Der Krieg

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Ilja Steffelbauer — DER KRIEG

Von Troja bis zur Drohne

Für Karin

Ilja Steffelbauer, geboren 1976, studierte Alte Geschichte und Geschichte in Wien und Athen. Jahrelang als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lektor an der Alten Geschichte und an der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien tätig, mit Schwerpunkt Militärgeschichte. Als Mitbegründer von Amaltheia, Verein für Geistes- und Humanwissenschaften, ist ihm populäre Wissensvermittlung ein Anliegen.

Ilja Steffelbauer

DER KRIEG
Von Troja bis zur Drohne

mit 90 Abbildungen


„Wer den Frieden will, studiere den Krieg.“


Mars ist müde. Diego Velázquez malt ihn ca. 1640. Der Dreißigjährige Krieg tobt seit über zwanzig Jahren. Seit mehr als siebzig Jahren versuchen die Spanier, ihre rebellischen Untertanen in den Niederlanden zur Räson zu bringen. Das „Goldene Jahrhundert“ Spaniens frisst den Reichtum der Amerikas und lässt eine ausgelaugte Weltmacht zurück.

Inhalt

Vorwort

Einst waren wir Krieger

Neuguinea, 1961 n. Chr.

Robert Gardner, Anthropologe

Der Held

Troja, Anatolien 1230 v. Chr.

Achilleus, Sohn des Peleus

Der Söldner

Kunaxa, Mesopotamien 401 v. Chr.

Xenophon, Sohn des Gryllos

Der Legionär

Alesia, Gallien 52 v. Chr.

Gaius Julius Cäsar

Der Kreuzfahrer

Arsuf, Palästina 1191 n. Chr.

Richard I. Löwenherz

Der Reiterkrieger

Muhi, Ungarn 1241 n. Chr.

Subutai der Tapfere

Der Kriegsherr

Nagashino, Japan 1575 n. Chr

Oda Nobunaga

Der Seeoffizier

Abukir, Ägypten 1798 n. Chr.

Horatio Nelson

Der Kavallerist

Omdurman, Sudan 1898 n. Chr.

Winston Churchill

Der Sanitäter

Piave, Italien 1918 n. Chr.

Ernest Hemingway

Der Putschist

Ankara, Türkei 1960 n. Chr.

Cemal Gürsel

Der kalte Krieger

Moskau, UdSSR 1983 n. Chr.

Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow

Der Terrorist

Gesichter des Krieges von heute

China Keitetsi, die Kindersoldatin Mohammed Omar, der Taliban Osama bin Laden, der Terrorist Brandon Bryant, der Drohnenkrieger

Bildnachweis

VORWORT

Ahnungslosigkeit darüber, was er bedeutet, treibt niemanden in den Krieg; Angst hält keinen davon ab, der einen Nutzen in ihm sieht.

(HERMOKRATES VON SYRAKUS in THUKYDIDES 4.59)

Es ist leicht, den Krieg zu verdammen, und in Bausch und Bogen alles, was mit ihm zu tun hat. Sie und ich werden mit großer Wahrscheinlichkeit keinen Krieg beginnen. Krieg ist eine recht exklusive Sünde für Könige und Präsidenten. „Auf den König,“ seufzt der exemplarische Kriegerkönig Heinrich V. in Shakespeares Stück in der dunkelsten Stunde der Nacht vor der Schlacht von Agincourt, „lasst uns all unsere Sünden abladen!“ Man macht es sich leicht: Kriege, wie alle Menschheitsübel, sind einfacher zu ertragen, wenn man sich selbst nicht unmittelbar schuldig fühlen muss. Wenn Böses geschieht, weil böse Menschen Böses tun, dann ist es leicht gut zu sein, wenn man keine Gelegenheit dazu hat.

Sünden, an denen wir alle Anteil haben, relativieren wir gerne: Welthunger, Epidemien, Umweltzerstörung, organisiertes Verbrechen mit Prostitution, Menschen- und Drogenhandel und selbst der Tod im Straßenverkehr – all das fordert alljährlich mehr Opfer als alle bewaffneten Konflikte zusammen. Und all das erregt bei Weitem nicht so viel einhellige Ablehnung wie der Krieg. So leicht kann man sich aber nicht aus der Verantwortung stehlen. Die Wanderung durch die Geschichte des Kriegs im folgenden Buch zeigt eines unleugbar: Krieg ist systemisch. Kriege sind keine Unfälle der Geschichte, keine Verbrechen historischer Schurken, sondern funktionale Elemente der politischen und wirtschaftlichen Ordnung einer Gesellschaft. Menschen ziehen in den Krieg, weil sie einen Nutzen darin sehen; manchmal im Krieg selbst, oft in der erhofften Nachkriegsordnung.

