Demokratietheorien

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Zwar verblasste der Optimismus im Lauf des 15. Jahrhunderts angesichts des Aufstiegs mächtiger Adelsfamilien, die das politische Leben der Bürgerschaft unterdrückten und die Republik in die Signorie, die monokratische Herrschaft einzelner Männer, transformierten, doch lebte der republikanische Gedanke und der durch ihn entfachte Tugenddiskurs fort. Im 16. Jahrhundert wurde er durch Niccolò Machiavelli (1469-1527) erneuert und zur Inspirationsquelle der englischen, amerikanischen und französischen Revolutionäre.3 Verharrten die frühen Humanisten noch im Rahmen der christlichen Weltanschauung, die sie durch die alten Wertvorstellungen zu erweitern und zu beleben suchten, so betonte Machiavelli die unüberbrückbare Kluft zwischen beiden Welten, um die Synthese aufzusprengen und der „verweiblichten“ christlichen Ethik die „männliche“ der alten Römer entgegenzustellen, d. h. die Politik aus der religiösen Bevormundung und den von ihr erzeugten Skrupeln zu befreien. Gegen die Maximen der christlichen Sozialethik – Gottes- und Nächstenliebe, Leben in Demut und Bescheidenheit, Barmherzigkeit und Feindesliebe, Verachtung der irdischen Güter, Glaube an ein Leben nach dem Tod usw. – stellte er den heidnischen Wertekanon, der sich auf die Jetztzeit konzentriert und die klassischen Tugenden der Tapferkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit und Weisheit sowie vor allem Stärke und Standhaftigkeit, Disziplin und Vaterlandsliebe propagiert. Getrieben von der Sehnsucht nach Vereinigung des zerrissenen und nach Befreiung des von fremden Mächten belagerten Italiens entwarf Machiavelli die Maximen einer Politik, die keine Rücksicht nimmt auf die Gebote der christlichen Ethik und die Bedürfnisse der Einzelnen und Familien, sondern sie dem Interesse des Staates unterordnet. So wurde er zum Begründer der Staatsraison, dem Leitstern der frühneuzeitlichen Politik.

Im Principe (1513), in den Discorsi (1513-1522) sowie in seiner Geschichte der Stadt Florenz (1520-1525) unternahm Machiavelli eine schonungslose Analyse der geschichtlichen Lage. Darin wurde Selbstbehauptung anstatt Selbststeigerung zum Ausgangspunkt und Grundprinzip der politischen Theorie, womit zugleich die empirisch-analytische, d. h. die nicht- oder anti-normativistische Politikbeobachtung einsetzte, wie sie noch heute die Politikwissenschaft dominiert. An die Stelle teleologischer Prämissen trat die Frage nach Regel- und Gesetzmäßigkeiten. Zweck des Politischen sollte nur mehr die Sicherung des Friedens, die Freiheit Italiens und seine staatliche Einheit sein. Alle Mittel, die diesem obersten Ziel dienen konnten, mussten recht sein. Zwar war Machiavelli ein Anhänger der Republik, doch hatte er als junger Mann den mit seiner Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen jämmerlich scheiternden Versuch Savonarolas miterlebt, eine direktdemokratische Ordnung in Florenz zu etablieren (1494-1498), und daraus den Schluss gezogen, unter den gegebenen Bedingungen sei eine kraftvolle Monarchie vorzuziehen. Zur Herstellung des Friedens und um dem allgemeinen Sittenverfall zu begegnen, schien es ihm deshalb geboten, dem Fürsten Zugeständnisse zu machen, ihn aus der Bindung an Recht und Gesetz zu entlassen und allein auf seine Tüchtigkeit und seinen Verstand zu vertrauen, seine virtù und ragione, durch die er die Notwendigkeit und das Glück bezwingen kann, die ehernen Geschichtsmächte necessità und fortuna.

