Jahrgang 1963

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Jahrgang 1963
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Holger Hähle

Jahrgang 1963

Eine Kindheit unter dem Einfluss der Kriegsgeneration und 68er

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Das kannst du nicht, das schaffst du nicht, lass das sein

Wilde Kinder sind hyperaktive Kinder

Gespräche verlaufen selten wie geplant

Kindergartenzeit

Herr Lühn und die alten Männer

Oma und Opa

Fußball ist toll, Schwimmen ist noch besser

Bandenbildung

Die Straße vor der Haustür als Spielplatz

Unsere Spielwiese reicht bis zum Horizont

Mit Baggern in eine neue Zeit

Abenteuer am Fluss

Mein Wald und ich

Klettern regt zum Denken an

Winterrodel

Kein Weihnachten ohne Streit und kein Streit ohne Weihnachtsbaum

Die Sonntagslüge

Mädchen sind Ziegen - meistens

Ein Zahnarzt auf Schulbesuch

Als ich in die fünfte Klasse kam

Lautstarke Beschimpfungen auf dem Flur

Klassenfeten

Religionsunterricht

Wieso fragen nie die anderen? Übertreibe ich?

Kreuzzug für meine Freiheit

In-A-Gadda-Da-Vida, ein Groove direkt aus der Hölle

Ein nächtliches Missgeschick

Aufsätze mal traditionell mal pädagogisch

Deutsche Grammatik und Rechtschreibung nach Haferkamp

Cliquen

Klassenkeile und Eiertreten

Gedanken aus der Raucherecke

Hardcore-Carsten mischt die Klasse auf

Erziehung zum kollektiven Schuldbewusstsein

Deutsche Schuld international

Eklat in der Freistunde

Sind Allianzen mit den Cliquen moralisch zu verantworten?

Ich mach mein Ding – Musik

Ich mach mein Ding – Sport

Die Musik AG ist tot, es lebe die Musikschule

Kunstkritik

Der Ernst des Lebens beginnt bald

Auf Leben und Tod

Nachwort

Bilder

Impressum neobooks

Vorwort

Dies ist die erste überarbeitete Neuveröffentlichung zum Buch: „Jahrgang 1963 – Eine Kindheit unter dem Einfluss der Kriegsgeneration und progressiven 68er“.

Es ist so schön zurückzuschauen. Gerne denke ich zurück, und gerne erzähle ich heute meinen Kindern von damals. Ich kann mich an so vieles erinnern, weil ich oft alleine spielte und gerade beim Spiel im Wald viele Mußestunden erlebte. Hoch oben in Baumkronen sitzend, überdachte ich, was mich bewegte. Über Dinge, die mich aufregten führte ich eine Art Tagebuch. Grundsätzlich bin ich so lange nachtragend, wie sich Unverständnis und Irritationen nicht erklären. Ich merke mir alles, was mir nicht passt. Ich hatte immer schon die Hoffnung, Dinge denen ich nicht gewachsen bin, später zu ändern. Wenn ich erst mal groß bin, wird sich schon alles finden. Darauf wollte ich mich vorbereiten. Wider dem Vergessen wurde mir so zu einer Maxime, die Welt zu verbessern wo sie uns nicht guttut. Das gilt natürlich auch für meine eigenen Unzulänglichkeiten.

Heute lächle ich über so manche Hürde, die ich damals genommen habe, als ich mir meiner selbst und meiner Umwelt bewusst wurde und anfing, Schritt aufzunehmen. Dabei habe ich reichlich Lehrgeld bezahlt. Ich bin sehr zufrieden über das, was doch noch aus mir geworden ist. Es ist wunderbar, dass ich die Erinnerung an meine Erlebnisse noch heute genießen kann. Es macht mich stolz, dass ich Schwierigkeiten als Herausforderung gesehen habe, zu verändern, was mir missfiel. So bin ich an mir selbst gewachsen. Was diesen Stolz so besonders macht ist, dass er sich ausschließlich mit den eigenen Federn schmückt.