Wir werden Menschen begegnen, die gute Gründe hatten, Krieg zu führen und sehr wohl wussten, worauf sie sich einließen; die die Alternativen bedachten und Krieg als die vorteilhaftere erkannten. Kaum einer von ihnen war deswegen ein böser Mensch. Mancher ist vielleicht gierig gewesen, ehrgeizig oder abenteuerlustig; doch keine dieser Eigenschaften ist per se unmoralisch. Im Kontext ihrer Zeit konnte jede dieser Motivationen indes dazu führen, dass sie zum Schwert griffen, um ihre Interessen durchzusetzen, weil Krieg ein akzeptiertes Mittel zu diesem Zweck war. Krieg war immer die Fortsetzung eines anderen Unterfangens mit gewaltsamen Mitteln. Und Gewalt ist – entgegen der populären Plattitüde – eine Lösung; weil sie, wie alle Lösungen im menschlichen Dasein nur eine auf Zeit sein muss. Wenn wir den Feind heute niederwerfen, haben wir Frieden in unseren Tagen. „Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor,“ war daher auch die Maxime der Römer. Rom ist Staub, doch garantierte es mit diesem Motto immerhin Jahrhunderte des Römischen Friedens. Friede auf Zeit, scheint es, ist alles, worauf je zu hoffen war.

Daran hat sich nichts geändert. Dieser Friede ist ein Friede auf Zeit! Unsere Lebensweise wird tatsächlich am Hindukusch verteidigt. Ihre und meine. Gewalt ist weiterhin die einfachere Lösung, weil es tatsächlich leichter ist, in einem Land weit, weit weg eine Generation lang Krieg zu führen, als einen funktionierenden Staat aufzubauen und eine Gesellschaft so umzuformen, dass sich bis in die Köpfe jedes Einzelnen die Ansicht durchsetzt: Gewalt ist eben keine Lösung. Das ist der tiefe, intellektuelle Graben, der jeden von uns von den meisten Menschen, deren Schicksale dieser Band thematisiert, trennt: Wir sind Produkte einer Kultur, die uns individuelle Gewalt weitgehend abgewöhnt hat. Deswegen fällt es uns auch so schwer, den Krieg – die maximale Form der kollektiven Gewalt – weiterhin zu ertragen, selbst wenn er andere betrifft. So elend macht es uns, ihn anzusehen, dass wir Gefahr laufen, ihn zu verdrängen.

„Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“ ist ein hilfloser Aufruf zur Realitätsverweigerung. Doch wir sind keine Kinder mehr. Das Ungeheuer geht nicht weg, nur weil wir unsere Augen davor verschließen. Wir müssen Mars ins Angesicht schauen und sagen: „Ich kenne dich, alter Mann! Ich kenne deine Tricks und deine Fallstricke. Du wirst mich nicht mehr überlisten!“ Indem wir anhand des Lehrbuchs, das uns die Geschichte eröffnet, lernen, weshalb Kriege geführt werden, welchen Nutzen und welche Risiken sie bergen, können wir das Ungeheuer domestizieren. Wir sollten vielleicht nicht vorschnell hoffen, dass wir es endgültig wegsperren können. Beizeiten wird es uns noch dienen müssen.

Ilja Steffelbauer


Im abgeschiedenen Hochland von Neuguinea sitzt ein Mann mit einer Kamera und filmt Krieg. Es ist der ethnographische Filmemacher Robert Gardner. Wir schreiben das Jahr 1961. West-Neuguinea ist der letzte Rest des holländischen Kolonialreiches, an den sich die ferne Metropole noch klammert. Im dschungelbedeckten Hinterland der Insel befindet sich in diesen Jahren so etwas wie ein Eldorado für Ethnologen. Es sind die letzten weißen Flecken auf der ethnographischen Landkarte der Welt, die hier gerade beseitigt werden. Die Existenz der Völker im bergigen Inneren der Insel wurde erst in den Jahrzehnten vor dem Weltkrieg bekannt. Die Dani des Hochlandes, deren Kultur und Gesellschaft Gardner mit der Kamera einfangen möchte, wurden in den 1930ern zum ersten Mal gesichtet: von einem Flugzeug aus. Der Österreicher Heinrich Harrer wird ein Jahr nach Gardner das Gebiet auf dem Weg zur Besteigung des Puncak Jaya durchqueren. Auch er verzeichnet in seinen Erinnerungen, was der Filmer ebenfalls feststellt: Die Dani lebten effektiv in der Steinzeit; und sie waren extrem kriegerisch. Mehrmals musste der Bergsteiger auf seiner Expedition wegen abrupt ausgebrochener Stammesfehden seine Route ändern oder gar um sein Leben fürchten.

