Friedens- und Konfliktforschung

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Friedens- und Konfliktforschung
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Ines-Jacqueline Werkner

Friedens- und Konfliktforschung

UVK Verlag · München

Einbandmotiv: © iStockphoto, bestdesign


PD Dr. Ines-Jacqueline Werkner ist Leiterin des Arbeitsbereichs Frieden an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg und Privatdozentin am Institut für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt a.M.

© UVK Verlag 2020

‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Internet: www.narr.de

eMail: info@narr.de

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

ISBN 978-3-8252-5443-8 (Print)

ISBN 978-3-8463-5443-8 (ePub)

Inhalt

  Vorwort

  Part I: Frieden – Begriffliche Vorüberlegungen

  1 Zum Begriff des Friedens 1.1 Gewalt und Frieden bei Johan Galtung 1.2 Frieden – mehr als die Abwesenheit von Krieg? 1.3 Frieden – eine Utopie? 1.4 Friede als Weltfriede? 1.5 Fazit

  2 Frieden und Sicherheit 2.1 Was heißt Sicherheit? 2.2 Friedens- versus Sicherheitslogik 2.3 Fazit

  3 Friedensforschung und Debatten um ihr Selbstverständnis 3.1 Zur Normativität der Friedensforschung 3.2 Zur Praxisorientierung der Friedensforschung 3.3 Zur disziplinären Verortung der Friedensforschung 3.4 Fazit

  Part II: Weltpolitische Konflikte – Begriff, Formationen und Austragungsformen

  4 Konflikt – Konzeptionelle Vorüberlegungen 4.1 Zum Konfliktbegriff 4.2 Konflikte – unerwünschte Erscheinungen? 4.3 Konflikte – komplexe Phänomene 4.4 Kriegsdefinitionen 4.5 Kriegsursachen 4.6 Fazit

  5 Konfliktebenen und Konfliktakteure – asymmetrische Konstellationen 5.1 Symmetrie und Asymmetrie im Konfliktgeschehen 5.2 Die neuen Kriege 5.3 Kritik der neuen Kriege 5.4 Der transnationale Terrorismus 5.5 Fazit

 6 Konfliktgegenstände – zentrale Formationen6.1 Zentrale Konfliktformationen zu Zeiten des Kalten Krieges6.1.1 Der Ost-West-Konflikt6.1.2 Der Nord-Süd-Konflikt6.1.3 Der Nahostkonflikt6.2 Gegenwärtig vorherrschende Konfliktkonstellationen6.2.1 Konflikte um die internationale Vormachtstellung6.2.2 Ethnonationale Konflikte6.2.3 Innerstaatliche Macht- und Herrschaftskonflikte durch fragile Staatlichkeit6.3 Gewalt durch Klimawandel – ein Konfliktszenario der Zukunft?6.4 Fazit

  7 Austragungsformen von Konflikten – friedenspolitische Herausforderungen durch neue technologische Entwicklungen 7.1 Unbemannte Waffen und der Trend zu ihrer Autonomisierung 7.2 Der Cyberraum und die Digitalisierung der Kriegsführung 7.3 Die Militarisierung des Weltraums 7.4 Fazit

  Part III: Friedensstrategien

  8 Frieden durch Abschreckung 8.1 Der (neo)realistische Zugang zum Frieden 8.2 Begriff und Funktionsweise der Abschreckung 8.3 Nukleare Abschreckung 8.4 Fazit

  9 Friedenssicherung durch Verrechtlichung und internationale Kooperation 9.1 Der institutionalistische Zugang zum Frieden 9.2 Das völkerrechtliche Gewaltverbot und seine Durchsetzung 9.3 Humanitäre militärische Interventionen 9.4 Die internationale Schutzverantwortung 9.5 Systeme kollektiver Sicherheit – ein Mythos? 9.6 Fazit

  10 Frieden durch Demokratisierung 10.1 Der liberale Zugang zum Frieden 10.2 Der demokratische Frieden 10.3 Antinomien des demokratischen Friedens 10.4 Frieden als Zivilisierungsprozess – das zivilisatorische Hexagon 10.5 Fazit