Dass das alles so möglich wurde, dafür musste ich manchmal mit Nachdruck sorgen. Erwachsene machen es Kindern nicht immer leicht und manchmal auch schwer. Wenn sich Lehrer herausgefordert fühlen, einer Mission gleich ihre politischen Glaubenskriege im Klassenzimmer auszutragen, dann mögen die engagierten Pädagogen der Gegenseite ihnen ungern das Feld kampflos überlassen.

Zwischen den Fronten fällt es schwer, Orientierung zu finden, wenn auf Seite der Kinder noch keine grundsätzlichen Bewertungsmaßstäbe etabliert sind. Es tut gut, mit einem gewissen Abstand zu damals zu erkennen, dass so manche Schuld, die ich auf mich genommen habe, einen erwachsenen Verantwortlichen hatte.

Da gibt es einiges, was ich schon damals sagen wollte. Ich habe es mir für heute aufgehoben, weil immer, wenn ich ansetzen wollte, gesagt wurde: „Werde erst mal älter, damit du weißt, wovon du redest.“

Worauf ich meistens einlenkte, weil ihr ja soviel klüger wart. Aber auch heute kann ich viele eurer Wahrheiten nicht schlucken. Ich denke heute noch genauso wie damals. Gerade wenn ich die Vernunft anwendete, die Ihr mir voraus hattet, waren die Ergebnisse noch irritierender. Als Kind entschuldigte ich mir diese Irritationen als ein Zeichen dafür, dass ich tatsächlich noch viel zu lernen hatte. Das meine Vernunft eben noch unausgereift und unvollständig war, war zweifelsohne zutreffend. Mit zunehmendem Alter lösten sich die Irritationen aber nur sehr wenig auf. Hatte ich nichts dazugelernt? Selbst als ich schon sehr viel Logik und Vernunft gelernt hatte, blieb das so. Naturwissenschaften und Mathematik waren bereits zu meinen Lieblingsfächern geworden. Dank meiner Lehrer verstand ich Mathematik von Mengenlehre über Trigonometrie bis zu Differenzialgleichungen. Trotzdem blieb mein Problem bestehen. Mit Logik kam ich nicht weiter. Ich verstand immer noch sehr vieles aus der Erwachsenenwelt nicht. Insbesondere verstand ich nicht die Widersprüche zwischen den Erwachsenen. Ich sah nicht die politischen Scheuklappen und Schranken in ihren Köpfen, die sie mehr oder weniger autoritär oder antiautoritär oder antiautoritär-autoritär auftreten ließen.

Heute weiß ich, dass ich mit rationalem Nachdenken, mit Vernunft also, die Erwachsenenwelt nie verstehen konnte, denn Erwachsene sind total unlogisch. Egal aus welcher Generation sie stammten, welchen Führern sie dienten oder welchem ideologischen Lager sie angehörten. Ihr Verhalten wurde bestimmt von Ungeduld, Hektik, Gereiztheit, Neid, Hass, Nervosität, Angst, Stolz und tausend anderen Emotionen, die ihnen die Vernunft ausblendeten. Fast ihr ganzes Verhaltensrepertoire war Bauchgefühl. Vernunft war das, wohinter sie diese Gefühle versteckten. Vernunft war die Maske, durch die sie gesehen werden wollten. Vernunft war ihr Ablenkungsmanöver vom Wesentlichen. Vernunft war das Schattentheater zu ihren inneren Antreibern.

 

Es war ein Fehler zu glauben, Erwachsene meinen auch was sie sagen. Im Einzelfall kann das natürlich nie ausgeschlossen werden.

Es war ein Fehler zu glauben, dass die Vaterlandsliebe einiger älterer Lehrer allen galt, die in diesem Lande lebten. Viel zu spät bemerkte ich, dass ihr Rat, nicht so viel mit den Kindern von Gastarbeitern zu spielen, nicht, wie behauptet, der besseren eigenen Sprachentwicklung galt.

Als an meiner Grundschule, einer katholischen Bekenntnisschule, ein kroatischer Junge einer Lehrerin mal wieder einen Streich spielte, schimpfte sie zur Klasse zugewandt: „Es wird Zeit, dass wir Deutsche uns gegen erneute Fremdbestimmung schützen.“

Ich dachte auch, die Frömmigkeit vieler Nachbarn und Tanten sei echt. Im Idealfall wurde sie versucht oder angestrebt. Im häufigeren Standardfall war sie opportun.

