Honoré de Balzac
Gesammelte Werke
Romane und Geschichten
Honoré de Balzac
Gesammelte Werke
Romane und Geschichten
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020
2. Auflage, ISBN 978-3-962815-22-6
null-papier.de/629
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Adieu
Cäsar Birotteaus Größe und Niedergang
Cäsar auf dem Gipfel seines Ruhms
Cäsar im Kampf mit dem Unglück
Das Chagrinleder
Widmung
Der Talisman
Die Frau ohne Herz
Der Todeskampf
Epilog
Anmerkungen
Das Haus Nucingen
Der Auftrag
Der Ball von Sceaux
1
2
Der Diamant
Der Dorfpfarrer
Honoré de Balzac
I – Véronique
II – Tascheron
III – Der Pfarrer von Montégnac
IV – Madame Graslin in Montégnac
V – Véronique am Grabesrande
Die alte Jungfer
Widmung
Menschliche Komödie – Die Bauern
Erster Teil – Wer Land hat, hat Streit
Zweiter Teil
Die Börse
Die dreißig tolldreisten Geschichten
Erstes Zehent
Zweites Zehent
Drittes Zehent
Die Entmündigung
1
2
3
4
5
6
Die falsche Geliebte
1
2
3
4
Die Frau von dreißig Jahren
1. Der erste Irrtum
2. Unbekannte Leiden
3. Mit dreißig Jahren
4. Der Finger Gottes
5. Die zwei Begegnungen
6. Das Alter einer schuldigen Mutter
Die Geheimnisse der Fürstin von Cadignan
Die Grenadière
1
2
Die Kleinbürger
Erster Teil
Zweiter Teil
Die Königstreuen
Erster Teil
Zweiter Teil
Die Lilie im Tal
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
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16
17
18
19
Der Brief der Madame de Mortsauf an den Vicomte Felix de Vandenesse
An den Comte Felix de Vandenesse
Die Messe des Gottlosen
Ein Drama am Ufer des Meeres
Eine dunkle Geschichte
Die Sorgen der Polizei
Corentins Rache
Ein politischer Prozeß unter dem Kaiserreich
Schluss
Eine Episode aus der Zeit der Schreckensherrschaft
Eine Evatochter
1
2
3
4
5
6
7
8
9
El Verdugo
Eugénie Grandet
Einleitung von Hugo von Hofmannsthal
Balzacs Vorrede zur Menschlichen Komödie
Eugénie Grandet
Facino Cane
Glanz und Elend der Kurtisanen
Von der Liebe der Dirnen
Was alte Herren sich die Liebe kosten lassen
Der Weg des Bösen
Vautrins letzte Verkörperung
Die drolligen Geschichten des Herrn von Balzac
Kitzliche Reden dreier Pilger
Buckelchen
Ein vergeßlicher Profoß
Der schönen Imperia Ehezeit
Eine teure Liebesnacht
Wie das schöne Mägdelein von Portillon seinen Richter mundtot machte
Franz' des Ersten Fastenfreuden
Die reuige Sünderin
Der Pfarrer von Azay-le-Rideau
Die läßliche Sünde
Die drei Zechpreller
Honoré de Balzac: Dem Dichter zum Preise!