  11 Respekt, Anerkennung und Vertrauen als Wege zum Frieden 11.1 Der konstruktivistische Zugang zum Frieden 11.2 Respekt und Anerkennung 11.3 Vertrauen 11.4 Das Konzept der gemeinsamen Sicherheit 11.5 Fazit

  Part IV: Zum Stand der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland

 12 Institute der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland12.1 Zu den Anfängen der Institutionalisierung der Friedens- und Konfliktforschung – ein kursorischer Überblick12.2 Außeruniversitäre Institute12.3 Außeruniversitäre Institute mit Forschungsschwerpunkten im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung12.4 Universitäre Institute und Zentren12.5 Verbände, Netzwerke und Stiftungen12.6 Fazit

  13 Masterstudiengänge der Friedens- und Konfliktforschung

  14 Zur Publikationslandschaft 14.1 Das Friedensgutachten 14.2 Fachzeitschriften 14.3 Lehr- und Handbücher

 

  Literatur

Vorwort

„Es ist begreiflich, daß die Zeitgenossen die Sache so auffaßten. Es ist begreiflich, daß Napoleon meinte, die Ursache des Krieges liege in den Intrigen Englands […]. Es ist begreiflich, daß die Mitglieder des englischen Parlaments der Ansicht waren, die Ursache des Krieges sei Napoleons Herrschsucht; daß der Herzog von Oldenburg als die Ursache des Krieges die gegen ihn verübte Gewalttat betrachtete; daß die Kaufleute glaubten, die Ursache des Krieges sei das Kontinentalsystem, durch das Europa zugrunde gerichtet werde; daß die alten Soldaten und Generale die Hauptursache des Krieges in der Notwendigkeit suchten, sie wieder einmal zum Kampf zu verwenden, und die Legitimisten in der Notwendigkeit, les bons principes wiederherzustellen; daß die Diplomaten überzeugt waren, alles sei davon hergekommen, daß das Bündnis zwischen Rußland und Österreich im Jahre 1809 vor Napoleon nicht kunstvoll genug verheimlicht worden und das Memorandum Nr.178 ungeschickt redigiert worden sei. Es ist begreiflich, daß diese und noch zahlreiche andere Dinge, deren Menge durch die unendliche Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte bedingt ist, den Zeitgenossen als Ursachen des Krieges erschienen; aber wir Nachkommen, die wir die gewaltige Größe des stattgefundenen Ereignisses in ihrem ganzen Umfang zu überblicken und die wahre, furchtbare Bedeutung dieses Ereignisses zu würdigen vermögen, wir müssen diese Ursachen für unzulänglich erachten.“ (Tolstoj 2015 [1867], S.1056)

Fragen nach Krieg und Frieden standen nicht nur bei Lew N. Tolstojs Werk im Mittelpunkt, sie prägten von jeher die Menschheitsgeschichte. Und auch die heutige Friedens- und Konfliktforschung bezieht ihre Bedeutung aus genau diesen essenziellen Fragen. Für sie ist es insbesondere das Ende des Ost-West-Konfliktes, das strukturell zu einer Zäsur führte. Mit dem Wegfall des Systemantagonismus brachen die bisherige Ausrichtung und darauf basierende Grundlagen der Friedens- und Konfliktforschung weg. Ein neuer Bedarf an friedenswissenschaftlichen und friedenspolitischen Kompetenzen tat sich auf. Dies ist insbesondere der größeren Komplexität der politischen Prozesse angesichts grenzüberschreitender und globaler Konfliktkonstellationen geschuldet. Exemplarisch stehen hierfür die neuen Kriege und der transnationale Terrorismus. Sie erfordern in zunehmendem Maße die Bereitstellung analytischer und praktischer Qualifikationen zu essenziellen Fragen von Krieg und Frieden.