Damit begründete der Florentiner jene Politiktradition, die bis heute unter dem pejorativen Titel Machiavellismus zusammengefasst und als skrupellose Machtpolitik oder „Dämonie“ perhorresziert wird. Machiavelli selbst war jedoch kein Machiavellist, sondern verzehrte sich in der patriotischen Sehnsucht nach Vereinigung des zerrissenen Italiens und seiner Befreiung von französischer, deutscher und päpstlicher Fremdherrschaft. Durch seine so motivierten theoretischen Leistungen wurde er zum bahnbrechenden Klassiker des politischen Denkens und zum Ausgangspunkt zweier gegensätzlicher politischer Strömungen. Seine theoretische Neuerung liegt in der Emanzipation des Politikdenkens von den überkommenen religiösen und moralisch-sittlichen Einbindungen. Er schuf eine Terminologie, die es erlaubte, politische Interessen (wieder) in ihrer autonomen Logik wahrzunehmen und ihr gemäß zu definieren und auch zu verfolgen. Diese Einsicht verpflichtete ihn aber keineswegs auf die Tradition des Etatismus (Staatsraison), wie er sie in seinem Principe begründete. Vielmehr konnte sich die aus der religiösen Obhut entlassene Politik durchaus auch republikanisch entfalten – das zeigen die Discorsi, mit denen Machiavelli den Florentiner Bürgerhumanismus beerbte und eine anti-etatistische Denkschule begründete, die den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit in der Amerikanischen und Französischen Revolution erreichte und heute von einigen Autoren wiederbelebt wird. Zwar hatte der gelernte Jurist nur geringe philosophische Kenntnisse, doch gerade dies verschaffte ihm die Distanz, die den radikalen Bruch mit der Tradition und einen Neuanfang ermöglichte. Indem er die christliche Ethik verwarf, gewann Machiavelli eine Position, von der aus die Phänomene der politischen Welt nicht mehr heilsgeschichtlich verklärt erscheinen mussten, sondern in ihrem Eigensinn begriffen werden konnten.

Zu ganz ähnlichen Resultaten gelangte – von völlig verschiedenem Ausgangspunkt her und fast in konträrem Interesse – Machiavellis Zeitgenosse Martin Luther (1483-1546), der die virulente Kritik an der Papstkirche radikalisierte und die Religion aus dem Quellgrund des christlichen Glaubens erneuern wollte. Ihre Symbiose mit der Politik musste aufgelöst werden! In der Vermischung von Weltlichem und Geistlichem erblickte Luther das Grundübel seiner Zeit, das ein für alle Mal zu beseitigen war. Ausgehend vom urchristlichen Prinzip der Gottes- und Nächstenliebe begründete er die Notwendigkeit einer prinzipiellen Trennung von Religion und Politik, um die Kirche, die „Bürgerschaft Gottes“, der weltlichen wie der geistlichen Herrschaft zu entwinden. Dafür sollte umgekehrt die profane Politik dem Zugriff des Klerus entzogen sein. Luther und Machiavelli sind daher nicht nur Zeitgenossen, sie sind sich auch in der Sache sehr nah. Beider Wollen hat dieselbe Folge: Befreiung der Politik aus der geistlichen Vormundschaft und Stärkung der weltlichen Herrschaft durch Entmachtung der römischen Kirche.

