares fehlte - der Lenker flog schlecht mit anhängenden Rädern und Gestell - stoppte ich und schrie, wedelte mit den Armen. Das Rad fiel zu Boden, während der asiatische Glücksbote in die Höhe schoss. Dabei fiel ihm etwas aus dem Schnabel. Der Tag begann glücklich, weil eine silberne dicke Fingerzierde auf den Asphalt prallte, mehrmals hüpfte und direkt vor meine Schuhe rollte. Mit dem Taschentuch nahm ich das Kleinod auf und betrachtete das Silber, das pica pica, die deutsche Unglücksbotin, mir vor die Füße gespuckt hatte.

Auch wenn ich eine böse Ahnung bekam, wollte ich starr an meinem Versprechen festhalten, das zwei Tage alt war. Mein gegebenes Wort enthielt unter anderem Überstundenabbau.

Ich sah im Baumwolltuch den Einen Ring, obwohl ich mich bisher nie zu den Herren zählte. In Silber lag er da. Im Kino verführte er in Gold. Die Realität ist trister. Klar, dass ich kein Feuer brauchte, um die eingravierten unlesbaren Kritzeleien zu sehen. Allein die dunkelroten Tupfer offenbarten, dass der besitzende Finger den Verschwindeschmuck unter Zwang abgeben musste.

Taschentuch und Ring stopfte ich in die Hosentasche und setzte mich auf meinen Alu-Carbon-Mustang.

Ich überquerte die Straße Am Ruschdahl, um schräg links in den kleinen Schleichweg zur Schule am Steinkamp zu radeln.

Die beste Schule der Welt, zumindest die künstlerischste, konnte man über Straßen erreichen oder nutzte eben heimliche blätterüberdachte Schleichwege, die nur die Schüler benutzten, um noch vor dem Lehrer in die Klasse zu schlüpfen. Sie waren so alt wie die Schule selbst und der erdige Trampelpfad gabelte sich vor mir. Nach rechts kam man zum Abstellplatz der Pennälerräder, vorbei an der Zimmerei; blieb man links, erreichte man den lehrerfreien Bereich. Ein paar Steinplatten lümmelten auf dem Boden. Aus dem Baumschatten herausgetreten breitete sich vor den Schülern eine riesige freie Fläche aus. Mit zunehmendem Alter wandelte sich riesig in überschaubar. Gute hundertfünfzig Meter von mir entfernt lag der Asphaltplatz mit zwei Fußball-Stahltoren. Dahinter befand sich der Basketballplatz und bildete zugleich die mir gegenüberliegende Schulgrenze. Zwei Asphaltplätze für Fußball und Basketball sorgten für Spiel und Gesundheit, eine große Wiese mit Büschen, Sichtschutzecken und einem Tümpel mit Schilf sorgten für Spaß. Die seitlichen Grenzen dieser lehrerfreien Zone waren rechts die Fensterfassaden der Klassenräume und links ein Schotterweg, der die Linie zwischen Schulgelände und Gärten zog.

So war das früher, als ich hier zur Schule ging.

Vor drei Tagen rasierte ein Bagger einem Teil der Wiese den Humus ab. Dunkle Planen lagen über scharfkantigen meterbreiten Gruben. Auf dem asphaltierten Fußballplatz lag Abraumerde, und auf dem Basketballplatz stand der Erdschieber.

Als Yannick und ich hier zur Schule gingen, hieß sie bereits Schulverbund Lesum. In jeder Pause, ob große mit zwanzig Minuten oder kurze mit fünf Minuten, lief unsere Klasse zum Fußballplatz. Tennisball in die Mitte und los ging es. Nur Koordinationskrüppel spielten mit einem großen Ball, den traf nämlich jeder. Unsere Mädchen schauten zu und lachten den aus, der nicht traf. Das war genug Antrieb für jeden. Heute würden Psychologen Mobbing schreien. Ich nannte es sich durchbeißen. Natürlich spielten die Frauen in Ausbildung öfters auch mit. Dann liefen wir im Sommer mit blauen Schienbeinen herum. Niemand wollte ein Weichei sein und trug Schoner.

Mir war egal, was andere sagten, die Schule am Steinkamp war die schönste der Welt und die künstlerischste auf jeden Fall.