Das vorliegende Lehrbuch reflektiert den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung und zeigt die derzeitigen friedenspolitischen Herausforderungen auf. Es enthält drei inhaltliche Schwerpunkte: Im Fokus der Analyse steht zunächst – als theoretisches Fundament – der Friedensbegriff mit seinen Dimensionen, seinem Verhältnis zur Sicherheit und seinem Selbstverständnis (Part I). Der zweite Part wendet sich weltpolitischen Konflikten zu. Das umfasst Begriff, Formationen und Austragungsformen von Konflikten. Vor diesem Hintergrund analysiert der dritte Part zentrale Konfliktbearbeitungsmechanismen und zeigt aus der Perspektive der großen Theorieschulen der Internationalen Beziehungen zentrale Friedensstrategien auf. Abschließend gibt das Lehrbuch einen Überblick über den Stand der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland mit seinen Instituten, Netzwerken und universitären Studiengängen sowie einen Einblick in die friedenswissenschaftliche Publikationslandschaft. Die einzelnen Kapitel des Lehrbuches folgen im Wesentlichen der gleichen Grundstruktur: Für das jeweilige Themenfeld werden zentrale Fragestellungen, Grundbegriffe, theoretische Ansätze und empirische Befunde vorgestellt. Eine annotierte Auswahlbibliografie am Ende jedes Kapitels soll helfen, den Einstieg in die entsprechende Thematik zu erleichtern.

Abschließend möchte ich mich ganz herzlich bei meinen Kolleginnen und Kollegen des Arbeitsbereichs Frieden der FEST bedanken, die durch ihre Anregungen und die vielen gemeinsamen Diskussionen zum Gelingen dieses Lehrbuchs beigetragen haben. Mein besonderer Dank gilt Henrike Ilka, die mir bei den Recherchen, der Literaturbeschaffung sowie dem Korrekturlesen eine große Hilfe war und stets auch für Fragen und Diskussionen zur Verfügung stand.

Heidelberg, im Juli 2020 Ines-Jacqueline Werkner

Part I: Frieden – Begriffliche Vorüberlegungen

1 Zum Begriff des Friedens

„Der Friede ist als Sehnsucht, Hoffnung, Traum oder Verheißung eine der ältesten Ideen der Menschheit; Friedensforschung jedoch ist erst im Atomzeitalter entstanden“. In dieser Formulierung von Georg Picht (1971, S.13) deutet sich bereits ein gewisses Spannungsverhältnis an: Einerseits war und ist der Begriff des Friedens – anders als andere sozialwissenschaftliche Grundbegriffe – allgegenwärtig: in der Politik, in den Medien und in öffentlichen Debatten. Frieden gilt als hohes, wenn nicht sogar höchstes Gut, nach dem norwegischen Friedensforscher Johan Galtung (2007, S.15) vergleichbar mit der Gesundheit eines Menschen (wie Gewalt mit der Krankheit).1 Vor diesem Hintergrund stelle der Frieden eine zentrale Kategorie der Politik dar: „Der Friede ist der Grund und das Merkmal und die Norm des Politischen, dies alles zugleich“ (Sternberger 1986, S.76; vgl. auch Meyers 1994, S.17).2

Andererseits ist die Frage, wie der Frieden inhaltlich zu fassen ist, nach wie vor umstritten. So konstatiert der Politikwissenschaftler Ernst-Otto Czempiel (2002, S.83), die Friedensforschung habe bis heute keinen geklärten Friedensbegriff, ihr Erkenntnisinteresse sei distinkt, aber diffus. Dieser Zustand lasse sich auf verschiedene Ursachen zurückführen: Zum einen sei die Friedensforschung eine sehr junge Wissenschaftsdisziplin, galt sie bis vor wenigen Jahrzehnten noch als „ungesicherte Disziplin“ (Der Spiegel, 18.08.1969). Zum anderen verzichteten einige Friedensforscher und -forscherinnen sogar ganz darauf, den Begriff des Friedens näher zu bestimmen. Aber auch die mittlerweile in der Friedensforschung gängige Formel „Frieden ist mehr als kein Krieg“ (Rittberger 1977) bleibt diffus, hinterlässt sie doch Fragen nach dem, was dieses „Mehr“ ausmacht. Für Thorsten Bonacker und Peter Imbusch (2006, S.130) wiederum stellt der ungeklärte Friedensbegriff gar kein Manko dar, sondern ist eher Ausdruck „einer lebendigen fachlichen und offenen Diskussion über das Profil der Friedens- und Konfliktforschung“. Dabei bewegt sich die Debatte letztlich vor allem um drei Fragen: (1) Ist Frieden mehr als die Abwesenheit von Krieg? (2) Ist Frieden eine Utopie? Herrscht erst dann Frieden, wenn die Ursachen für Kriege überwunden und diese nicht mehr möglich sind? (3) Ist Frieden teilbar oder nur als Weltfriede vorstellbar? (vgl. auch Brock 1990, S.72).