Die von Luther ausgelöste Reformation setzte eine tiefe Zäsur in die europäische Geschichte. Durch sie wurde die Idee der Einheitswelt eines Orbis christianus, die Hoffnung auf ein weltumspannendes christliches Reich, die das mittelalterliche Denken der Christen beherrscht und geleitet hatte, beerdigt. Sie fand zwar weiterhin Verfechter – bis hin zu den katholischen Gegenrevolutionären des 19. Jahrhunderts –, hatte aber keine Realisierungschance mehr. Folge der Reformation war die Spaltung der christlichen Kirche. Der Protestantismus trennte sich vom Katholizismus und entwickelte neue Formen der Kirchenverwaltung, des Glaubens und der Liturgie. Im Gefolge der Reformation durchlitt Europa im 16. und 17. Jahrhundert eine Welle blutiger Bürgerkriege, in denen sich die Christen gegenseitig abschlachteten. Sie erschütterte den Kontinent und erreichte ihren Höhepunkt im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648). Als Katalysator der Formierung souveräner Staaten war die Reformation die wohl wichtigste Schubkraft im Prozess der Trennung von Religion und Politik und der Entstehung des europäischen Staatensystems, das im Westfälischen Frieden von1648 seine für Jahrhunderte gültige Form und Gestalt fand. Durch Konzentration und Zentralisation der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt – in Händen von absoluten Monarchen oder Parlamenten – entstand der nach innen wie außen souveräne, aus ständischer Herrschaft gelöste, durch Bürokratie und stehendes Heer institutionell konsolidierte Staat, der auf einem fest umgrenzten Territorium das „Monopol legitimen physischen Zwanges“ bzw. der „Gewaltsamkeit“ behauptet,4 mit Hilfe von Polizei und Verwaltung den innerstaatlichen Frieden sichert und seine Beziehungen zu anderen Staaten in Krieg und Frieden rechtlich regelt, ohne eine übergeordnete Entscheidungsund Befehlsinstanz zu akzeptieren. Die klassische Begründung des modernen, rechtlich unbeschränkten Staates entwickelte Thomas Hobbes (1588-1679), der ihn auf den Vertrag eines jeden mit einem jeden zurückführte, durch den der Naturzustand beendet wird – der Krieg eines jeden mit einem jeden. Hobbes‘ Leviathan (1651) wurde zum Ausgangs- und kritischen Bezugspunkt aller folgenden Staatstheorien, die um die Frage nach der konkreten Staatsform (Monarchie oder Republik, Aristokratie oder Demokratie) und der Rechte und Grenzen des Staates kreisten. In ihrer kontroversen Diskussion reflektiert sich die moderne Transformation vom absolutistischen Fürsten- zum gewaltenteiligen Verfassungsstaat, vom monarchischen Macht- zum bürgerlichen Rechtsstaat, vom Stände- zum Repräsentativstaat und zur parlamentarischen Demokratie sowie schließlich vom liberalen Nachtwächter- zum Interventions-, Sozial- und Wohlfahrtsstaat. Der Demokratiebegriff behielt dabei lange den negativen Klang, den ihm einst Platon und Aristoteles eingelegt und abgelauscht hatten. Noch Marsilius von Padua, der für eine gemäßigte Demokratie votierte und die Partizipation der Bürger stärken wollte, verstand Demokratie im Anschluss an Aristoteles als Herrschaft des Pöbels (I,8,3).

Der erste Denker, der einen eindeutig positiv konnotierten Demokratiebegriff entwickelte, war Baruch de Spinoza (1632-1677), der ihn aus einer systematischen Kritik am Leviathan des Thomas Hobbes gewann. Spinoza folgt im Theologisch-politischen Traktat (TTP) von 1670 weitgehend den Hobbes’schen Vorgaben – vom Menschenbild über die Vertragstheorie bis hin zur Staatstheorie –, diskutiert aber alle relevanten Probleme stets im Hinblick auf die demokratische Regierungsform, die ihm als die natürlichste von allen galt, weil in ihr niemand sein Recht derart auf einen anderen überträgt, dass er selbst fortan nicht mehr zu Rate gezogen werden müsste – vielmehr überträgt er es auf „die Mehrheit der gesamten Gesellschaft, von der er selbst ein Teil ist. Auf diese Weise bleiben alle gleich, wie sie es vorher im Naturzustand waren“ (TTP, XVI, 240). Spinoza radikalisiert die Hobbes’sche Forderung nach Glaubens- und Gewissensfreiheit und betont nicht nur die Freiheit des Denkens und Fühlens im Inneren des Bürgers, sondern begründet auch dessen Recht auf Meinungsäußerung nach außen (TTP, XX, 301-307), auf Kritik und freie Wahl der Religion. Er aktualisiert damit den Gedanken der religiösen Toleranz, der bereits im Kontext der Hugenottenkriege in Frankreich von Jean Bodin und in der Englischen Revolution von den Levellers vertreten wurde.