Kritik daran ließ man nicht zu, nicht, weil sie religiöse Gefühle verletzte, sondern weil sie die Anstrengungen diskreditierte, einen allgemein anerkannten Standard zu pflegen, der ihr Ansehen betraf. Es braucht allerdings reichlich Erfahrung, das zu erkennen. Als Kind bleibt man unwissend und irritiert.

Im Willen zur Wahrheit und zu meiner Entlastung muss ich darüber sprechen. War ich naiver als andere Kinder, als ich Eltern, Tanten und Lehrern unbedingten Glauben schenkte? Es ist enttäuschend für mich, erst nach langer Zeit die Ursache des Problems erkannt zu haben.

Wieso lernen die Schulen eure heuchlerische Vernunft, nach der sich alles nur vordergründig richtet? Schule soll doch auf das Leben vorbereiten. Wie kann sie das leisten, wenn sie den Kit erwachsener Beziehungen ausklammert. Sollte neben dem Intelligenzquotienten (IQ) nicht vielleicht auch der EQ durch Schulung emotionaler Kompetenzen gefördert werden, für die Entwicklung der emotionalen Autonomie der Schüler?

Gerade im Umgang mit Ärger und Aggressionen ist ein konstruktiver Umgang wichtig. In keinem Unterrichtsfach habe ich den Umgang mit schwierigen Gefühlen gelernt. Das holten wir dann bei so mancher Keilerei auf dem Schulhof nach. Die dort gemachten Konflikterfahrungen waren gekennzeichnet durch die eigene Dominanz oder Ohnmacht. In ihrer Einseitigkeit bestimmen sie sicher auch weiterhin im Alter ein unzureichendes Konfliktverhalten.

Dieses Buch ist ein Plädoyer dafür, dass Ehrlichkeit und Chancengleichheit entstehen, weil Schüler empathisch kompetent werden. Es gilt, sich der Ambivalenz von Rationalität und Intuitionen zu stellen. Dazu müssen zuerst die Erwachsenen verstehen lernen, was sie tun. Häufig genug tun sie das nicht. Sie glauben an ihre Rationalität. Tatsächlich wissen sie längst nicht immer, wie ihre Gedanken und Eindrücke im Bewusstsein zustande kommen. Die Prozesse, die im Verborgenen ablaufen, spielen eine wichtige Rolle. Sie beeinflussen uns stärker, als wir glauben. Erst ihr Zusammenspiel mit unserer logischen Vernunft erklärt unsere Entscheidungen.

Als ich 1969 eingeschult wurde, begannen zwei Wissenschaftler, Amos Tversky und Daniel Kahneman (D. Kahneman: „Schnelles Denken, langsames Denken”, Siedler Verlag 2012), mit Forschungen auf diesem Gebiet. Ihnen fiel auf, dass Probanden bei Vorhersagen nicht automatisch auf ihr Wissen zurückgriffen. Die quasi statistisch relevanten Erfahrungen der Versuchspersonen, spielten bei ihren Entscheidungen in den wissenschaftlichen Experimenten keine Rolle. Sie verließen sich auf ihr Gefühl. Manchmal ignorierten die Versuchspersonen geradezu jede vernünftige Überlegung. Dann verließen sie sich ausschließlich auf ihr Bauchgefühl.

Heute sind Heuristiken, wie solche Bauchgefühle mit einem Fachwort bezeichnet werden, als Entscheidungsgrundlage für unser Verhalten untersucht und anerkannt. Wir wissen, dass evolutionäre Erfahrungen Teil unserer genetischen Erinnerung geworden sind. Neben der Logik sind sie als Bauchgefühle, die wir oft nicht näher erklären können, in uns als Entscheidungsmatrix lebendig. Meist ist es schwierig, sich ihrem Einfluss zu entziehen. Sie dominieren viele unserer Entscheidungen.

Daniel Kahneman erhielt für seine Erkenntnisse 2002 den Nobelpreis. Mit den Ergebnissen seiner Arbeit, die er mit Amos Tversky begonnen hatte, kann ich heute das scheinbar unlogische oder nur begrenzt logische Verhalten Erwachsener besser verstehen.