Nun sollten gesundmachende Spielplätze für die Schüler einem großen dick machenden Parkplatz für Lehrer und Besucher weichen. Der Teich sollte trockengelegt und die Zufahrt über die jetzige Grabungsfläche erfolgen.

Statt einfach nachts mit zwanzig Lastern - so hätte ich es gemacht – Asphalt auf die Fläche zu kippen, zu walzen und am nächsten Morgen alles abzusperren, mussten zuvor Proben entnommen und Gutachten erstellt werden, die mehr kosteten als der gesamte Parkplatz mit den anvisierten darauf stehenden Autos. Da verging viel Zeit, sodass jemand davon erfuhr, den die Planungsnerds auf jeden Fall gar nicht dabei haben wollten oder einfach vergaßen: Die Landesarchäologin, Margas Freundin, Dr. Dorothee Scherbe, ebenfalls Professorin und auch Dr. Hatschi Causa einer noch nie gehörten Universität irgendwo in der Gobi oder einer anderen bekannten Wüste. Ein Wind flüsterte ihr das Parkplatz-Vorhaben ins Denkmalschutzohr und sie haute auf den Tisch des Senators. Das konnte sie gut, vor allem weil sie bei uns oft übte. Ich suchte regelmäßig Dellen im Tisch. Aber guter alter deutscher Lack auf guter deutscher Eiche hält Fäusten ziemlich lange stand. Zudem war sie nicht jeden Tag da.

Der Senator bekam vielleicht feuchte Augen, weil er fürchtete, beim nächsten Schulbesuch den alten Parkplatz benutzen zu müssen. So stellte ich mir das Gespräch jedenfalls vor. Pech für ihn. Das Gesetz gab unserer ersten Buddlerin im Land recht, weil die Planungsdepperten unbedingt unter dem Asphalt Kies aufschütten und Zement gießen wollten, damit die Lehrerpanzer bloß nicht im Boden versanken. Waren früher der R4 mit seiner Ritschratsch-Schaltung, die Ente oder der Käfer in himmelblau mit weißen Wölkchen die Lehrerautos, so musste heute der protektionierte betrügende Diesel-Vorstadtwagen mit Chromaufprallstange unbedingt im sichtbaren Lehrer Carport stehen. Passte früher ein Käfer auf einen Parkplatz, so brauchte das LUV, auch Lehrer-Urbanes-Vehikel genannt, eineinhalb Stellflächen. Dafür musste alles sportliche und Spaß machende für die Schüler weichen. Zudem entledigte sich die Schule eines lehrerfreien Bereiches, was für schelmische Denker wahrscheinlich der eigentliche Grund war.

 

2

Ob die Verwaltung zufällig auf mich zu kam, um mit mir über tausende angehäufte Überstunden zu sprechen oder ob da hinter meinem Rücken Absprachen stattfanden, bekam ich nie heraus. Jedes Jahr das gleiche. Meine Abteilung hätte die höchste Überstundenanzahl. Ja, K007 führte bundesweit und regelmäßig die Aufklärungsstatistik an - gemessen an den eingesetzten Stunden. Schlussendlich sei doch gerade nicht viel los und man könne ja etwas abbauen. Man hätte auch Verantwortung gegenüber Leitungspersonal. Alle Sätze endeten mit ,Sie verstehen, Herr Hauptkommissar‘. Meine Standardantworten - wie Ohne Fleiß kein Preis - zauberten verständnislose Augen auf die jungen Sesseldauercamper. Sowieso stieß ich auf Unglauben, wenn ich sagte, das ich gern tat, was ich tat. Meine Mitarbeiter blieben handverlesen, da sie so tickten wie ich.

Wir hatten zwei aufgeklärte Fälle, die nur für die Staatsanwaltschaft aufbereitet werden mussten. Eine polizeirätliche Bitte abschlagen? Mein bester Verhörer und Anpacker Markus Stenhagen sollte mit Rita Hornung den Abschluss machen. Frederike Talmann, meine zweite Gedankenleserin, und Chico Laurentis, die Klette und bester Verfolger, der inzwischen Seminare beim BKA gab, machten mit mir frei. Mindestens eine Woche. Danach sollten Markus und Rita dem Dienst fernbleiben.