 

Der Theoretiker der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, der Klassiker des Liberalismus und des britischen Konstitutionalismus war John Locke (1632-1704). Nach Hobbes‘ grandioser Ermächtigung hielt er es nun für geboten, den Staat in seine Schranken zu weisen. Der Emanzipation der Politik von der Religion sollte die Emanzipation der Ökonomie von der Politik folgen. Die ökonomischen Beziehungen waren dem Zugriff der Obrigkeit zu entziehen, die bürgerliche Gesellschaft sollte aus dem Staatsleben freigesetzt, der Merkantilismus durch ein System der Handelsfreiheit abgelöst werden. Der Staat sollte nur so viel Macht haben, wie nötig ist, um Leben und Privateigentum der Einzelnen vor Übergriffen zu schützen und sollte selbst nicht in die Eigentumsordnung eingreifen dürfen. Darüber hinaus begründete Locke die Gewaltenteilung zwischen Krone und Parlament, wie sie in der Bill of Rights (1689) festgelegt wurde. Hatte Hobbes das seit Jahrhunderten währende Machtgerangel zwischen beiden als eine Hauptursache von Bürgerkrieg und Unfrieden ausgemacht, so sollte es nunmehr – durch Regeln gebändigt – auf Dauer gestellt werden und Grundprinzip der Verfassung sein. Der König sollte die Außenpolitik, das Parlament die Innenpolitik bestimmen, wobei der König als king in parliament auch im Innern eine bedeutende Rolle spielt. Es ging somit (noch) nicht um die Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative, sondern um Teilung und Balance der Staatsgewalt zwischen Krone und Parlament.

Die Prinzipien der Gewaltenteilung und der rechtlichen Begrenzung der Staatsgewalt wurden von Charles de Montesquieu (1689-1755) präzisiert. In seinem großen Werk Vom Geist der Gesetze (1748) konnte er zeigen, dass die Gesetze keine Diktate irgendwelcher Souveräne, sondern historisch erwirkte Festlegungen sind, die in einer Vielzahl gewachsener Gegebenheiten wurzeln. Sie sind abhängig vom Gesamtzusammenhang der jeweiligen natürlichen, sozialen, ökonomischen, religiösen, politischen, klimatischen und sonstigen Bedingungen und entspringen den konkreten Lebensverhältnissen, Gewohnheiten und Sitten, die nicht zur Disposition des Souveräns stehen. Als Grundvoraussetzung der Freiheit erschien Montesquieu die strikte Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative, wobei die exekutive Befugnis in den Händen des Königs läge, die Gesetzgebung aber Sache gewählter Repräsentanten ist. Der Autor konnte sich auf eine mehr als 50-jährige Praxis der Gewaltenbalance in England beziehen, die ihm als vorbildlich und als beste aller damals bestehenden Ordnungen galt (11. Buch, 6. Kap.). Der englische Parlamentarismus schien die ideale Verkörperung der Republik zu sein, weil hier die besten Köpfe des Volkes – ohne Bindung an ihre Wähler durch ein imperatives Mandat – durch gemeinsame Beratung das Für und Wider der Entscheidungen erörtern und durch Abwägung der theoretischen und praktischen Alternativen das Gemeinwohl sowie die Wege zu seiner Verwirklichung ermitteln.