 

1963: Gardner ist zurück in den USA. An der Universität Harvard, wo er das Film Study Center leitet, das er begründet hat, schneidet er aus seinen Aufnahmen aus Neuguinea einen Film. Im intellektuellen Netzwerk der amerikanischen Ostküste, in deren Zentren die Ivy League Universitäten wie Harvard stehen, brodelt es. Die ersten


EINST WAREN WIR KRIEGER

Robert Gardner, Anthropologe

* 5. November 1925, Brookline, Massachusetts

T 21. Juni 2014, Cambridge, Massachuset

Vertreter der Friedensbewegung formieren sich. Der 1960 gewählte US-Präsident John F. Kennedy betreibt eine Politik der Eskalation im Kalten Krieg. Die Kubakrise bringt die Welt an den Rand der nuklearen Vernichtung. In Vietnam sieht der junge Präsident seine Chance, frühere Rückschläge wie die desaströse Invasion in der Schweinebucht wieder auszubügeln. Am 22. November 1963 stirbt er in Dallas durch die Kugeln eines Attentäters. Sein Nachfolger Lyndon B. Johnson setzt auf eine noch härtere Gangart in Südostasien. Binnen Jahresfrist werden amerikanische Soldaten auf dem Weg nach Vietnam sein und Ende des Jahres gibt es die ersten landesweiten Proteste gegen den Krieg in Vietnam. Junge Männer, meist an den liberalen Universitäten Kaliforniens und der Ostküste, zerreißen ihre Einberufungsbefehle. In diesem Klima stellt Gardner seinen Film über die Dani fertig. Er nennt ihn „Dead Birds“. Der Film reflektiert die Sinnlosigkeit und Unerklärlichkeit des Kriegs scheinbar in einem fernen Spiegel am anderen Ende der kulturellen Entwicklung der Menschheit. Es ist ein Film für eine Generation, die nicht bereit ist, sich in den absurden Riten ihrer Häuptlinge abschlachten zu lassen: „Why war?“ werden sie auf ihre Transparente schreiben.

Als Gardner die Dani filmt, herrscht in der Anthropologie – der Wissenschaft, die hierzulande meist immer noch altväterlich „Völkerkunde“ genannt wird – die Ansicht, dass die Hochlandstämme Neuguineas und anderen mehr oder weniger isolierte Ethnien, die zur selben Zeit in entlegenen Regionen des Globus entdeckt werden, sozusagen lebende Fossilien sind: Menschen, deren Gesellschaft und Technologie sich seit der Steinzeit nicht verändert haben. Sie boten damit sozusagen Fenster in unser aller ferne Vergangenheit. Und durch dieses Fenster sieht Gardner, ähnlich wie Napoleon Chagnon, der etwa zeitgleich ein anderes isoliertes Volk, die Yanomami im brasilianischen Urwald, untersucht, vor allem eines: Krieg. Die gesamte Kultur und Gesellschaftsordnung dieser steinzeitlichen Gesellschaften schien sich um Krieg und Gewalt zu drehen, was Chagnon dazu veranlasst, sein 1968 erschienenes Buch über die Yanomami „The Fierce People“ – etwa das „grimmige“ oder „kämpferische“ Volk – zu nennen. Seine Betonung der brutalen und gewalttätigen Seiten dieser indigenen Kultur bringt ihm viel Kritik ein, genauso wie Gardner in der Zunft vorgeworfen wird, dass er die Menschen Neuguineas, die er gefilmt hat, nicht zu Wort kommen lässt und sie seiner eigenen großen Erzählung von Gewalt und Krieg unterordnet. Die Faszination der amerikanischen Ethnologie der 1960er mit der kriegerischen und gewalttätigen Seite dieser Völker kann aber auch im Kontext der Zeitgeschichte gelesen werden: Eine Gesellschaft, die innerlich zerrissen ist durch ihre Rolle in einem höchst kontroversen Krieg, suchte am fernstmöglichen Ort nach Versicherung; nach einer Antwort auf die bange Frage, ob menschliches Dasein immer von Krieg und Gewalt bestimmt war. In einer Zeit, in der die Möglichkeit der völligen Vernichtung der Spezies und eines großen Teils der irdischen Biosphäre durch den nächsten großen Krieg in greifbare Nähe rückte, schien ein wenig Introspektion dringend angeraten:

Wilde Krieger: Die Dani im Hochland Neuguineas leben in einer Welt ständiger Kämpfe zwischen benachbarten Dorfgemeinschaften.