Meine Bitte nach einer fünften zusätzlichen Kraft wurde im Gegenzug wie üblich abgeschmettert. Meine Leute wollten nur eine. Sie war im Einbruchdezernat. Kommissarin Birte Bechte hatte mal wie alle anderen für uns ausgeholfen und war sogar mir aufgefallen. Wir fünf prüften sie auf Herz und Hirn. Jedes Mal musste ich mit ihr für uns beide ärgerliche Gespräche führen. K007 sollte sehr gerne erfolgreich sein, aber bekam nicht mehr Leute. Das war meine Situation vor drei Tagen.

3

Weil es um einen Parkplatz für Lehrer ging, führte die Schulbehörde das Bauvorhaben. Am Montag sollte das Amt der Landesarchäologie die Grabung am Steinkamp durchführen. Dr. Scherbe holte dafür extra einige Archäologie-Studenten nach Bremen. Leider brach am Freitag ein Kanalrohr in der Böttcherstraße. In diesem zentralen Stadtgebiet nahe der Weser lagen noch zahlreiche Bodenschätze aus den Anfängen der Stadt und Dr. Scherbe musste mit ihren eigenen Leuten archäologische Feuerwehr spielen, bevor Bagger und Zementmischer alles neu bauten. Die Studenten schienen arbeitslos. Die erste Erdchirurgin des Landes bat Marga die Leitung der Grabung am Steinkamp zu übernehmen. Bereits am Montag Vormittag hatte ich das Überstundenabbaugespräch. Ein Narr, wer an Zufall glaubte. So kam es, dass ich vorgestern hier vor meiner Frau antrat und nicht in meinem Büro. Seitdem half ich meiner Marga auf ihrer Grabung mitten in Lesum.

Ich war nicht das erste Mal auf einer Ausgrabung. Weil die Ehefrau eine weltberühmte forensische Anthropologin war und mich in jedes Museum schleppte, jeden Nachrichtendienst mit drei Buchstaben wie einen Schneckenpostdienst aussehen ließ, sah mein beabsichtigtes Feilschen um ein Grabungshelfergehalt folgendermaßen aus:

„Äh, Schatz!“, begann ich forsch.

„Du bekommst bereits eine üppige Beamtenvergütung. Ein bisschen Bewegung an der frischen Luft tut dir gut. Betrachte es als Urlaub.“

Damit waren die Verhandlungen über meinen angestrebten astronomischen Lohn, inklusive unsterblicher Ruhm und dagobertsche Goldschätze, beendet.

Am Morgen nach der Beurlaubung stand ich mit Schaufel und Spaten vor einem Stück grasfreier Erde. Meine andere Hälfte befahl: „Schabe ein Loch!“

Das tat ich die nächsten zwei Tage. Ich kam als erster, wollte Marga unterstützen, indem ich Planen wegzog, die Schaufeln und Kellen aus dem Bauwagen holte und sie vor die Gruben legte. Der Grabungslakai.

Ich stellte das Rad ab. Mein neuer Doppelständer hielt den Drahtesel in der Senkrechten.

Ich wollte zu einem links stehenden alten Bauwagen und sah mich um, während der Ring in meiner Hosentasche schwerer wurde. Etwas stimmte hier nicht. Die Schutzplane meiner Grube spannte ungewöhnlich straff, während die anderen Grubenbedeckungen locker lagen. Ich ging zu meiner Grube und kam mir wie der starre Frodo vor dem Schicksalsberg vor. Nur hob mich kein Sam hoch. Ich sah eine ältere blondierte Frau, die in meiner Grube lag. Sie trug einen Sommermantel, der halb ein dunkelblaues Abendkleid bedeckte. Sie war tot. Die Augen, die aus der Grube schauten, blickten irgendwohin nur nicht ins Leben. Drei Finger waren blutig gepickt. Die schwarzweiße Algaster hatte bereits anderen Blinkkram der Frau stibitzt. Hatte die fliegende Leichenfledderin auf mich gewartet, um mir den Einen Ring zu geben oder mich auf die Leiche vorzubereiten? Die Elster war nicht das erste Tier, das mich hier in Lesum zu einer Leiche führte.