Liebesverzweiflung
Des Königs Liebste
Des Teufels Erbe
Die Jungfrau von Thilhouze
Wie der Mönch Amador ein glorreicher Abt ward
Standhafte Liebe
Des Konnetabels Weib
Die Edelfrau als Dirne
Der Humpelgreis
Eine Geschichte, die erweisen soll, daß das Glück allemal weiblichen Geschlechtes ist
Die schöne Imperia
Die Waffenbrüder
Die Predigt des fröhlichen Pfarrers von Meudon
Die Gefahren übergroßer Tugend
Wie der Seneschall mit der Jungfernschaft seiner Frau zu kämpfen hatte
Kinderschnabelweisheit
Die klatschhaften Nonnen zu Poissy
Wie das Schloß zu Azay entstand
Die Späße König Ludwigs des Elften
Der Buhlteufel
Junggesellenwirtschaft
1
2
3
4
5
6
7
8
9
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20
21
Katharina von Medici
Einleitung
Der calvinistische Märtyrer
Vertrauliche Mitteilungen der Brüder Ruggieri
Die beiden Träume
Kehrseite der Geschichte unserer Zeit
Frau de la Chanterie
Der Aufgenommene
Kleine Leiden des Ehestandes
Vorwort, worin jedermann seine Eheeindrücke wiederfindet
Ein heimtückischer Streich
Die Enthüllungen
Die Gefälligkeiten einer jungen Frau
Sticheleien
Der Beschluß
Die Logik der Frauen
Weiblicher Jesuitismus
Erinnerungen und Klagen
Auf Beobachtung
Die Ehetarantel
Die Zwangsarbeiten
Sauersüßes Lächeln
Leidensgeschichte des Landhauses
Das Leid im Leid
Der achtzehnte Brumaire der Ehen
Die Kunst, Opfer zu sein
Der französische Feldzug
Das Trauersolo
Leb wohl!
Lebensbilder - Band 1
Widmung
Geschichte des Werkes
Erster Teil
Lebensbilder - Band 2
Widmung
Zweiter Teil
Dritter Teil
Anhang
Louis Lambert
I.
II.
III.
IV.
V.
Oberst Chabert
1
2
3
4
5
Physiologie des Alltagslebens
Einleitende Notiz
Monographie des Rentiers – Der Rentier
Physiologie des Beamten
Abhandlung über moderne Reizmittel
Sarrasine
Seraphita
Der Stromfjord
Seraphitus
Seraphita
Seraphita – Seraphitus
Wilfrid
Die Wolken des Allerheiligsten
Der Abschied
Der zu Gott führende Weg
Die Himmelfahrt
Der Landarzt
Das Land und der Mensch
Quer durch Felder
Der Napoleon des Volkes
Die Beichte des Landarztes
Elegien
Vater Goriot
Vendetta
1
2
3
4
5
6
Verlorene Illusionen
Die beiden Dichter
Ein großer Mann aus der Provinz in Paris
Die Leiden des Erfinders
Literaturverzeichnis
Index
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Jürgen Schulze
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»Vorwärts, du Deputierter der Mitte, immer vorwärts! Wir müssen eilig weiter, wenn wir zusammen mit den andern bei Tisch sein wollen. Heb die Beine! Spring, Marquis! Hierher! So ist’s gut! Sie springen über die Gräben wie ein richtiger Hirsch!«
Diese Worte wurden von einem friedlich am Waldesrande von Ile-Adam sitzenden Jäger gesprochen, der eine Havannazigarre zu Ende rauchte und auf seinen Genossen wartete, der jedenfalls schon seit langem in dem Buschwerk des Waldes herumgeirrt war. An seiner Seite sahen vier jappende Hunde ebenso wie er die Person, an die er sich wandte, an. Um zu verstehen, wie spöttisch diese Anreden, die mit Pausen wiederholt wurden, gemeint waren, muß erwähnt werden, daß der Jäger ein dicker kurzer Mann war, dessen hervorstehender Bauch eine wahrhaft ministerielle Fettleibigkeit verriet. Mühselig übersprang er die Furchen eines großen, frisch abgeernteten Feldes, dessen Stoppeln sichtlich sein Vorwärtskommen hinderten; um sein Unbehagen noch zu steigern, trieben die Sonnenstrahlen, die sein Gesicht schräg trafen, dicke Schweißtropfen darauf hervor. Bemüht, sein Gleichgewicht zu bewahren, wankte er bald nach vorn, bald nach rückwärts und ahmte so die Sprünge eines stark geschüttelten Wagens nach. Es war einer der Septembertage, wo die Weintrauben bei südlicher Glut reifen. Die Luft kündigte ein Gewitter an. Obgleich sich mehrfach große Strecken blauen Himmels noch am Horizont von dicken schwarzen Wolken abhoben, sah man doch einen blassen Dunst mit erschreckender Schnelligkeit vordringen, der sich von Westen nach Osten ausbreitete wie ein leichter grauer Vorhang. Der Wind bewegte sich nur in den oberen Regionen der Luft, die Atmosphäre drückte nach unten hin die glühenden Ausdünnungen der Erde zusammen. Heiß und schweigend schien der Wald zu dürsten. Die Vögel und Insekten waren verstummt, die Wipfel der Bäume rührten sich kaum. Diejenigen, die noch eine Erinnerung an den Sommer 1819 haben, müssen also Mitleid empfinden mit den Leiden des armen Deputierten, der Blut und Wasser schwitzte, um seinen boshaften Gefährten wieder zu erreichen. Während er seine Zigarre rauchte, hatte dieser aus der Stellung der Sonne berechnet, daß es etwa fünf Uhr nachmittags sein müsse.