Der Klassiker der modernen Demokratietheorie ist Jean-Jacques Rousseau (1712-1778). Er verschärfte die Hobbes-Kritik Spinozas und präzisierte den Gedanken der Volkssouveränität. Alle Befugnisse und Kompetenzen der Regenten leiten sich demnach her vom Willen des Volkes, den zu vollstrecken ihre Pflicht und Aufgabe ist. Während Montesquieu den englischen Parlamentarismus als wohlgelungene Ordnung rühmte, erblickte Rousseau in ihm eine Illusion. Er sah in den englischen Repräsentanten nicht uneigennützige Vertreter des Volkes, sondern eine volksabgehobene und volksfeindliche Clique von machtgierigen und korrupten Egoisten, die sich um das Gemeinwohl nicht scheren und sich stattdessen auf Kosten des Volkes bereichern. Deshalb suchte er nach einer alternativen Form der politischen Organisation und fand diese in der Demokratie, die seinerzeit – wie schon in der Antike – immer als direkte oder unmittelbare Demokratie verstanden wurde und daher zum Staat im Gegensatz stand. Der Ausdruck „direkte Demokratie“ wäre Rousseau und allen Denkern bis zur Französischen Revolution als Pleonasmus erschienen. In dem später geprägten Begriff „repräsentative Demokratie“ hätten sie eine contradictio in adjecto erblickt, da in ihren Augen Stellvertretung und Demokratie einander ausschließen. Der allgemeine Volkswille, die volonté générale, schreibt Rousseau im Contrat Social (1762), könne nicht von Stellvertretern „repräsentiert“ werden, sondern nur von der Gesamtheit der Bürger. Einzelne seien überfordert, wollten sie diese Aufgabe übernehmen. Das Postulat der Stellvertretung entspringe einem grundlegenden Irrtum. Wenn nämlich die Menschen, wie von Hobbes vorausgesetzt, in einem „Krieg aller gegen alle“ stehen, dann könne man von ihnen schwerlich erwarten, dass sie sich auf einen Gesellschaftsvertrag einigen. Unterstelle man aber, dass sie sich zu einem solchen Vertrag oder Bund einigen können, dann sei es absurd anzunehmen, sie müssten sich auch noch einem Dritten unterwerfen und ihre Souveränität auf diesen übertragen.

Da sich Großflächenstaaten jedoch nicht durch Zusammenkunft und öffentliche Diskussion der ganzen Bürgerschaft regieren und verwalten lassen, setzte ihnen Rousseau – inspiriert durch die erfolgreichen demokratischen Experimente in seiner Heimatstadt Genf – die Vision von kleinen und überschaubaren, direktdemokratisch organisierten Gemeinwesen nach dem Vorbild der antiken Polis entgegen, in denen die Bürger ihr tatsächliches Wollen (volonté de tous) dem allgemeinen Willen (volonté générale) angleichen, sich die Maximen der Vernunft zu eigen machen und in den Dienst des Gemeinwesens stellen, ihr privates Interesse dem der Allgemeinheit unterordnen, die Privateigentumsordnung revolutionieren und sich selbst durch eine naturgemäße Sozialisation, durch Partizipation und politisches Engagement zur Mündigkeit erziehen. Voraussetzung der Demokratie seien 1. ein sehr kleiner Staat, in dem das Volk leicht zu versammeln ist und jeder jeden Bürger kennt; 2. eine große Einfachheit der Sitten und 3. fast vollkommene Gleichheit in Bezug auf Stand und Vermögen. Soll sie realisiert werden, müssten folglich die bestehenden Staaten zerschlagen werden. An ihre Stelle hätten kleine, überschaubare Einheiten zu treten, in denen die Vermögensunterschiede aufzuheben und die Einzelnen durch eine angemessene Erziehung zu natürlicher Sittlichkeit zu befähigen wären. Rousseau selbst äußerte gelegentlich Zweifel hinsichtlich der Praktikabilität der Demokratie. Seine demokratischen Ideen wurden jedoch in der Französischen Revolution von den Jakobinern aufgegriffen, die in der Nationalversammlung die Auffassung vertraten, nur eine direkte Demokratie ermögliche eine adäquate Repräsentation, d. h. Darstellung oder Vergegenwärtigung des Volkswillens.