Jeder anständige Bürger rief jetzt die Polizei. Ich war die Polizei. Karl Nagel, Leiter der K007. Mordkommission in Bremen. Warum ich nicht sofort die Kollegen rief? Mein Kopf war mir wichtiger, sonst wurde er abgerissen.

Meiner Frau Marga musste ich erklären, dass sie mit den studentischen Aushilfen nicht kommen durfte.

„Äh, Schatz“, sagte ich.

„Karl, warum rufst du mich an? Du bist vor fünf Minuten losgefahren. Du hast frei und sollst Überstunden abbauen.“

„Das will ich ja auch“, versicherte ich ihr. „In meiner Grube liegt eine tote Frau.“

„Mein Gott. Nee, ne. Das kann doch wohl nicht angehen. Besorge wenigstens Essen. Unseren vier Gästen genügt bestimmt Pizza.“ Sie legte auf.

Vergaß ich zu erwähnen, dass die Studenten bei uns wohnten?

Ich ahnte, meine Ausgräberlaufbahn endete schneller als geplant. Daher blieb ich stehen, um keine Spuren zu vernichten. Ich wählte die zweite Nummer.

„Ich bin es“, sagte ich Markus Stenhagen und gab ihm die Adresse durch. Er fragte nicht nach und legte auf.

Dritte Nummer. Spurensicherung.

„Karl, du hast Urlaub, oder wie das heißt“, sagte Yannick Helmke sofort, ohne dass ich mich melden musste. Mein Jugendfreund und das Wunderkind der Spurensicherung, die ich vor anderen auf „Spurg“ stutzte. „Laut meinen Informationen gräbst du gerade eine bronzezeitliche Abfallgrube an unserer alten Schule aus.“ Er ließ mich nicht mal grüßen. Gleich sagte er wohl Sachen wie ,Na, schaufelst du jetzt schon die Gruben für deine Leichen‘ und solche Dinge. Ich sagte dem Leiter der Spurg, wo die Leiche lag.

„Ich dachte, wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Warum musst du nur alles ins Gegenteil verkehren. Bald heißt es, du schaufelst Gruben für -“

„Verstanden!“, unterbrach ich ihn.

„Halte die Füße still und mach‘ Fotos und Filme!“

„Jawoll!“, sagte ich ohne die Hacken zusammenzuschlagen.

Vor wenigen Wochen bewilligte die Verwaltung uns diese neuartigen Wischminicomputer für die Hosentasche. Ich machte Fotos und filmte.

In den letzten zwei Tagen hackte, schaufelte und kratzte ich fest gepressten Sand. In der Zeit entwickelte man eine Beziehung zur Grube, und jeder sprach sehr viel mit den Grubennachbarn. Ich nutzte die Gelegenheit und wollte den Studenten nahebringen, dass die heutigen Problem-Fernsehpolizisten kein Maßstab für uns echten waren. Jedenfalls wollte ich Ermittler und Schutzpolizei in ein besseres Licht rücken und den jungen Leuten beibringen, dass eine vordergründige bequeme Wahrheit meist eine andere unbequemere Wahrheit verdeckte. Letztere war: Sie hörten mir überhaupt nicht zu.

Yannick und seine dreiköpfige Begleitung parkten den Geländewagen aus den Bremer Mercedes-Werken auf dem Kiesweg. Weil die Kollegen vom Lesumer Revier noch unterwegs waren, rammten sie selbst Pfähle in die Erde, kleideten sich in weiße Overalls und spannten ein rot-weißes, schräg gestreiftes Absperrband vom Kiesweg über die Bäume zu den Büschen. Danach fotografierten sie mit ihren Hightech-Kameras jeden Grashalm, bis mein Schulfreund vergangener Tage mir erlaubte wegzutreten.

„Bleib auf unserem Platz stehen“, befahl mir Yannick und zeigte auf den asphaltierten Fußballplatz. Ich kam mir vor als spielte ich „Rasen ist Lava“ und lief auf Zehenspitzen zum ehemaligen Bewährungsplatz.