»Wo zum Teufel sind wir denn? sagte der dicke Jäger, während er sich die Stirn abtrocknete und sich an einen Baumstamm, fast gegenüber seinem Gefährten, stützte, denn er verspürte nicht mehr die Kraft in sich, den breiten Graben, der ihn von ihm trennte, zu überspringen.
»Und das fragst du mich? antwortete lachend der Jäger, der sich in dem hohen gelben Grase gelagert hatte, das den Abhang bekrönte. Er warf den Rest seiner Zigarre in den Graben und rief: »Ich schwöre bei Sankt Hubertus, daß man mich nicht wieder dabei erwischen wird, wie ich mich in unbekannter Gegend mit einer Amtsperson herumtreibe, und wärst du es selbst, mein lieber d’Albon, ein alter Schulkamerad!«
»Aber Philipp, verstehst du denn nicht mehr Französisch? Du hast jedenfalls deinen Geist in Sibirien gelassen«, entgegnete der dicke Mann und warf einen komischen Schmerzensblick auf einen Pfosten, der hundert Schritte davon sich erhob.
»Ich verstehe«, erwiderte Philipp, nahm seine Flinte, erhob sich plötzlich, sprang mit einem einzigen Satz in das Feld hinüber und eilte zu dem Pfosten hin. »Hierher, d’Albon, hierher! Halblinks!« rief er seinem Gefährten zu und zeigte ihm mit einer Handbewegung einen breiten gepflasterten Weg. »Von Baillet nach Ile-Adam« fuhr er fort; »dann werden wir also in dieser Richtung den Weg nach Cassan finden, der sich von dem nach Ile-Adam abzweigen muß.
»Das stimmt, mein lieber Oberst , sagte Herr d’Albon und setzte seine Mütze, mit der er sich Luft zugefächelt hatte, wieder auf den Kopf.
»Also vorwärts, mein verehrungswürdiger Rat, erwiderte der Oberst Philipp und pfiff den Hunden, die ihm schon besser zu gehorchen schienen als dem Beamten, dem sie gehörten.
»Wissen Sie, mein Herr Marquis,« begann der Offizier spottend, »daß wir noch mehr als zwei Meilen vor uns haben? Das Dorf, das wir dort unten sehen, muß Baillet sein.
»Großer Gott!« rief der Marquis d’Albon aus, »gehen Sie nach Cassan, wenn Ihnen das Vergnügen macht, aber Sie werden dann ganz allein gehen. Ich ziehe vor, hier trotz des Gewitters ein Pferd abzuwarten, das Sie mir aus dem Schloß schicken werden. Sie haben sich über mich mokiert, Sucy. Wir hätten einen netten kleinen Jagdausflug machen, uns nicht von Cassan entfernen, die Terrains, die ich kenne, absuchen sollen. Na, anstatt daß wir unsern Spaß dabei haben, lassen Sie mich wie einen Jagdhund seit vier Uhr morgens laufen, und wir haben als ganzes Frühstück nur zwei Tassen Milch gehabt! Ach, wenn Sie jemals einen Prozeß bei Gericht haben sollten, dann werde ich Sie ihn verlieren lassen, wenn Sie auch hundertmal Recht hätten!«
Und mutlos setzte sich der Jäger auf einen der Steine am Fuße des Pfostens, legte seine Flinte und seine leere Jagdtasche ab und stieß einen langen Seufzer aus.