Anmerkungen

1 Wie Max Weber im Zuge seiner religionssoziologischen Forschungen feststellen konnte, sind die vorderasiatischen Erlösungsreligionen „fast ausnahmslos Folgeerscheinung der erzwungenen oder freiwilligen Abwendung der Bildungsschichten von politischem Einfluß und politischer Betätigung“. Vgl. Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe. Tübingen 1972, 2. Teil, Kap. V.: „Religionssoziologie (Typen religiöser Vergemeinschaftung)“, S. 245-381; hier: S. 306 f. Siehe dazu auch Hans G. Kippenberg: Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen in ihrem Zusammenhang mit der antiken Stadtherrschaft. Heidelberger Max-Weber-Vorlesungen 1988. Frankfurt/M. 1991.

2 Vgl. Hans Baron: Bürgersinn und Humanismus im Florenz der Renaissance (1988). Berlin 1992; ders.: The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny. 2 Bde. Princeton/N. J. 1955; John G. A. Pocock: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton/N. J. 1975; ders.: Die andere Bürgergesellschaft. Zur Dialektik von Tugend und Korruption. Frankfurt/M./New York 1993; Quentin Skinner: The Foundations of Modern Political Thought. Bd. 1: The Renaissance. Cambridge 2002.

3 Vgl. Herfried Münkler: Die Idee der Tugend. Ein politischer Leitbegriff im vorrevolutionären Europa. In: Archiv für Kulturgeschichte 73 (1991), S. 379-403; ders.: Die politischen Ideen des Humanismus. In: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen. Bd. 2. München/Zürich 1993, S. 553-613.

4 Vgl. M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 29, 516 ff., 821 ff., passim.

→ Dieser Beitrag ist digital auffindbar unter: DOI https://doi.org/10.46499/1651.2039

Marsilius von Padua: Die Idee der Volkssouveränität

Ausgewählt und interpretiert von Klaus Roth

Der Verteidiger des Friedens (1324)

§ 3 Wir aber wollen sagen, wie es der Wahrheit und dem Rate des Aristoteles Pol. B. 3, Kap. 6 entspricht: Gesetzgeber oder erste und spezifische bewirkende Ursache des Gesetzes ist das Volk oder die Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit (pars valencior) durch ihre Abstimmung oder Willensäußerung, die in der Vollversammlung der Bürger in einer Debatte zum Ausdruck gekommen ist; diese Mehrheit schreibt vor oder bestimmt unter zeitlicher Buße oder Strafe, daß im Zusammenleben der Menschen etwas getan oder unterlassen werden soll: die Mehrheit, sage ich – unter Berücksichtigung der Zahl und Bedeutung der Personen –, in jener Gemeinschaft, für die das Gesetz gegeben wird, mag die vorhin genannte Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit das selbst unmittelbar erledigen, mag sie es einem oder einigen zur Erledigung überweisen, die an und für sich nicht Gesetzgeber sind und es nicht sein können, sondern nur zu einem bestimmten Zwecke und nur manchmal und nur kraft Ermächtigung durch den primären Gesetzgeber. Im Anschluß daran sage ich: Durch dieselbe primäre Instanz, nicht eine andere, müssen die Gesetze und alle Abstimmungsergebnisse die notwendige Bestätigung ihrer formalen Korrektheit erhalten, was es auch mit gewissen Zeremonien oder Feierlichkeiten für eine Bewandtnis haben mag, die zum Sein des Abstimmungsergebnisses nicht erforderlich sind, sondern nur zum Gutsein, und ohne die die Abstimmung auch gültig wäre; ferner: von derselben Instanz müssen die Gesetze und alle Abstimmungsergebnisse Zusätze, Streichungen oder völlige Änderung, Auslegung und Aufhebung erfahren nach dem Erfordernis von Zeit, Ort und anderen Umständen, sofern sie eine derartige Maßregel zum Nutzen der Gesamtheit in solchen Dingen zweckmäßig erscheinen lassen. Dieselbe Instanz muß die Gesetze nach ihrer Annahme auch veröffentlichen oder verkünden, damit kein Bürger oder Fremder beim Verstoß gegen sie sich mit deren Unkenntnis entschuldigen kann. § 4 Bürger nenne ich nach Aristoteles Pol. B. 3, Kap. 1, 3 und 7, wer in der staatlichen Gemeinschaft an der regierenden, beratenden oder richterlichen Gewalt teilhat, je nach seinem sozialen Rang. Diese Beschreibung schließt von den Bürgern die Knaben, die Sklaven, die Fremden und die Frauen aus, wenn auch in verschiedenem Sinne. Denn Knaben von Bürgern sind künftige und potentielle Bürger, nur genügt das Alter noch nicht. Die Mehrheit aber muß man auffassen nach der guten Gewohnheit der Staaten, oder man muß sie bestimmen nach der Meinung des Aristoteles Pol. B. 6, Kap. 2.