4

Stenhagen und Hornung kamen von der Treppe neben der Turnhalle, wie ich Markus zuvor empfahl, um Spuren zu schützen. Sie fuhren mit den VWs der Bremer Polizei vor. Wir hatten keinen genialen Leasingvertrag wie das LKA mit den angeschlossenen Laboren. Als beide bei mir ankamen, sah ich den nächsten Mercedes oben an der Treppe rasten. Die Gerichtsmedizin.

Stenhagen und Hornung kamen zu mir. Es gab nichts zu sagen. Rita reichte mir Handschuhe und Schuhüberzieher, nicht um die Treter zu schützen sondern den Tatort vor meinen Sohlen. Ich hielt den Beutel hoch und rief Yannick zu:

„Hey, Meister Gandalf von der hohen Spurg. Das hättest du mir auch geben können.“

Wie üblich zogen sich seine Mundwinkel nach unten. So war das immer mit uns. Er verscheuchte mich. Ich scheuchte ihn. Er würde stundenlang um Marker herumscharwenzeln. Er würde betonen, dass es sich um Fachgespräche handelte. Ich hielt ihm entgegen, ohne meine Leichen würden sie sich nie sehen. Mein Tatort war ihr Treffpunkt. Das wäre genug. Zudem sei er glücklich verheiratet.

Dr. Sonja Marker stieg aus, winkte mir zu. Sie ging ans Heck, um den blauen Overall anzuziehen. Die Leiterin der Gerichtsmedizin schleppte ihre Koffer die Treppe herunter. Sie war schlau und intelligent. Mittlerweile war ich es leid allen den Unterschied zu erklären. Ihre einfachen Erklärungen über Todesursachen waren beides. Leider hörten die meisten Kollegen nie zu, weil die Leichenanalystin außerdem hungrige Blicke einfing. Dafür strahlte sie satte Männer wie mich regelmäßig an, was die Hungrigen sauer machte.

Mich interessierte, was die Leiche sagte, und Dr. Sonja Marker dolmetschte mir.

„Hallo, Herr Nagel“, grüßte sie und strahlte mich an. Ich grinste zurück.

„Moin, Frau Dr. Markert!“, nickte ich.

„Hallo, Dr. Marker. Dort in der Grube“, mischte sich Stenhagen sofort ein. Ich war nicht im Dienst.

„Haben Sie nicht frei?“, grinste sie mich an und überging meinen Stellvertreter.

Ich zuckte nur mit der Schulter. Es gab nichts zu sagen. Sie ging direkt zur Leiche.

„Bist du zurück, Chef?“, fragte Stenhagen.

„Chico und Frederike riefen vorhin an und sie fragten, ob sie gebraucht werden“, berichtete Rita.

„Vorerst machen wir es wie besprochen“, raunte ich beiden zu. „Diese provisorische Absperrung muss auf das gesamte Gebiet ausgeweitet werden und ruft den Gafferwagen. Informiert die Kollegen. Yannick wird ja wohl irgendeine Spur finden.“

Yannicks behaubte Overalls suchten in Sträuchern, zwischen den Gräsern und in den Gruben nach Abfall. Jedes Kaugummipapier und die sonstigen Schülerreste fielen in Müllsäcke.

Yannick kam zu mir, nachdem er gefühlte Stunden mit Misses Gerichtsmedizin tratschte und sie, wie ich meinte, von der Arbeit abhielt.

„Na, hast du den alten gelben Tennisball gefunden, den du damals ins Gebüsch geschossen hast, und den wir nie fanden?“, rief ich laut über den Platz.

„Du bist nicht informiert. Den hat der alte Kort gefunden und behalten, als Erinnerung an uns. Er hat es mir gebeichtet bei einem Jahrgangstreffen. Er bat mich, den Ball in seinen Sarg zu legen. Was ich getan habe.“