War der nackte Affe, der jetzt am roten Knopf saß, seiner Natur nach kriegerisch oder friedlich?

Jede Antwort auf diese Frage ist dazu geeignet, einen Teil der Fragenden zu enttäuschen.

Eden

Nach übereinstimmender Ansicht der Paläontologen tritt der moderne Mensch – Homo sapiens – vor ca. 200.000 Jahren in Afrika in Erscheinung. Von dort verbreitet er sich in einem einzigartigen Siegeszug über die ganze Welt. Kaum eine Spezies von Säugetieren erweist sich als so anpassungsfähig wie der aufrecht gehende Affe aus der Savanne Ostafrikas. Vor 100.000 Jahren erreicht er den Nahen Osten, vor 70.000 Jahren Indien und Südostasien, Australien vor 50.000, Europa vor 40.000 Jahren und kurz danach dringt er in das Innere Asiens und von dort über die eiszeitliche Landbrücke nach Amerika vor. Die Arktis und einige abgelegene Inseln wie Madagaskar und Neuseeland wird er „erst“ in den letzten paar tausend Jahren erreichen. 190.000 dieser 200.000 Jahre seiner Existenz als Spezies verbringt der Homo sapiens als Sammler und Jäger in kleinen Wandergruppen von selten mehr als 20 Mitgliedern mit einem recht bescheidenen kulturellen Inventar, welches er zu einem erklecklichen Teil von seinen protomenschlichen Vorfahren übernommen hat. Neben dem Feuer als wichtigster Errungenschaft beinhaltet es Speere, Steinklingen, und wo nötig, schützende Kleidung aus Fell. Selbst Pfeil und Bogen fügt er seiner Ausstattung erst vor etwa 60.000 Jahren hinzu. Vor ca. 40.000 Jahren beschleunigt sich der kulturelle Fortschritt und mit der Entwicklung von Sesshaftigkeit und Ackerbau beginnt vor ca. 10.000 Jahren eine neue Ära, in der wir – selbst wenn heute in entwickelten Industriegesellschaften nur mehr wenige Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt sind – intellektuell immer noch zuhause sind: das agrarische Zeitalter.


Das altsteinzeitliche Paradies war voll mit jagdbarem Wild. In der neolithischen Welt musste man sich im Schweiße seines Angesichts nähren.

Lucas Cranach der Ältere (1472–1553): Paradies, 1530; Staatliche Kunstsammlung Dresden, Gemäldegalerie

Die Fenster in die menschliche Vergangenheit, die Gardner und Chagnon aufstießen, blicken nicht auf die lange altsteinzeitliche Kinderstube der Menschheit, sondern auf die früheste Entwicklungsstufe jener neolithischen Welt, in der wir trotz allem technischen Schnickschnack heute noch leben. Zumindest sind unsere beherrschenden Obsessionen so geartet, dass wir den Dani mit ihren Steinäxten und Penisfuteralen näher sind als jedem Menschen, der in den 190.000 Jahren vor der früher sogenannten „Neolithischen Revolution“ gelebt hat. Wir sind besessen von Besitz und der Kontrolle über Land und Güter, was auch Besitzansprüche über andere Menschen – heutzutage meist unsere Partner und Kinder, nur mehr selten Sklaven oder Leibeigene – miteinschließt. Wir rackern uns ab, um diesen zu erlangen und sicherzustellen. Wir teilen die Welt in Angehörige unseres Stammes und andere. Wir gehorchen Häuptlingen und Priestern und finden es richtig, dass sie sich mit Reichtümern schmücken. Wir sind der Meinung, dass unser Gott stärker ist als der des Nachbarstammes und sind diesbezüglich immer noch ziemlich reizbar. Schließlich und endlich sind wir bereit, für diese Götzen – Besitz, Stamm und Gott –, wenn unsere Anführer es wollen oder wir individuell zu dem Schluss kommen, dass es angemessen wäre, einem Artgenossen den Schädel einzuschlagen. Durch und durch (jung-)steinzeitliche Sentiments also.