 

§ 5 Nachdem nun Bürger und Mehrheit der Bürger in dieser Weise bestimmt ist, wollen wir zu unserem Thema zurückkehren, dem Nachweis, daß die menschliche Befugnis zur Gesetzgebung allein der Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit zukommt. Das werden wir zuerst so zu erschließen versuchen: Dem allein steht die primäre menschliche Vollmacht, Gesetze zu geben oder zu schaffen, schlechthin zu, von dem allein die besten Gesetze ausgehen können (OS). Nun ist das die Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit, die die Gesamtheit vertritt (US); denn es ist nicht leicht oder geradezu unmöglich, daß alle Personen sich zu einer Meinung zusammenfinden, weil gewisse Leute mit Blindheit geschlagen sind und aus persönlicher Bosheit oder Unwissenheit von der allgemeinen Meinung abweichen; deren unvernünftiger Einspruch oder Widerspruch darf die Wahrnehmung der Interessen der Allgemeinheit nicht beeinträchtigen oder unmöglich machen. Also kommt es der Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit ausschließlich zu, Gesetze zu geben oder zu beschließen (SS).

Der Obersatz (OS) dieses Beweises ist beinahe selbstverständlich, obwohl man aus I 5 seine Geltung beweisen und letzte Gewißheit entnehmen kann. Den Untersatz (US), daß nur, wenn das ganze Volk den Vorschlag gehört und gutgeheißen hat, ausschließlich das beste Gesetz gegeben werden kann, beweise ich, indem ich mit Aristoteles Pol. B. 3, Kap. 7 die Voraussetzung mache, am besten sei das Gesetz, das für das Gemeinwohl gegeben ist. Daher hat er gesagt: Das Richtige, in den Gesetzen, dient wohl dem Vorteil des Staates und dem allgemeinen Nutzen. Daß dies am besten ausschließlich von der Gesamtheit der Bürger erreicht wird oder deren Mehrheit, was als dasselbe fortan angenommen werden soll, zeige ich so: Dessen Wahrheit wird am sichersten beurteilt, und dessen Nutzen für die Allgemeinheit am sorgfältigsten beachtet, worauf die Gesamtheit der Bürger mit Verstand und innerer Anteilnahme ihre Aufmerksamkeit richtet. Einen Mangel an der Gesetzesvorlage kann nämlich eine größere Zahl eher bemerken als ein Teil von ihr; denn jedes körperhaftes Ganze wenigstens ist größer an Masse und Kraft als jeder Teil von ihm für sich. Ferner wird aus dem ganzen Volk heraus der Nutzen des Gesetzes für die Allgemeinheit schärfer beachtet, weil niemand sich wissentlich schadet. Dort aber kann jeder beliebige überblicken, ob der Gesetzentwurf mehr zum Vorteil eines einzelnen oder gewisser Leute neigt als zu dem der anderen oder der Gemeinschaft, und kann Einspruch erheben. Das wäre nicht möglich, wenn nur einer oder einige wenige, die mehr auf den eigenen Vorteil aus sind als auf den der Allgemeinheit, dieses Gesetz gäben. Diese Meinung stützt auch hinlänglich, was wir über die Notwendigkeit von Gesetzen in I 11 festgestellt haben.