Das Wissen dieser bahnbrechenden Psychologen sollte unbedingt Einzug finden in den Schulbetrieb. Intuitionen, Bauchgefühle und das ganze mentale Erbe unserer Evolutionsgeschichte bestimmen unsere Entwicklung von Anfang an. Sie leiten unsere sozialen Kompetenzen. Dieses Wissen lernen nicht alle Kinder automatisch und intuitiv. Auch Empathie ist lernbar. Man kann sie üben. Die Schule sollte das Forum dafür sein. Was nützt Schule, wenn sie nicht das Wichtigste lehrt.

Natürlich ist dieses Buch auch ein Versuch zu erklären, warum ich heute so bin wie ich bin. Ich habe festgestellt, dass ich mich schon lange nicht mehr sehr verändere. Was sich Neues tut, ist meist eine Variation von Bekanntem. Fast alles in meiner gegenwärtigen Existenz hat als Fundament meine Kindheit. Sie ist so prägend, dass ich sie im Neocortex meines Gehirns abgelegt habe. Ich kann sie nicht mehr entfernen. Meine Kindheit ist mir im positiven Sinne mein Trauma. Ich kann sie nur noch ändern und ergänzen. Löschen ist unmöglich. Zum Glück hatte ich eine tolle Kindheit, sonst hätte ich Probleme ein Leben lang. Das Grundvertrauen, dass ich bei meinem Auftritt in diese Welt mitgebracht habe, ist nicht nachhaltig erschüttert worden. Als erste Störungen auftraten und auch mal massiver wurden, war ich schon so stark, dass sie mir nichts mehr anhaben konnten. Ich war sogar zum Widerstand bereit. So tat ich auch, was längst schon Pippi Langstrumpf (Astrid Lindgren: „Pippi Langstrumpf”, Verlag Friedrich Oetinger) vorlebte.

Ich machte mir die Welt, wie sie mir gefiel. Nur wenn ich für meine Interessen kämpfte, musste ich nicht das Leben der anderen leben.

Enttäuscht war ich immer wieder von den Erwachsenen, nicht aber von den anderen Kindern, denn die waren genauso unwissend in dieses Leben geworfen worden. Ihnen konnte ich verzeihen, wenn sie mich traktierten. Aber die Erwachsenen wussten doch alles. Sie hatten alle Voraussetzungen für ein perfektes Leben. Von ihnen wollte ich lernen. Ihnen glaubte ich pauschal und unkritisch.

Es dauerte viel zu lange, bis ich glauben konnte, dass sie Fehler machten. Bis dahin versuchte ich, ihre Fehler zu rechtfertigen und mir Versagen zuzuschreiben. Das ließ mich immer wieder letztlich vergebliche, neue Anläufe nehmen, ein besserer Mensch zu werden. Als ich meinen Intuitionen endlich sicherer war, weil ich auch Beweise fand, da legte ich mir einen ersten Grundsatz fest. Vertraue niemandem uneingeschränkt, nicht einmal dir selbst. Wer vertraut, geht ein Risiko ein, denn Vertrauen kann missbraucht werden. Wer vertraut, kann irren, denn selten wissen wir alles, was eine Entscheidung richtig macht. Also schimpfe ich nicht, wenn etwas schief läuft. Als Kind hatte ich gelernt, dass es wenig Sinn macht, sich über zerbrochenes Porzellan zu ärgern. Es passierte einfach viel zu oft, dass Scherben meinen Tatendrang begleiteten.

Auch heute stehe ich dann auf und versuche es eben besser zu machen. Und wenn ich kritisiere, dann habe ich auch heute einen Plan B. Der ist heute meist noch viel überzeugender als früher.

Ich weiß nicht, was der Auslöser war, dass ich gelernt habe, nicht alles als Gott gegeben hinzunehmen. Nicht wenige Erwachsene verlangten genau das von mir. Umso dankbarer bin ich, dass ich nachgefragt habe und gelernt habe, wenn notwendig auch NEIN zu sagen. Das NEIN ist mir das größte Pfand der Freiheit geworden. Nur wenn ich NEIN sage, bin ich bereit, mit dem Ungewollten zu brechen. Nur wenn ich NEIN sage, kann ich JA sagen zu einem neuen Anfang.