1.1 Gewalt und Frieden bei Johan Galtung

Als zentral kann die auf Johan Galtung zurückgehende Unterscheidung zwischen negativem und positivem Frieden gelten. Er leitet den Friedensbegriff vom Gewaltbegriff ab (vgl. Schaubild 1). Ausgangspunkt ist der „Doppelaspekt“ der Gewalt (Galtung 1975, S.32), bei dem Galtung zwischen personaler (direkter) und struktureller (indirekter) Gewalt differenziert. Die direkte Gewalt zielt unmittelbar auf die Schädigung, Verletzung und in extremster Form auf die Tötung von Personen. Sie ist personal und direkt, insofern es „einen Sender gibt, einen Akteur, der die Folgen der Gewalt beabsichtigt“ (Galtung 2007, S.17; vgl. auch Bonacker und Imbusch 2006, S.86). Strukturelle Gewalt umfasst dagegen all jene Arten von Gewalt, die aus systemischen Strukturen resultieren. Zu den Hauptformen zählen Repression und Ausbeutung. Beide sind nicht notwendigerweise beabsichtigt, auch nicht mehr individuell zurechenbar (sie basieren auf der jeweiligen politischen, ökonomischen und sozialen Verfasstheit der Welt), können aber ebenso töten – durch Verelendung, Hunger und Krankheit (Galtung 2007, S.17; vgl. auch Bonacker und Imbusch 2006, S.86).

Schaubild 1:

Die erweiterten Begriffe von Gewalt und Frieden nach Johan Galtung (1975, S.33)

Nach Galtung greift der eng gefasste – personale beziehungsweise direkte – Gewaltbegriff deutlich zu kurz, denn auf diese Weise bleibe die Gewalt, die von „[v]öllig inakzeptable[n] Gesellschaftsordnungen“ (Galtung 1975, S.9) ausgehe, weitgehend außen vor. Vor diesem normativen Hintergrund plädiert er für den erweiterten Gewaltbegriff. Danach liege Gewalt immer dann vor, „wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“; sie wird damit zur „Ursache für den Unterschied zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen, zwischen dem, was hätte sein können, und dem, was ist“ (Galtung 1975, S.9).

Frieden fasst Johan Galtung als Negation von Gewalt. Der Doppelaspekt der Gewalt findet sich somit auch in seinem Friedensbegriff wieder:

„Ein erweiterter Begriff von Gewalt führt zu einem erweiterten Begriff von Frieden: Frieden definiert als Abwesenheit von personaler Gewalt und Abwesenheit struktureller Gewalt. Wir bezeichnen diese beiden Formen als negativen Frieden bzw. positiven Frieden.“ (Galtung 1975, S.32)1

Damit scheint der Begriff des negativen Friedens dem alltäglichen Verständnis von Frieden als Abwesenheit von Krieg beziehungsweise friedenswissenschaftlich formuliert als Abwesenheit organisierter militärischer Gewaltanwendung zu entsprechen. Primäre Friedensaufgabe im Sinne dieses eng gefassten Friedensbegriffes stellt dann die Kontrolle und Verminderung offener Gewaltanwendung dar.