5

Mittlerweile standen mehr Personen um mich herum. Staatsanwalt Weinhaus zappelte umher und wartete wie wir alle auf Marker, die sich ungewöhnlich viel Zeit ließ. Die Absperrung stand. Seit ich angeordnet hatte, das die Gaffer offen gefilmt wurden und wir laut wegen unterlassener Hilfeleistung mit Gefängnis drohten, gingen die Bremer recht schnell weiter an rot-weiß gestreiften Flatterbändern. Vor allem sorgte der Mannschaftswagen mit der Aufschrift MOBILES GEFÄNGNIS für Abschreckung. Vor einem Jahr hatte ich genug und schlug dem Präsidenten vor, wie ein einfacher Mannschaftswagen Gaffer weitergehen lassen würde. Aus einem Testwagen wurden zwei, dann drei mit Bereitschaftsfahrer und Beifahrer. Zurzeit buchte die Feuerwehr fast täglich die Kollegen und sorgte für Geldfluß, über den unsere Verwaltung sich freute und die Lorbeeren einsteckte, weil sie die Einnahmen als Einsparungen deklarierte, was die Verwaltungskosten verringerte. Das war deren Sache. Mir war wichtig, dass wir in Bremen kein Gafferproblem mehr hatten. Damit hatte ich den Präsidenten geködert. Mittlerweile war der Lack und das Gitter aus dem Baumarkt wieder drin. Zahlen taten auf jeden Fall die Gaffer. Jetzt stand der Wagen auf dem Rasenplatz neben dem Schleichweg und sorgte für ein rasches Vorbeigehen.

 

Wir alle atmeten auf, als Marker aus der Grube stieg.

„Der Tod trat zwischen zehn und zwölf Uhr nachts ein. Es ist unklar, was den Tod bewirkt hat. Das Genick ist gebrochen. Ich muss feststellen, wie das passieren konnte. Keine Würgemale, keine Druckpunkte am Hals, um den Genickbruch zu erklären. Allerdings ist das nur die vordergründige Wahrheit, weil ich ein Pflaster an der Schulter gefunden habe, das eine Rötung ante mortem, vor dem Tod, hervorgerufen hat. Die Tote heißt Martha Grenitz und muss sofort in die Gerichtsmedizin.“

„Ein Pflaster am Nacken?“, fragte ich.

„Zwischen den Schulterblättern“, sagte sie.

„Pflaster? Hautreizung? Das erinnert mich an ein Unfallopfer. Vor vier Wochen fast vor meiner Haustür. Hatte die nicht auch ein Pflaster auf dem Rücken?“, fragte ich laut. An der Reaktion der anderen erkannte ich, dass meine Stimme dröhnte.

Marker seufzte und blickte Yannick an.

„Das war ein Nikotinpflaster“, sagte Weinhaus.

„Hast du es untersucht?“, fragte ich Yannick.

„Das war nicht nötig“, schaltete sich Weinhaus ein. „Ein tragischer tödlicher Verkehrsunfall ohne Fremdeinwirkung. Die Tote hatte nullkommasieben Promille und viele Zeugen bestätigten, dass niemand am Unfall beteiligt war. Keine Mitfahrer. Das Unfallopfer Frau Lewinski wollte zu spät abbiegen. Alkohol war im Spiel. Es gab keinen Grund für weitere Untersuchungen oder der K007 den Fall zu übergeben.“

„Und dass man sich selbst kein Pflaster zwischen die Schulterblätter kleben kann, das ist niemandem aufgefallen? Abendkleid? Hatte Lewinski nicht auch ein Abendkleid an?“

Marker nickte.

„War das Pflaster auch zwischen den Schulterblättern?“, fragte ich.

Niemand sagte etwas.

„Es tut mir leid“, sagte Dr. Marker zerknirscht. „Ich werde das Unfallopfer Lewinski exhumieren lassen und gründlicher untersuchen.“

„Ich kann Ihnen da nichts vorschreiben, Dr. Marker. Aber ist das notwendig? Bedenken Sie, was das für die Angehörigen bedeutet“, schaltete sich Weinhaus ein, um den teuflischen Advokat zu spielen.

Und was das für dich bedeutete, dachte ich sauer.

„Wir werden sehen, was gefunden wird“, erstickte ich den aufkommenden Streit. Mein Name war Programm. Ich nagelte jede Form von Inkompetenz ans Kreuz und verabschiedete mich soeben aus dem Stollen des Überstundenberges.

„Ist das Unfallauto noch auf dem Hof?“, fragte ich Yannick.

Er nickte.