Die Bundesgenossen meiner Gedanken waren fast alle tot. Ihre Gedanken lebten weiter in ihren Werken und Büchern in der städtischen Leihbücherei. Bei Friedrich Schiller las ich dort, weil mein Deutschunterricht das eben nicht vorsah, was auch mich antrieb: Über den Wunsch nach Erleben und Verstehen durch Wahrnehmungstiefe. In seinem Lied von der Glocke spricht er mir aus der Seele:

Das ist’s ja, was den Menschen zieret,

Und dazu ward ihm der Verstand,

Dass er im Innern Herzen spüret,

Was er erschafft mit seiner Hand.

Ich habe dieses Buch angefangen, um von mir zu schreiben. Ich wollte erklären, was mich in meiner Kindheit bewegt und immer wieder irritiert hat, im Umgang mit Menschen, insbesondere aber mit Erwachsenen. Manche Irritationen haben sich aufgelöst insofern, als ich heute weiß, dass Erwachsene nicht alles besser wissen. Sie haben damals einfach nur Fehler gemacht und ich habe es nicht glauben können.

Bei aller Kritik an den Erwachsenen, die meine Pubertät und Adoleszenz begleitet haben, bleibt es immer an der neuen Generation, aus den Widersprüchen mit der alten zu lernen, um auch die eigenen Widersprüche aufzudecken. Denn was nützt ein Buch, wenn es uns nicht gelingt, es besser zu machen?

Lange habe ich gedacht, ich sei in meiner Klasse der einzige gewesen, der so viele Widersprüche erlebt hatte. Meine Mitschüler schienen meine Probleme nicht zu kennen. Sie interessierten sich für andere Dinge. Sie stellten andere Fragen.

Als ich diese Geschichte fast schon fertig aufgeschrieben hatte, gab ich alten Bekannten eine Leseprobe. Dabei stellte sich heraus, dass in anderen Klassen unserer Schule andere Kinder durchaus sehr ähnliche Erfahrungen gesammelt haben. Ich war dankbar für ihre Bestätigungen und Ergänzungen. So fühlte ich mich etwas weniger als Außenseiter. Ich mochte ihre Erlebnisse nicht weglassen. Zu gut fügten sie sich in meine Geschichte. Deswegen habe ich meine Geschichte um ihre Berichte ergänzt. So ist aus meiner Geschichte unsere Geschichte geworden, die Geschichte einer Generation. Sie verliert damit ihren autobiografischen Charakter, aber dafür machen zusätzliche Details sie noch umfassender und authentischer für ihre Zeit.

Meine Geschichte beginnt im Kindergarten. Sie setzt sich in der Grundschule fort und endet mit der zehnten Klasse in einer Realschule. Danach wurde vieles anders. Auf dem Gymnasium Johanneum begann ein neues Kapitel mit ganz anderen Gesetzen, das mich über einen zweiten Band nachdenken lässt.

Das kannst du nicht, das schaffst du nicht, lass das sein

Immer wieder hatte ich den Eindruck, ich kann nichts. Zu selten gelang mir etwas so, wie ich es wollte. Meine Unfähigkeit wurde mir zu einer beinahe täglichen Erfahrung.

Besonders dramatisch empfand ich das, als ein Junge eine Zauneidechse gefangen hatte. Jedes Kind durfte das Tier in die Hand nehmen und streicheln. Obwohl das Tier so glänzte, war es ganz trocken. Beim Darüberstreichen, so sagten sie, wirke die Haut wie fein gewebt. Also wollte ich auch mal probieren. Als man mir die Eidechse vorsichtig in die Hand gab, konnte ich nur einen Moment ruhig schauen. Dann bewegte sich das Tier. Spontan drückte ich fester zu. Trotzdem entwich das Tier. Auf dem Boden liegend hinterließ es seinen zappelnden Schwanz. Der Junge, der es gefangen hatte heulte, weil ich seine Eidechse kaputt gemacht hatte. Die anderen Kinder warfen mir böse Blicke zu. Ein Mädchen rief vorwurfsvoll: „Wie konntest du das nur meinem Bruder antun?“

Der Tag war gelaufen. Unter tausend Entschuldigungen verließ ich traurig die Szene. Ich fühlte mich unendlich schuldig. Diesmal war meine Schuld besonders groß, denn ich hatte ein Tier schwer verletzt. Wieder dachte ich, warum war das keinem von den anderen Kindern passiert? Warum passierten Unglücke immer nur mir? Und ich stand nicht alleine da mit dieser Meinung. Die Reaktion der anderen Kinder mit ihren schockierten Blicken bewies das.