»So sind deine Deputierten, Frankreich!« rief der Oberst von Sucy lachend. »Ach, mein armer Albon, wenn Sie, wie ich, sechs Jahre tief in Sibirien gewesen wären! …
Er vollendete den Satz nicht und blickte zum Himmel auf, als ob seine Leiden ein Geheimnis zwischen Gott und ihm wären.
»Vorwärts! Weiter!« fügte er hinzu. »Wenn Sie hier sitzen bleiben, sind Sie verloren.«
»Was wollen Sie, Philipp? Das ist so eine alte Gewohnheit bei einem Beamten! Auf Ehre, ich bin vollkommen erschöpft! Wenn ich wenigstens noch einen Hasen geschossen hätte!«
Die beiden Jäger boten einen seltenen Gegensatz dar. Der Deputierte war ein Mann von zweiundvierzig Jahren und schien nicht älter als dreißig zu sein, während der dreißigjährige Offizier wenigstens vierzig alt zu sein schien. Beide trugen die rote Rosette, das Abzeichen der Offiziere der Ehrenlegion. Etliche Locken, schwarz und weiß wie der Flügel einer Elster, stahlen sich unter der Jagdmütze des Obersten hervor; schöne blonde Haarwellen schmückten die Schläfen des Richters. Der eine war von hohem Wuchs, mager, schlank, nervös, und die Runzeln seines weißen Gesichts deuteten auf furchtbare Leidenschaften oder schreckliche Leiden; der andere besaß ein von Gesundheit strahlendes Gesicht mit dem jovialen, eines Epikuräers würdigen Ausdruck. Beide waren stark von der Sonne verbrannt, und ihre hohen Wildledergamaschen trugen die Merkmale aller Gräben und Sümpfe, die sie passiert hatten, an sich.
»Los!« rief Herr de Sucy, »vorwärts! In einer kleinen Stunde werden wir an einem gut besetzten Tisch sitzen.«
»Sie können niemals geliebt haben,« erwiderte der Rat mit einem komischen Ausdruck von Mitleid, »denn Sie sind so unerbittlich wie der Artikel 304 des Strafgesetzbuchs!«
Ein heftiges Zittern überfiel Philipp; seine breite Stirn runzelte sich; sein Gesicht wurde ebenso düster, wie es der Himmel jetzt geworden war. Obgleich die Erinnerung an ein furchtbar bitteres Erlebnis alle seine Züge verzerrte, vergoß er keine Träne. Wie alle starken Männer vermochte er seine Aufregungen tief im Herzen zu begraben und empfand vielleicht, wie viele reine Seelen, eine Art Schamlosigkeit dabei, seine Schmerzen bloszulegen, wenn kein menschliches Wort ihre Tiefe ausdrücken kann und man den Spott der Leute fürchtet, die sie nicht verliehen wollen. Herr d’Albon war eine von den zartfühlenden Seelen, die Schmerzen zu ahnen wissen und ein lebhaftes Mitgefühl empfinden, wenn sie unbeabsichtigt durch irgendeine Ungeschicklichkeit Anstoß erregt haben. Er achtete das Schweigen seines Freundes, erhob sich, vergaß seine Müdigkeit und folgte ihm schweigend, ganz betrübt darüber, eine Wunde berührt zu haben, die wahrscheinlich nicht vernarbt war.