Anders beim positiven Frieden: Definiert als Abwesenheit struktureller Gewalt hat er seine Entgegensetzung nicht im Krieg, eher im Unfrieden. Positiver Frieden gilt – in Anlehnung an die obige Gewaltdefinition – als ein Zustand, in dem die Verwirklichung des Menschen möglich wird. Auch wenn sich der Begriff des positiven Friedens mit der Entwicklung ändere – so wie auch der der Gesundheit in der Medizin – werden mit ihm vor allem Aspekte wie Kooperation und Integration, das Fehlen von Repression und Ausbeutung, wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie Gerechtigkeit und Freiheit verbunden. Insbesondere stehe der positive Frieden für soziale Gerechtigkeit2, bezeichne diese eine positiv definierte Bedingung, und zwar die nach gleicher Verteilung von Macht und Ressourcen (Galtung 1975, S.32, insb. auch FN 30).

Ende der 1990er Jahre ergänzte Johan Galtung seine Unterscheidung zwischen direkter und struktureller Gewalt um eine dritte Komponente: die kulturelle Gewalt.3 So wird auch vom Galtung’schen Gewaltdreieck gesprochen. Unter kultureller Gewalt werden all jene Aspekte einer Kultur verstanden, die dazu dienen, direkte oder strukturelle Gewalt zu rechtfertigen beziehungsweise zu legitimieren (Galtung 2007, S.341). Galtung führt in seiner Definition sechs Kulturbereiche auf: Religion (beispielsweise in Form eines rigiden Monotheismus), Ideologie (wie Nationalismus), Sprache (etwa Sprachsexismus), Kunst (beispielsweise durch den Transport von stereotypen Vorurteilen), empirische Wissenschaft (zum Beispiel in Form des neoklassischen Wirtschaftslebens) sowie formale Wissenschaft (wie der Entweder-Oder-Charakter der Mathematik, wonach Aussagen nur wahr oder unwahr sein können) (Galtung 2007, S.341ff.). Zudem verweist er auf Bereiche wie Recht, Medien und Erziehung (Galtung 2007, S.18). Diese Ausweitung des Gewaltbegriffs führte vom Doppelaspekt der Gewalt zum Gewaltdreieck (vgl. Schaubild 2).

Schaubild 2:

Das Gewaltdreieck nach Johan Galtung (2007)

Mit der Einführung der kulturellen Gewalt hat sich auch der Friedensbegriff noch einmal erweitert: „Friede = direkter Friede + struktureller Friede + kultureller Friede“ (Galtung 2007, S.458), wobei unter kulturellem Frieden die Abwesenheit kultureller Gewalt verstanden wird. Das beinhaltet die Überwindung von Einstellungen und Verhaltensmustern, die die Anwendung von Gewalt rechtfertigen beziehungsweise legitimieren – von den Akteuren selbst häufig gar nicht mehr als solche wahrgenommen. Aufgabe sei es daher, „aus der harten Kruste des Kollektivs Sub-Kollektive und Individuen herauszubrechen und aus Unterbewußtem Bewußtes zu machen“ (Galtung 2007, S.415). Die Bedeutung eines kulturellen Friedens zeigen gerade religiös konnotierte Konflikte auf, die nicht selten mit einer Nichtanerkennung religiöser Minderheiten einhergehen.

 

1.2 Frieden – mehr als die Abwesenheit von Krieg?

Galtungs Unterscheidung zwischen direkter und struktureller Gewalt sowie negativem und positivem Frieden prägt bis heute maßgeblich den friedenswissenschaftlichen Diskurs.1 Dabei bewegen sich die Debatten – nunmehr seit mehr als 40 Jahren – stets um die eine, aber für die Friedensforschung doch zentrale Frage, wie eng beziehungsweise weit der Friedensbegriff gefasst werden sollte. Einerseits lässt sich in der Friedensforschung „ein verbreitetes Unbehagen an einem ‚bloß‘ auf die Negation des Krieges bezogenen Friedensbegriff“ (Brock 2002, S.96) feststellen. Dieses Unbehagen resultiert aus der Zeit der Ost-West-Konfrontation, in der Krieg durch nukleare Abschreckung vermieden werden sollte – ein Zustand „organisierter Friedlosigkeit“ (Senghaas 1972), ohne Krieg, jedoch stets kurz vor der Katastrophe und der Zerstörung des gesamten europäischen Kontinents. Genau diese Situation hatte Johan Galtung bei seiner Konzeption des erweiterten Gewalt- und Friedensbegriffs im Blick. So blende der negative Friedensbegriff die herrschaftlichen, sozialen und kulturellen Dimensionen des Friedens aus; mehr noch, er trage mit dazu bei, ungerechte Verhältnisse auf der Suche nach Frieden zu zementieren.