Selbst meine Eltern dachten so. Sonst gäbe es zu Hause doch nicht ständig wegen meines Versagens so viel Ärger. Meine Eltern waren besonders genervt, von den vielen Brillen, die ich zerstörte. Und natürlich vergaß ich in der Schule regelmäßig während der großen Pausen, die Brille im Klassenraum zurückzulassen. Und hatte ich daran gedacht, dann hatte ich sie nicht ins Hartschalen-Etui gesteckt. Mein Hartschalen-Etui war aus Metall, nachdem ich eines aus Plastik zerbrochen hatte.

„Wie schafft man das“, war die ungläubige Frage meiner Mutter.

Naja, ich wusste es selber nicht. Es war einfach passiert.

 

Meine Eltern waren froh, dass ich nachmit- tags viel im Wald spielte, weil ich da nichts kaputtmachen konnte. Aber auch da fiel mir beim Klettern eine Brille vom Baum. Dass ich sie gefunden hatte, merkte ich, als ich drauftrat. Wieder mal war der Fall eindeutig. Wie konnte das passieren? Wieder mal reagierten alle Erwachsenen mit kopfschüttelnder Fassungslosigkeit. Ich ertrug mein Schicksal. Es war nun mal so wie es war. Zu sehr war ich mittlerweile daran gewöhnt. Ein sich wiederholendes Schicksal härtet ab. Es half, wenn man sein Los akzeptierte. Das nahm dem Schmerz die Spitzen. Dass es schwierig war, die kleine Brille auf dem mit Laub und Geäst bedeckten Waldboden zu finden, wertete ich deswegen nicht als entlastend. Das einzige, was ich zu meiner Entschuldigung beitragen konnte war, dass ich meine Fehler nicht schönredete.

Immer wieder hieß es von Lehrern und Eltern kopfschüttelnd: „Wieso kannst du das nicht so wie alle andern auch machen?“

Es war auch schwierig, entspannt zu lernen, wenn bei jedem Fehler ungeduldig interveniert wurde. So konnte ich mich nicht ausprobieren. Ich war der Meinung, dass gerade in einer Schule Fehler erlaubt sein sollten. Es half mir, wenn ich Zeit hatte, Unstimmigkeiten selbst als Fehler zu erkennen. Vor allem half es, wenn ich Ruhe vor dem offenen Erwartungsdruck der Erwachsenen und den belustigten Blicken der Mitschüler hatte.

Als die Lehrerin eine Mathearbeit zurückgab, hatte nur ein einziger Schüler alle Aufgaben falsch gerechnet. Das war natürlich ich, wer sonst. Es gab das übliche Gelächter von den Kindern über <Blödie> und endlose Kritik, erst von der Lehrerin und später von meinen Eltern. Wie konnte es sein, dass ich nicht einmal eine einzige Aufgabe richtig gerechnet hatte. Dafür gab es nur verständnisloses Kopfschütteln.

Zufällig sah mein Vater, dass ich einen Block zu weit angefangen hatte die Aufgaben zu lösen. Berücksichtigte man das, dann waren die ins Heft für Klassenarbeiten übertragenen Ergebnisse alle richtig. So gesehen hatte ich null Fehler. Das hatte auch kein anderes Kind geschafft. Mein Entschuldigung, dass das Versehen entstanden war, weil immer alles viel zu schnell erklärt wurde, wollte er aber nicht gelten lassen. Wenn die anderen den richtigen Anfang finden konnten, dann musste ich das eben auch können. Die kollektive Enttäuschung über mich blieb also bestehen. Nur ich hatte plötzlich Hoffnung. Wenn ich alle Aufgaben richtig rechnen konnte, dann konnte es nicht so schlecht um mich bestellt sein. Naja, und an der anderen Sache mit der richtigen Aufmerksamkeit, die hätte verhindern können, dass ich beim falschen Block beginne, musste ich halt noch arbeiten. Ich war doch noch jung. Schade dass kein Erwachsener diese Option sah um mich zu motivieren, denn dieser hoffnungsvolle Blick war bei mir eher eine Ausnahme. Meistens sah auch ich mich als hoffnungslosen Idioten.