§ 6 Weiter zum Haupt-Schlußsatz! Dem kommt ausschließlich die Gesetzgebung zu, der dadurch bewirkt, daß die gegebenen Gesetze am besten oder ausnahmslos befolgt werden (OS). Das ist ausschließlich die Gesamtheit der Bürger (US). Also kommt ihr ausschließlich die Gesetzgebung zu (SS). Der Obersatz dieses Beweises ist beinahe selbstverständlich; denn zwecklos wäre ein Gesetz, wenn es nicht befolgt würde. Daher sagt Aristoteles Pol. B. 4, Kap. 7, 118: Eine gute gesetzliche Ordnung besteht nicht, wenn die Gesetze gut gegeben sind, aber keinen Gehorsam finden. Dasselbe hat Aristoteles B. 6, Kap. 5 desselben Werkes festgestellt: Es hat keinen Wert, wenn Entscheidungen über das, was gerecht sein soll, gefällt werden, diese aber nicht zum Ziele kommen. Den Untersatz beweise ich so: Das Gesetz befolgt jeder Bürger am besten, das er glaubt sich selbst auferlegt zu haben (OS). Dies gilt für das Gesetz, das gegeben ist, nachdem die Gesamtheit der Bürger es angehört und gutgeheißen hat (US). Der Obersatz dieses Vor-Schlusses ist fast unmittelbar einsichtig: Weil nämlich der Staat eine Gemeinschaft freier Männer ist, wie Pol. B. 3, Kap. 4 steht, muß jeder einzelne Bürger frei sein und nicht eines anderen Tyrannei, d.h. Knechtschaft, tragen. Das wäre nicht der Fall, wenn ein einzelner oder eine Minderheit von Bürgern ein Gesetz gäben aus eigener Vollmacht für die Gesamtheit der Bürger; wenn sie nämlich so Gesetze gäben, wären sie Tyrannen der anderen, und darum würden die übrigen Bürger, die Mehrzahl, ein solches Gesetz, wäre es auch noch so gut, mit Unwillen oder gar nicht hinnehmen, in dem Gefühl, verachtet zu sein, dagegen Einspruch erheben und, da sie nicht zur Beschlußfassung darüber gerufen waren, es in keiner Weise befolgen. Ein Gesetz jedoch, das gegeben ist, nachdem die Gesamtheit es angehört und ihre Zustimmung gegeben hat, wäre es auch weniger nützlich, würde jeder Bürger leicht befolgen und hinnehmen; denn jeder hat dann das Gefühl, es für sich selbst beschlossen zu haben, und hat darum keinen Anlaß, dagegen Einspruch zu erheben, sondern vielmehr Anlaß, sich in Ruhe damit abzufinden. – Ferner, den Untersatz des ersten Schlusses beweise ich von einem anderen Gesichtspunkt aus so: Der ausschließlich hat Macht über die Befolgung der Gesetze, der eine zwingende Gewalt gegen die Übertreter besitzt; das ist die Gesamtheit oder deren Mehrheit: also steht ihr allein die Gesetzgebung zu.

Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens. Auswahl aufgrund der Übersetzung von Walter Kunzmann und der Bearbeitung von Horst Kusch mit einem Nachwort von Heinz Rausch. © Stuttgart: Reclam 1971, I. Teil, Kapitel XII, §§ 3-6, S. 52-56