Andererseits mehren sich aber auch die kritischen Stimmen gegenüber dem positiven Friedensbegriff. Dazu gehören vor allem Frankfurter Friedensforscher wie Lothar Brock (1990, 2002), Ernst-Otto Czempiel (1998, 2002), Christopher Daase (1996) oder Harald Müller (2003). Ihre Kritik gliedert sich in verschiedene Argumentationsstränge: forschungspraktische, ethische sowie empirische. Forschungspraktisch wird gegen den positiven Friedensbegriff seine Weite und Unbestimmtheit in Anschlag gebracht. Unklar bleibe, was konkret der Gegenstand des Friedens sei und wo die Abgrenzungen der Friedensproblematik gegenüber anderen gesellschaftlichen Großthemen liegen. Ein Friedensbegriff, der von der Verhinderung und Eindämmung des Krieges über die Schaffung sozialer Gerechtigkeit bis hin zum Umweltschutz alles umfasse, verliere die Fähigkeit „zur unterscheidenden Beschreibung“ (Müller 2003, S.211). „Friedensforschung bzw. die Theoriebildung über Frieden wäre für alles und das heißt im Umkehrschluss für nichts zuständig“ (Brock 1990, S.78). In diesem Kontext fordern die Frankfurter eine Trennung von Friedensbegriff und Friedensursachen.

Aus ethischer Sicht wird befürchtet, dass der positive Frieden zur Legitimation von Gewalt missbraucht werden könne. Werde Gerechtigkeit als wesentliches Moment des positiven Friedens in den Friedensbegriff hineingenommen, stoße man – so Harald Müller (2003, S.212) – auf zwei Probleme: Erstens könnten Gewaltfreiheit und Gerechtigkeit in Widerspruch zueinander treten. Gewalt könne zur (Wieder-)Herstellung von Gerechtigkeit in Anspruch genommen werden.2 Zweitens gebe es verschiedene Gerechtigkeitsvorstellungen, die den positiven Friedensbegriff unbrauchbar machen, abgesehen davon, dass diese auch zu einer neuen Quelle von Gewalt führen können.3 In diesem Sinne argumentiert auch Ernst-Otto Czempiel (1995, S.167): „Da die Gerechtigkeit partikular und fraktioniert ist, ist es auch der Friedensbegriff.“ Frieden sei dann nicht das Werk der Gerechtigkeit, sondern des Gewaltverzichts. Ferner ergebe sich ein ethisches Problem aus der unzulänglichen Differenzierung direkter und struktureller Gewalt, denn während Tod und Verstümmlung irreversible Zustände sind, haben Ausbeutung und Repression zumindest hypothetisch die Chance ihrer Reversibilität (Müller 2003, S.212f.).

Schließlich sei der positive Friedensbegriff mit seiner Intention aus der Zeit der Ost-West-Konfrontation empirisch überholt. Angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Lage sei der negative Frieden – die Eindämmung, Beendigung und Verhinderung von Kriegen – wichtiger denn je, während der positive Frieden in dieser Situation fast schon anachronistisch erscheine (Bonacker und Imbusch 2006, S.132). Auch werde mit dem Begriff des negativen Friedens eine qualitative Abwertung insinuiert, die sich empirisch in keiner Weise rechtfertigen lasse. So sei bereits die Abwesenheit kollektiver Gewaltanwendung ein hohes Gut und in ihrer Bedeutung gar nicht zu überschätzen (Huber und Reuter 1990, S.22).