„Komplettes Programm“, wies ich ihn an. „Gibt es hier Fußspuren?“

„Schwach. Das Gras hat sich in der Frühe wieder aufgerichtet.“

„Gibt es da nicht irgendwelche Scanner, die das Gelände ohne Halm abbilden?“

„Nein.“

„Und mit einem Super-Föhn alles austrocknen, bis das Grünzeug zu Staub zerbröselt? Dann bleibt nur der Abdruck in der Erde und der Gips kann fließen.“

Yannick starrte mich an, um mir zuzustimmen:

„Ich denke, in einem kleineren Maßstab bekomme ich das hin. Gute Idee, du Linksfuß.“

„Soweit ich weiß, hast du immer den Ball geholt.“

Wir lachten. Später würde ich ein Kreuz im Kalender machen, weil wir gemeinsam lachten.

„Wir müssen sie jetzt bergen. Und die Plane auch“, bat Marker um Hilfe. Also auf die Körperträger warten.

Rita und Markus gingen fort, um in der Nachbarschaft Zeugen zu suchen.

Ich übergab Yannick laut „freiwillig und ohne Zorn“ den „Einen Ring mit Taschentuch“ an „Gandalf von der Spurg“, der ihn diesmal mit gewohnt nach unten gezogenen Mundwinkeln entgegennahm. Nirgendwo donnerte der Himmel und hell blieb es auch.

6

Ich stand mit Atemschutz und Gummihandschuhen im wohl keimfreiesten Obduktionsraum Deutschlands. Marker sprach ihr Fachkisuaheli ins Mikrofon, damit jeder Mediziner sie verstand. Dann gab sie dem Diktierprogramm den Befehl für eine zweite Datei und sprach deutsch hinein. Das Tolle daran war, dass ihr Programm das sofort in Schrift umwandelte und auf zwei verschiedenen Seiten ausdruckte. Jede zweite Seite gehörte mir.

Sie hielt mir das Formular für meine Anwesenheit hin.

„Dieses Pflaster ist kein Nikotinpflaster“, stellte sie fest. „Darunter ist eine untypische Hautverfärbung. Der Tod trat durch Genickbruch ein. Sie stieß mit dem Kopf voran in die Grube. Ich finde keine Abwehrspuren des Sturzes, so als ob sie nichts spürte. Ich schließe eine Vergiftung nicht aus.“

„Ein seltsamer Fundort, ein seltsamer Tod. Wie kann jemand nichts spüren.“

„Es gibt zahllose Gifte, die jemanden orientierungslos machen, lähmen. Ein Nervengift zum Beispiel könnte dafür verantwortlich sein, dass die Arme den Sturz nicht abfingen. Ein solcher Schutzreflex muss ausgeschaltet gewesen sein.“

„Statt Nikotin enthielt das Pflaster Gift? Sie konnte sich das Pflaster nicht selber aufkleben. Das bedeutet, Martha Grenitz ist ermordet worden?“

Sie nickte und reichte mir drei Fundbeutel, die ich Yannick bringen würde.

Im ersten Beutel las ich auf dem Ausweis die Lesumer Adresse. Bördestraße. Das Opfer war siebenundfünfzig Jahre alt. Zigaretten, ZIP Feuerzeug und eine Geldscheinklammer. Ohne Hunderterscheine machte sie nicht viel her. In dem zweiten Beutel war der Schlüsselbund für das Auto und mehrere Sicherheitsschlüsssel mit einem durchbohrten Minihufeisen als Anhänger, wie man sie auf Mittelaltermärkten kaufen konnte. Im dritten Beutel lag das Pflaster.

Ich unterschrieb die Missachtung der angeordneten Überstundenabbaubitte. Beim nächsten Mal kam ich nicht mehr so glimpflich davon. Dann hatte ich keine andere Wahl und musste verreisen. Der Verdacht auf einen Serientäter oder eine Täterin machte jetzt jeden Verwaltungshansel mundtot.

Im Markerschen Drucker kopierte ich den Bericht viermal.

Ich lief zu meinem missmutigen Jugendfreund Yannick und übergab ihm die Fundbeutel.

Er führte mich in einen Raum. Drei flache gläserne Terrarien - zwei mal zwei Meter breit - enthielten ausgestochene Wiesen, denen im Glaskasten das Wasser entzogen wurde. Eine Mitarbeiterin prüfte Anschlüsse und fotografierte die verschiedenen Stadien.