Durch die viele Kritik, die mir zuteil wurde, lernte ich, den eigenen Überlegungen zu miss- trauen. Ich riet einfach nur noch, was die Lehrer hören wollten. So war es auch im Musikunterricht. Wenn wir Blockflöte spielten, dann schaute ich nicht auf die Noten. Obwohl ich die Noten kannte, fühlte ich mich sicherer, wenn ich permanent auf die Fingerhaltung des Nachbarn schaute. Der machte doch bestimmt weniger Fehler als ich.

Mein Versagen nervte die anderen. Es provozierte und machte Leute wütend. Nicht selten wurde mir wegen meines kopflosen Verhaltens Absicht unterstellt. Aber was nützte es, mich zu schelten? Mir war meine Unfähigkeit doch selbst am peinlichsten.

Das Meckern der Erwachsenen, zu Recht oder zu Unrecht, half keine Spur. Es beruhigte nur ihre Nerven. Die ständige Kritik machte alles schlimmer. Sie gab mir das Gefühl, nicht normal zu sein und darüber hinaus unfähig jeder Besserung.

Je größer die Enttäuschung meiner Eltern wurde, desto mehr glaubte ich, ihre Liebe nicht zu verdienen. Bei einem Einkauferlebnis in einer benachbarten Großstadt, klebte ich an meinen Eltern wie eine Klette. Ich hatte Angst sie im Menschengewimmel zu verlieren und allein nicht nach Hause zu finden. Ich glaubte einfach nicht, dass sie nach einem Kind wie mir suchen würden.

Hatte man mir gegenüber dem Ärger ausreichend Luft gemacht, hatte ich wieder meine Ruhe. Praktische Ansätze oder Ideen zu einem Umgang mit mir, die Besserung versprachen, hatten sie nicht. Die meisten Erwachsenen hatten wenig Zeit und Geduld und standen oft selber unter Strom.

Resigniert habe ich trotzdem nicht. Im Gegenteil wurde mein Ehrgeiz entfacht, als wir in der Adventszeit Weihnachtslieder auf der Blockflöte übten. Ich wollte unbedingt am Heiligabend meinen Eltern vorspielen. Der Erfolg war bescheiden. Mein Vortrag war voller Verspieler. Ich fühlte aber, dass es schlechter hätte sein können. Ich merkte, das Üben half und dass ein Volltrottel wie ich eben etwas mehr üben musste, um weniger zu scheitern. Tatsächlich übte ich weiter, auch über Weihnachten hinaus. Ich wurde immer besser. Als ich fast fehlerlos war, wollte ich das Weihnachtslied nochmal vorspielen. Da meine Eltern bei der Arbeit waren, ging ich zu meiner Oma. Die wollte das Lied aber nicht mehr hören. Es war mittlerweile Anfang Februar. Da spielte man keine Weihnachtslieder mehr. Also spielte ich das Lied mir selbst feierlich vor. Ich ging dazu ins Wohnzimmer und stellte mich an den Platz, wo der Weihnachtsbaum vor Monaten gestanden hatte. Ich war zufrieden mit meinem Vortrag. Die Arbeit hatte sich gelohnt. Das Prinzip stimmte: Ohne Fleiß kein Preis. Erstmals spürte ich eine realistische Aussicht Großes zu schaffen. Ich musste nur stur dranbleiben.

Die ständige Kritik und die Häme der anderen Kinder, die permanent belustigt waren durch meine Missgeschicke, härteten mich allmählich ab, auch wenn ich im täglichen Konkurrenzkampf mit ihnen nur am <loosen> war. Abhärtung war mein erster Schritt zur Gegenwehr. Abhärtung schützte davor, dass die Traurigkeit endlos wurde. Ja, ich konnte das nicht. Ja, ich schaffte das nicht. Und ja, ich ließ es trotzdem nicht sein. Ein Sprichwort, das ich irgendwo aufgeschnappt hatte, schien mir diesen Ansatz zu bestätigen. „Ist der Ruf erst mal lädiert, dann probiert es sich ganz ungeniert“.