Diese Kritik bedeutet für die hier angeführten Vertreter aber nicht, sich im Umkehrschluss für den negativen Frieden auszusprechen; die Forderung besteht vielmehr nach einem engen Friedensbegriff. Was dieses „Mehr“ gegenüber dem negativen Friedensbegriffs ausmachen soll, lässt sich bis heute schwer exakt fassen; und auch die Übergänge – sowohl in die eine als auch in die andere Richtung – erweisen sich als fließend. Übereinstimmung unter den Befürwortern des engen Friedensbegriffs scheint in der Trennung von Friedensbegriff und Friedensursachen zu liegen. Der Friedensbegriff setze dann auf die „Eliminierung des Krieges“ (Czempiel 2002, S.84), und zwar im substanziellen Sinne: Er fokussiere auf die Verhinderung des Krieges, einschließlich der Bereitschaft zum Krieg, und auf einen Konfliktaustrag, der durch Gewaltverzicht gekennzeichnet sei. Beispielhaft hierfür sei die Definition von Ernst-Otto Czempiel:

„Friede besteht in einem internationalen System dann, wenn die in ihm ablaufenden Konflikte kontinuierlich ohne die Anwendung organisierter militärischer Gewalt bearbeitet werden.“ (Czempiel 1998, S.45)

Das mache die Begriffsdefinition, so ähnlich sie zunächst der des negativen Friedens erscheint, voraussetzungsreich. Sie unterscheide sich deutlich von einem „Friedens“-Zustand zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation; hinzu trete ihre zeitliche Dimension: Friede als dauerhafter Friede.4

Ausgehend von einem eng, aber substanziell gefassten Friedensbegriff werde dann nach den konkreten Bedingungen des Friedens gefragt. Dabei lassen sich verschiedene Zugänge ausmachen: Ansätze auf der Mikroebene zielen auf die individuellen Bedingungen gewaltfreier Konfliktaustragung und umfassen verschiedene Streitbeilegungsmechanismen, Formen friedlicher Konfliktbeilegung, Konflikttransformation oder auch konsensorientierte Konfliktlösungsstrategien.5 Die Mesoebene fokussiert auf gesellschaftliche Friedensbedingungen. Hier spielen Theorien der Demokratisierung und Zivilisierung (Demokratischer Frieden, Zivilisatorisches Hexagon etc.) eine zentrale Rolle. Auf der Makroebene werden vor allem systemische Bedingungen untersucht. Dazu zählen Ansätze, die auf eine Transformation der Struktur des internationalen Systems zielen wie beispielsweise Verrechtlichung, internationale Organisationen und Regime sowie wirtschaftliche Kooperation und Freihandel. Zudem finden sich konstruktivistische Ansätze, die auf eine Veränderung von Wahrnehmungen und der Etablierung einer Friedenskultur setzen.

Der Philosoph Georg Picht (1975, S.46) vertritt dagegen die These, es gehöre zum Wesen des Friedens, dass er nicht definiert werden könne. Stattdessen fokussiert er auf die Dimensionen politischen Handelns, anhand derer der Friedenszustand realisiert werden müsse, denn – so Picht (1971, S.33) – „[w]enn wir Frieden herstellen, definiert er sich selbst“. In diesem Kontext deckt er drei Parameter des Friedens auf, die unauflöslich miteinander zusammenhängen: Schutz gegen Gewalt, Schutz vor Not und Schutz der Freiheit. Der Politikwissenschaftler Dieter Senghaas fügt später eine vierte Dimension hinzu: Schutz vor Chauvinismus beziehungsweise positiv formuliert die Anerkennung kultureller Vielfalt (vgl. Senghaas und Senghaas-Knobloch 2017). Nach Picht (1971, S.33) müsse jede Ordnung – innergesellschaftlich wie international – friedlos sein, die eine dieser Dimensionen vernachlässige. Auch wenn Picht explizit auf eine Definition des Friedens verzichtet, lässt sich unschwer erkennen, dass Frieden hier inhaltlich weiter als der negative Frieden gefasst wird.