„Moin, Karl!“, grüßte sie mich, bevor ich was sagen konnte.

„Moin, Anna!“, erwiderte ich und hob die Hand. Meine Schwägerin. Margas Schwester. Seit zwei Jahren zurück in Bremen.

Die Gräser in den Kästen waren bereits vertrocknet und die Oberschicht war bereits von Schwarz in Grau übergegangen.

„Zufrieden?“, fragte der Meister der Steppe.

Ich nickte. Bereits zwei verschieden große Fußabdrücke wurden sichtbar.

„Jemand brachte oder schob sie zum Fundort. Dieser Ausschnitt ist zwischen Kiesweg und Grube entnommen worden. Dort gingen zwei Menschen.“ Er zeigte mir einen gläsernen Kasten daneben. „Diese Probe kommt aus dem Bereich, in dem du das Fahrrad abgestellt hast“, erklärte der Guru der Fährtenleser. „Abdrücke unterschiedlich großer Männer. Deine habe ich identifiziert. Das war nicht schwer. Die Fußspuren des anderen ähneln denen aus der vorherigen Probe und deine Spur ist scharfkantiger. Der andere hat größere Schuhe als du.“

„Dafür traf ich immer den Tennisball im Gegensatz zu den Kindersärgen manch anderer. Also Täter bringt Martha zur Grube und entweicht über den Schleichweg. Das willst du sagen?“

„Oder über den Fahrradplatz. Bekommt keiner mit“, meinte er.

„Hoffen wir, dass du einen Gipsabdruck machen kannst, der absolute Klarheit schafft.“

Seine Mundwinkel zeigten nach unten.

Ich ging am besten sofort, sonst stritten wir uns wie üblich, wer damals die meisten Tore schoss.

7

Zurück im Büro zappelten Chico und Frederike am großen Tisch, die wie Nestküken die Hälse aufrissen für Futter. Sie erhielten die Berichte und lasen. Rita und Markus kamen pünktlich zur Besprechung zurück.

Wir saßen am runden Tisch, der noch Platz für vier oder fünf Personen hatte. Im Gegensatz zu anderen war ich davon beseelt, dass man als Ermitttlerteam bestens arbeitete, wenn alle Mitarbeiter alle Informationen hatten. Ich ließ fünf Gehirne arbeiten statt eins. Das mochte beim Lesen etwas Zeit kosten, aber dafür irrte niemand im Nebel der Vermutung. Noch Fragen warum meine Abteilung schnell und effizient war?

Martha Grenitz besaß vier Boutiquen. Der Ehemann Heiner Grenitz eröffnete vor fünundzwanzig Jahren den ersten Laden in Lesum. Nach zwei Jahren übernahm das Geschäft seine Frau. Seitdem expandierte sie langsam und eröffnete weitere in anderen Stadtteilen. Das Ehepaar hatte zwei Kinder, die in Berlin und München lebten.

Allzu beliebt war Martha nicht. Sie wohnte mit ihrem Mann in einem großen Einfamilienhaus an der Bördestraße. Blieb zu klären, ob das Testament Überraschungen bot.

Markus und ich fuhren zum Witwer.

Als wir vorm Haus der Grenitz´ parkten, stand ein Golf in der Einfahrt. Dahinter stand ein Audi. Der Audi war das Firmenfahrzeug. Die Motorhaube des Käferersatzes war entfernt warm.

Ich klingelte.

Ein Mann ungefähr sechzig Jahre alt, schütteres Haar, runder Kopf, Trainingsanzug öffnete.

Wir zeigten Marken, stellten uns vor.

„Worum geht es?“, fragte er genervt.

„Dürfen wir herein kommen?“

Er trat beiseite und ließ uns bis in den Flur. Er bot uns keinen Platz an, also blieben wir stehen. Wir kamen ungelegen. Von oben hörte ich die Tür zugehen und einen Schlüssel umdrehen.

„Sie haben Besuch?“, fragte Markus.

„Nein, ich bin allein.“

Ich sah Markus an und dann nach oben. Er ging die Treppe hoch.

„Brauchen Sie dafür keinen Durchsuchungsbefehl?“, fragte Heiner Grenitz.