In den 190.000 Jahren davor hatte das menschliche Leben eine gänzlich andere Qualität. Einblick in diese Phase der Menschheitsgeschichte geben uns, von den archäologischen Funden abgesehen, vor allem ethnologische Forschungen an jenen wenigen Völkern, die noch in historischer Zeit als altsteinzeitliche Sammler und Jäger lebten. Die San – die sogenannten „Buschleute“ der Kalahari – sind von diesen recht bekannt geworden, doch finden sich isolierte Sammler-und-Jäger-Populationen immer noch auf allen Kontinenten, auch wenn sie rasch im Verschwinden begriffen sind. Sieht man sich dabei jene Gruppen an, die am wenigsten mit sesshaften Ackerbauern und der modernen Welt in Kontakt gekommen sind, offenbart sich eine phantastische Welt, die so unglaublich erscheint, dass sie es selten in die populäre Öffentlichkeit schafft. Sie passt so gar nicht zur immer noch vorherrschenden Erzählung von Fortschritt und Aufstieg aus einer dunklen Vergangenheit, in der das Leben, um Thomas Hobbes zu zitieren, „nasty, brutish and short“ gewesen sein soll. Ein, zwei Dutzend Menschen wandern gemeinsam durch die Wildnis. Das kulturelle Inventar ist bescheiden, aber hinreichend an die Umwelt angepasst. Diese Menschen sind weder dumm noch einfallslos. Sie wissen nur sehr genau, was man brauchen kann, und was nicht. Immerhin hatte man Jahrzehntausende Zeit das herauszufinden. Der Lebensunterhalt wird durch die Jagd auf Tiere, Fischen und das Sammeln wilder Früchte sichergestellt. Doch noch erstaunlicher sind die sozialen Verhältnisse und die Geisteswelt dieser Menschen, die uns die archäologischen Überreste unserer steinzeitlichen Vorfahren leider nur ungenügend überliefern. Wir können es aber an den rezenten Vertretern dieser Lebensweise gut beobachten: Es gibt keinen Besitz. Warum auch? Jedes einzelne Objekt im kulturellen Inventar kann jedes Mitglied der Gesellschaft relativ leicht jederzeit aus den in der Umwelt reichlich verfügbaren Rohstoffen herstellen. Manches erfordert mehr Mühe, aber das sind meist Objekte wie Steinäxte oder ein Blasrohr, von denen man nicht mehr als ein, zwei im Leben braucht. Mehr zu besitzen hat ohnehin keinen Sinn. Warum soll man zwei Bögen oder zwei Steinäxte haben wollen? Man kann ohnehin immer nur eine gleichzeitig benutzen. Außerdem müsste man seinen angehäuften Besitz bei den häufigen Lagerwechseln mitschleppen. Eine unnötige Mühe. Es gibt auch keinen Diebstahl. Wie soll man in einer Gruppe von zwanzig Personen davon profitieren, dass man jemandem etwas wegnimmt? Jeder weiß, dass man der Dieb ist. Und keiner findet das gut. Es wird ohnehin alles geteilt. Wenn die Beute ins Lager kommt, legen die Jäger – ja, es sind tatsächlich meist die Männer – sie beim Feuer auf die Erde und zerteilen sie. Jeder nimmt sich dann, was er will. Die klassische Methode an Kindergeburtstagen, einen die Torte aufschneiden und einen anderen austeilen zu lassen, funktioniert auch hier. Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind informell, aber recht stabil, zumindest so lange es nötig ist Kinder zu versorgen. Selbst dann ist eine Trennung keine Katastrophe, werden die Kinder doch ohnehin von der ganzen Gruppe gemeinsam aufgezogen. Im Endeffekt treffen die Frauen die Entscheidung, und die achten schon darauf, sich nicht mit einem treulosen Casanova einzulassen. .Aus nachvollziehbarem Eigeninteresse. Man hat ohnehin viel Zeit, Beziehungen zu pflegen, denn die durchschnittliche Tagesarbeitszeit beträgt nur wenige Stunden. Auf die Jagd geht man, wenn man großen Beutetieren nachstellt, ohnehin nur alle paar Tage. Ist die Beute kleiner, muss man öfter ran. Kommt es zu Konflikten – was auch in diesem scheinbaren Hippie-Paradies vorkommt –, arbeitet die ganze Gruppe daran, diese beizulegen. Jeder kriegt schließlich alles mit und Privatsphäre gibt es keine. Man ist ja aufeinander angewiesen, weswegen sich alle darum bemühen, die Wellen zu glätten. Geht es wirklich nicht anders, trennt man die Streithähne – der häufigste Grund für böses Blut ist übrigens der Streit um einen begehrten Partner –, indem man einem der beiden nahelegt, sich einer anderen Gruppe anzuschließen. Die Zusammensetzung der Gruppen fluktuiert tatsächlich recht häufig. Wenn man sich auf der Wanderung begegnet, ist es eine der seltenen Gelegenheiten sich auszutauschen. Neue Freundschaften entstehen und es ist nichts dabei, wenn sich dann jemand einige Zeit einer anderen Gruppe anschließt. So lernt man andere Leute kennen, sieht einen neuen Teil der Jagdgründe und lernt vielleicht den einen oder anderen neuen Kniff, den die eigenen Leute noch nicht kannten. Wer sollte es einem auch verbieten? Es gibt keine Häuptlinge, keine Priester. Die einzige Art von Führerschaft, die Sammler und Jäger kennen, ist die des Kompetentesten. Der erfahrenste Jäger führt die Jagd an. Die erfahrenste Frau sucht den Lagerplatz aus. Da gibt es wenig zu diskutieren. Jeder weiß schließlich, wer Ahnung hat und wer nicht. Wenn unterschiedliche Meinungen bestehen, diskutiert man das halt aus. Wenn die Lage kritisch ist – etwa weil der Tiger ums Lager schleicht –, weiß jeder, wer jetzt das Sagen hat. Man kennt einander gut genug. Was es nicht gibt, in dieser seltsamen Welt der Sammler und Jäger, sind gewaltsame Konflikte zwischen Gruppen. Ja, es gibt Meinungsverschiedenheiten, sogar Gewalt. Streitereien können schon mal zu einer Prügelei führen. Junge Männer sind – wie überall – schnell dazu geneigt, eine Differenz mit den Fäusten auszutragen. Doch geht dies selten über eine zünftige Rauferei hinaus. Totschlag im Affekt ist wahrscheinlich das einzige Gewaltverbrechen, das es in diesen Gesellschaften gibt. Und das ist extrem selten. Gruppen gehen so gut wie nie aufeinander los. Warum sollten sie auch? Das Jagdgebiet ist groß genug und die Natur so übervoll, dass es nichts gibt, worum es sich zu kämpfen lohnt. Geht man einander aus irgendeinem Grund auf die Nerven, zieht eben eine Gruppe fort. Woanders ist es auch schön und weiter oben am Fluss springen auch die Fische.