Die Anwendung dieses Prinzips wurde ein wichtiger Schritt. Wenn der Fall ins Bodenlose durch Abhärtung gestoppt war, dann musste aus dem letzten Funken Glauben an mich selbst die Hoffnung entspringen, die zu den Taten führte, die aus meinem Dilemma herausführten.

Der Glaube, oder besser noch die Erkenntnis, die eigene Bedeutung erst noch finden zu müssen, waren Ansporn für Taten. Sie nährten die Sehnsucht, das Jammertal zu verlassen. Ich fand mich plötzlich zu jung, und mein Leben war noch viel zu lang, um mich jetzt schon mit meinem Schicksal abzufinden.

In meinem Fall hieß das, ich musste üben, üben und nochmals üben. Üben war oft eine entmutigende und schier endlose Angelegenheit. Aber das war der Weg. Einen anderen gab es nicht. Zumindest sah ich keinen anderen Weg. Vielleicht würden sich in Zukunft weitere Wege ebnen, aber jetzt erst mal blieb mir nichts anderes übrig?

Das monotone Üben fühlte sich aber recht bald ganz anders an. Kleine Erfolge wie beim Flötenspiel trainierten meine Geduld und Beharrlichkeit. Mit der Disziplin zum Üben wuchs dann die Lust am Üben. So wurde der Weg zum Ziel neben dem eigentlichen Ziel zu einer zweiten Quelle von Spaß und Freude.

Noch weitere Erkenntnisse offenbarte dieser Weg im Laufe der Zeit. Je mehr man sich ausprobiert, desto mehr findet man sich. Ich konnte mehr, als ich selbst glauben mochte. Aber ich konnte auch nicht alles. Probieren kann aber jeder alles.

Wenn ich dann scheiterte, so war das ein willkommener Anlass, sich neu auszurichten. Manch neuer Traum findet sich erst, wenn man Ballast abgeworfen hat. In einem Nachrichtenmagazin, stieß ich beim Lesen eines Interviews auf das Zitat: <Wer kämpft, kann gewinnen. Wer nicht kämpft, hat schon verloren>. Dieses Zitat würde mich noch viel beschäftigen bei meinen Selbstgesprächen auf den Baumkronen im Lingener Staatsforst. Es wurde mir zur Rationale, um nach Erfolg zu ringen und zur Maxime, um Niederlagen hinzu- nehmen. Mir wurde dieses Zitat gerade im Scheitern Ansporn nicht aufzugeben, sondern weiterzumachen, solange das Ziel es lohnt.

Mit der Zeit lernte ich immer neue Wege zu finden, um an meinen Schwächen zu arbeiten. Ich merkte, dass es schon half, allein über Probleme und Wünsche zu sprechen, denn oft kamen Ideen und Anregungen von anderen. Ich fing an, immer weniger die Hindernisse zu sehen, die Probleme zementierten, weil mein Glaube an Lösungswege durch erste Erfolge wuchs. Wenn ich mir Ritterburgen ansah, dann mochte ich nie glauben, dass die von Belagerern eingenommen worden waren. Sie sahen einfach zu wehrhaft aus. Wer sich auf Probleme fokussiert, kann nicht die Lösungen sehen, die das Erobern einer Burg manchmal genial einfach machen. Odysseus Trick mit dem Pferd in Troja, ist da nur ein Beispiel. Bedenken verengen unseren Blickwinkel. Wenn ich aber wild drauflos träumte, dann fand ich die abgefahrensten Lösungen. Es waren aber auch immer einige praktikable Wege dabei.

Alle diese Fortschritte halfen mir, aus Schwächen langsam Stärken zu entwickeln. Heute bedeutet das für mich in der adoleszenten Konsequenz dieser Erfahrungen, dass ich Schwächen nicht verstecke, sondern kultiviere. Ich bin überzeugt, dass hinter vielen großen Leistungen Kreativität und Ehrgeiz stecken, mit einer Schwäche umzugehen.