»Eines Tages, lieber Freund,« sagte Philipp zu ihm und drückte ihm die Hand, wobei er ihm mit einem herzzerreißenden Blick für sein stummes Mitgefühl dankte, »eines Tages werde ich dir mein Leben erzählen. Heute vermöchte ich es nicht.«
Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Als der Schmerz des Obersten sich besänftigt hatte, empfand der Rat seine Müdigkeit wieder; und mit dem Instinkt oder vielmehr mit dem Willen eines erschöpften Mannes durchforschte sein Auge alle Tiefen des Waldes; er prüfte die Wipfel der Bäume, studierte die Wege, in der Hoffnung, irgendeine Herberge zu finden, wo er um Gastfreundschaft bitten konnte. An einem Kreuzweg angelangt, glaubte er einen leichten Rauch zu entdecken, der zwischen den Bäumen aufstieg. Er blieb stehen, sah aufmerksam hin und erkannte inmitten einer riesigen Baumgruppe die grünen dunklen Zweige etlicher Fichten. »Ein Haus! Ein Haus!« rief er mit demselben Vergnügen, mit dem ein Schiffer gerufen hätte: » Land, Land!«
Dann eilte er schnell durch eine dichte Baumgruppe, und der Oberst, der in eine tiefe Träumerei versunken war, folgte ihm mechanisch.
»Ich will mich lieber hier mit einer Omelette, Hausbrot und einem Stuhl begnügen, als nach Cassan weitergehen, um dort Diwans, Trüffeln und Bordeauxwein zu finden.«
Das war der begeisterte Ausruf des Rates beim Anblick einer Mauer, deren weißliche Farbe sich weithin von der braunen Masse der knorrigen Stämme des Waldes abhob.
»Ei, ei! Das sieht mir aus wie irgendeine alte Priorei«, rief der Marquis d’Albon von neuem, als er vor einem alten schwarzen Gitter anlangte, wo er inmitten eines ziemlich weiten Parks ein Bauwerk erblickte, das in dem einstmals den Klosterbauten eigentümlichen Stil errichtet war. »Wie diese Kerls von Mönchen es verstanden haben, eine Baustelle auszuwählen!« Dieser neue Ausruf war der Ausdruck des Erstaunens, das dem Beamten die schöne Einsiedelei verursachte, die sich seinen Blicken darbot. Das Haus lag halbseits auf dem Abhang des Berges, dessen Gipfel von dem Dorfe Nerville eingenommen wird. Die großen hundertjährigen Eichen des Waldes, der einen riesigen Kreis um diese Behausung zog, machten daraus eine richtige Einsiedelei. Der einst für die Mönche bestimmte Hauptflügel lag gegen Süden. Der Park schien vierzig Morgen zu umfassen. Nahe bei dem Hause breitete sich eine grüne Wiese aus, die in glücklicher Weise von mehreren klaren Bächen und von geschickt angebrachten Wasserfällen durchflossen war, all das anscheinend ohne Anwendung von Kunst. Hier und da erhoben sich grüne Bäume von eleganten Formen mit verschiedenartigem Laub. Dann gaben da geschickt ausgesparte Grotten, mächtige Terrassen mit beschädigten Treppen und rostigen Geländern dieser wilden Thebais einen besonderen Ausdruck. Die Kunst hatte gefällig ihre Bauten mit den malerischen Wirkungen der Natur vereinigt. Die menschlichen Leidenschaften schienen am Fuß der großen Bäume sterben zu müssen, die dieses Asyl vor dem Heranströmen des Lärms der Welt verteidigten, wie sie die Glut der Sonne mäßigten.
»Was für ein Verfall!« sagte sich Herr d’Albon, nachdem er den düsteren Ausdruck empfunden hatte, den die Ruinen der Landschaft verliehen, die wie mit einem Fluch geschlagen erschien. Es war wie ein von den Menschen verlassener verwünschter Ort. Der Efeu hatte überall seine gewundenen Ranken und seinen reichen Blättermantel ausgebreitet. Braunes, grünes, gelbes oder rotes Moos überzog mit seiner romantischen Färbung Bäume, Bänke, Dächer und Steine. Die wurmstichigen Fenster waren vom Regen verwaschen und vom Wetter durchlöchert, die Balkone zerbrochen, die Terrassen zerstört. Manche Jalousien hielten nur noch an einem Haken. Die nicht schließenden Türen schienen keinem Angreifer standhalten zu können. Behangen mit leuchtenden Tuffs von Misteln, breiteten sich die ungepflegten Äste der Fruchtbäume weithin aus, ohne eine Ernte zu geben. Hochgewachsenes Kraut überwucherte die Alleen. Diese Reste gaben dem Bilde den Ausdruck reizvoller Poesie und erregten in der Seele des Beschauers träumerische Gedanken. Ein Dichter wäre hier in lange währende Melancholie versunken, voller Bewunderung für diese harmonische Unordnung, für dieses reizvolle Bild der Zerstörung. In diesem Moment erglänzten einige Sonnenstrahlen mitten durch die Lücken der Wolken und beleuchteten mit tausend Farben diese halb wilde Szene. Die braunen Dachziegel erstrahlten, das Moos leuchtete, phantastische Schatten huschten über die Wiesen unter den Bäumen hin; die erstorbenen Farben lebten wieder auf, eigenartige Gegensätze machten sich geltend, das Blattwerk hob sich scharf in der Helligkeit ab. Plötzlich verschwand das Licht. Die Landschaft, die gesprochen zu haben schien, wurde stumm und wieder düster, oder vielmehr matt wie der matteste Schimmer eines Herbstnebels.