 

Ist dies das Paradies, das Goldene Zeitalter, von dem so viele Mythen behaupten, dass es am Anfang der Menschheitsgeschichte stand?

Als der amerikanische Anthropologe Marshall Sahlins diese Darstellung einfacher Sammler-und-Jäger-Gesellschaften erstmals bei der Konferenz „Man the Hunter“ 1966 vorstellte, erschütterte er einen wissenschaftlichen Konsens, der zumindest seit den Philosophen der Aufklärung bestanden hatte. Der kulturelle und zivilisatorische Fortschritt der Menschheit wurde als ein stetiger, mühsamer Aufstieg aus Armut und ständiger Bedrohung zu materiellem Wohlstand, Freiheit und Sicherheit im Kontext eines wohl eingerichteten Staatswesens angesehen. Als John Kenneth Galbraith 1958 den Begriff der „Überflussgesellschaft“ prägte, war er gemäß der klassischen Theorie der Nationalökonomie der Überzeugung, dass die Bedürfnisse des Menschen unendlich wären. Erst die kapitalistische Industriegesellschaft habe nach Jahrtausenden der Deprivation die Mittel geschaffen, um den meisten zumindest das meiste zu ermöglichen, was sie sich nur wünschen konnten. In der Wirtschaftswunderwelt der amerikanischen Fünfziger, wo alles, was bisher als Luxus galt – Kühlschränke, Fernseher, ein komfortables Eigenheim, Fernreisen – plötzlich für die breite Masse erschwinglich wurde, erschien das als eine durchaus glaubhafte Theorie. Dem setzte Sahlins eine ebenso machtvolle Erzählung entgegen, für die er nicht zufällig Galbraiths Wortschöpfung kaperte: „Die ursprüngliche Überflussgesellschaft“ erschien 1968. Auch sonst ein Epochenjahr in der Nachkriegsgeschichte.