»Das ist Dornröschens Schloß,« sagte sich der Rat, der das Haus nur noch mit den Augen des Eigentümers ansah. »Wem mag es nur gehören? Man muß sehr töricht sein, wenn man einen so hübschen Besitz nicht bewohnt!«
Plötzlich sprang eine Frau unter einem rechts vom Gitter stehenden Nußbaum hervor und huschte, ohne Geräusch zu machen, so schnell wie der Schatten einer Wolke bei dem Rat vorbei; diese Erscheinung machte ihn stumm vor Staunen.
»Nun, d’Albon, was haben Sie?« fragte ihn der Oberst.
»Ich reibe mir die Augen, um zu wissen, ob ich schlafe oder wache«, antwortete der Beamte und drückte sich an das Gitter, um zu versuchen, das Phantom nochmals zu erblicken.
»Sie ist jetzt wahrscheinlich unter dem Feigenbaum«, sagte er und zeigte Philipp die Blattkrone eines Baumes, der links vom Gitter über der Mauer emporragte.
»Wer denn, sie?«
»Ja, kann ich das wissen?« entgegnete Herr d’Albon. »Eben hat sich hier vor mir eine fremdartige Frauengestalt erhoben«, sagte er leise; »sie schien mir mehr dem Reich der Schatten als der Welt der Lebenden anzugehören. Sie erscheint so schlank, so leicht, so luftartig, daß sie durchsichtig sein muß. Ihr Gesicht ist weiß wie Milch. Ihre Kleidung, ihre Augen, ihre Haare sind schwarz. Sie hat mich im Vorbeikommen angeblickt, und obgleich ich nicht furchtsam bin, hat ihr unbeweglicher kalter Blick mir das Blut in den Adern erstarren lassen.«
»Ist sie hübsch?« fragte Philipp.
»Ich weiß es nicht. Ich habe nur die Augen in ihrem Gesicht gesehen.«
»Also zum Teufel mit unserm Diner in Cassan!« rief der Oberst, »bleiben wir hier. Ich habe eine kindische Lust, in diese eigenartige Besitzung hineinzugehen. Siehst du diese rotgemalten Fenstereinfassungen und diese roten, auf das Gesims der Türen und Fensterläden gemalten Streifen? Scheint das dir nicht das Haus des Teufels zu sein? Er wird es vielleicht von den Mönchen geerbt haben. Vorwärts! Eilen wir hinter der schwarzweißen Dame her! Vorwärts!« rief Philipp mit gemachter Lustigkeit.
In diesem Augenblick hörten die beiden Jäger einen Schrei, der dem einer in der Falle gefangenen Maus ziemlich ähnlich war. Sie horchten. Das Geräusch der gestreiften Blätter einiger Büsche machte sich in dem Schweigen bemerkbar, wie das Gemurmel einer erregten Welle; aber obgleich sie angestrengt lauschten, um weitere Töne zu hören, blieb die Erde still und bewahrte das Geheimnis der Schritte der Unbekannten, wenn sie überhaupt welche gemacht hatte.
»Das ist seltsam«, rief Philipp und verfolgte die Linie, die die Mauer des Parks beschrieb.
Die beiden Freunde gelangten bald zu einer Allee des Waldes, die nach dem Dorfe Chauvry führte. Nachdem sie den Weg auf der Straße nach Paris zurückgegangen waren, befanden sie sich vor einem großen Gitter und erblickten nun die Hauptfassade der geheimnisvollen Behausung. Von dieser Seite erschien die Zerstörung auf ihrem Gipfel: ungeheure Risse durchfurchten die drei Flügel dieses rechtwinklig errichteten Bauwerks. Trümmer von Ziegeln und Schieferplatten waren auf der Erde angehäuft, und zerstörte Dächer zeigten eine vollkommene Unbekümmertheit an. Etliche Früchte waren unter den Bäumen abgefallen und verfaulten, ohne daß jemand sie aufsammelte. Eine Kuh ging quer über den Grasplatz und schnupperte in den Beeten herum, während eine Ziege die grünen Beeren und Ranken eines Weinstocks kaute.
»Hier ist alles in Übereinstimmung, und die Unordnung ist gewissermaßen organisiert«, sagte der Oberst und zog an der Schnur einer Glocke; aber die Glocke hatte keinen Klöpfel.
Die beiden Jäger hörten nur den eigenartigen scharfen Ton eines verrosteten Glockenzuges. Obgleich sehr verfallen, widerstand die kleine Tür in der Mauer doch jedem Druck.
»Ei, ei! Alles macht einen hier neugierig«, sagte er zu seinem Gefährten.
»Wenn ich kein Beamter wäre,« antwortete d’Albon, »würde ich das schwarze Weib für eine Hexe halten.«
Kaum hatte er diesen Satz beendet, als die Kuh an das Gitter kam und ihnen ihre warme Schnauze hinhielt, als ob sie das Bedürfnis fühlte, menschliche Wesen zu sehen. Jetzt wurde ein Weib sichtbar, falls man das unbeschreibbare Wesen, das sich unter einer Gruppe von Sträuchern erhob, mit diesem Namen bezeichnen kann, und zog die Kuh am Stricke. Die Frau hatte auf dem Kopfe ein rotes Tuch, aus dem blonde Flechten hervorsahen, die dem Hanf an der Spindel ziemlich ähnlich waren. Sie war ohne Halstuch. Ein Unterrock aus grober Wolle, abwechselnd schwarz und grau gestreift, der um einige Handbreit zu kurz war, ließ ihre Beine sehen. Man hätte glauben können, daß sie zu einem Stamme von Coopers berühmten Rothäuten gehörte, denn ihre Beine, ihr Hals und ihre nackten Arme schienen mit Ziegelfarbe angemalt zu sein. Kein Strahl von Intelligenz belebte ihr glattes Gesicht. Ihre bläulichen Augen waren ohne Wärme und ohne Glanz. Einige weiße dünne Haare deuteten Augenbrauen an. Ihr Mund endlich war so geschnitten, daß er schlecht gewachsene Zähne sehen ließ, die aber so weiß wie die eines Hundes waren.
»Halt da, Frau!« rief Herr de Sucy.
Sie kam langsam bis ans Gitter heran und betrachtete mit stumpfsinnigem Gesicht die beiden Jäger, bei deren Anblick ihr ein schmerzliches, gezwungenes Lächeln entschlüpfte.
»Wo sind wir denn? Was ist das für ein Haus? Wem gehört es? Wer sind Sie? Sind Sie von hier?«
Auf diese Fragen und eine Menge anderer, die die beiden Freunde nacheinander an sie richteten, antwortete sie nur mit einem aus der Kehle kommenden Knurren, das eher einem Tier als einem menschlichen Wesen zu gehören schien.
»Sehen Sie nicht, daß sie taub und stumm ist? sagte der Richter.
»Bons-Hommes!« rief die Bäuerin.
»Ah, sie hat recht! Dies könnte wohl das alte Kloster Bons-Hommes sein«, sagte Herr d’Albon.