Geschichte im politischen Raum

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Seit 2015 wird jährlich am 20. JuniGedenktage20. Juni der weltweiten Opfer von FluchtFlucht und Vertreibung und Vertreibung, in Deutschland insbesondere der deutschen Vertriebenen, gedacht (→ Kapitel 6.4). Künftig wird in der Hauptstadt als „Sichtbares Zeichen“, wie der Arbeitstitel lautete, ein Ausstellungs- und Informationszentrum an die VertreibungFlucht und Vertreibung erinnern. Dazu wurde 2008 die „Bundesstiftung FluchtFlucht und Vertreibung, Vertreibung, Versöhnung“ als StiftungStiftung des öffentlichen Rechts in Berlin errichtet. Stiftungszweck ist es, „im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an FluchtFlucht und Vertreibung und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten WeltkriegesZweiter Weltkrieg und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihren Folgen wachzuhalten“ (www.sfvv.de). Die VertreibungFlucht und Vertreibung der Deutschen nach 1945 steht zwar im Zentrum, sie soll aber im Kontext der europäischen Vertreibungen präsentiert werden. Die Stiftungsarbeit wird seit Beginn der Planungen immer wieder von heftigen politischen Auseinandersetzungen um den angemessenen Standort des geplanten Dokumentationszentrums, die inhaltliche Gewichtung der an Deutschen begangenen Verbrechen und – damit zusammenhängend – die personelle Besetzung von Direktor und Beirat begleitet.

Eine von heftigen Auseinandersetzungen begleitete umfassende Neubewertung der Täter erfolgte vor allem seit den 1990er Jahren, als über die Taten ‚ganz normaler‘ Deutscher debattiert wurde und die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ das Bild der vermeintlich ‚sauberen Wehrmacht‘ gehörig gegen den Strich kehrte (→ Kapitel 4.2). Unter die kontroverse Betrachtung der Täter, die tief in die Familiengeschichten eingriffen, mischten sich verstärkt auch wieder deutsche Opfererzählungen: Dazu gehören die verheerenden Folgen der alliierten Luftangriffe, deren emotionalisierende Darstellung als „Bombenkrieg“ gegen die Deutschen zum Bestseller wurde (Friedrich 2002). Symbol dafür ist die Zerstörung Dresdens Anfang 1945, was die Elbestadt immer wieder zum Gegenstand rechtsradikaler und geschichtsrevisionistischer Propaganda macht. Auch das Vertriebenenschicksal findet wieder verstärkt eine Öffentlichkeit im aufwendig inszenierten Film und in der Literatur, etwa im Bestseller „Im Krebsgang“ (2002) von Literaturnobelpreisträger Günter GrassGrass, Günter.

Doppelte Diktaturerfahrung: Die DDRDDR

Mit der Wiedervereinigung wurde die untergegangene DDRDDR zum Gegenstand geschichtspolitischer Debatten. Dabei geht es um ihren historischen Ort und die gesellschaftlichen Folgewirkungen der doppelten Diktaturerfahrung. Die viel beschworene „Mauer in den Köpfen“ zog und zieht sich teilweise auch weiterhin durch die Erinnerungen von Ost- und Westdeutschen. Dabei begann anders als nach 1945 unmittelbar mit der politischen Wende die juristische wie politische AufarbeitungVergangenheitsbewältigung (→ Kapitel 6.1). Die Erinnerungsproduktion lief früh heiß. Frank HoffmannHoffmann, Frank regt an, die Erinnerungsflut nach 1990 als eine bewusste Antwort auf das Erinnerungstabu nach 1945 zu deuten; an die Stelle des kommunikativen Beschweigens einer ungeheuerlichen Vergangenheit sei das rauschhafte Zerreden einer tragikomischen Erfahrung getreten (Hoffmann 2011, 275). Zentrale Fragen dabei sind, „ob die DDR von Anfang an und in jeder Phase ein von außen aufgezwungenes, zum Scheitern verurteiltes System war; ob sie vor allem von ihrer diktatorischen Seite definiert werden kann; welche Rolle dabei die Alltagserfahrungen der Individuen spielen, die in ihrer Mehrheit weder Täter noch Opfer von Repression waren; ob die Zweistaatlichkeit nur eine Episode in der Geschichte war oder ein wichtiger Zeitabschnitt“ (Leo 2003, 28). Auch ein Vierteljahrhundert nach den Ereignissen von 1989/90 ist aus Sicht von Thomas GroßböltingGroßbölting, Thomas gegenüber der inzwischen erreichten gesellschaftlichen Verständigung über die historische Bewertung des NationalsozialismusNationalsozialismus kein breiter Konsens darüber in Sicht, welchen Ort der deutsche Staatssozialismus sowjetischen Typs in der Gedenk- und ErinnerungskulturErinnerungskultur der Bundesrepublik einnehmen solle. Die geschichtspolitische Forderung nach einem delegitimierenden Umgang mit der DDR-Geschichte sieht er mit heterogenen, konträren und teils DDR-affirmativen Deutungen im geschichtskulturellen Diskursfeld konfrontiert. Hier komme die Diskrepanz zwischen kulturellem und kommunikativem GedächtnisGedächtnis, zwischen Erfahrungs-, aber keineswegs homogener Erinnerungsgemeinschaft der Ostdeutschen zum Tragen (Großbölting 2013, 21). Diese Fragmentierung unterstreicht auch Anette LeoLeo, Anette. Für die Mehrheit der ehemaligen DDR-Bürger stehe im Rückblick vor allem der eigene Alltag im Vordergrund, während der Geschichtsdiskurs in der Öffentlichkeit in den Gedenkstätten und Denkmälern vom Thema Machtstrukturen, Repression und Verfolgung bestimmt würde (Leo 2003, 32).

Untergegangen ist 1990 nicht nur die DDRDDR, sondern auch die alte Bundesrepublik. Die Bonner Republik existiert nicht mehr, sie erlebte einen schleichenden Wandel zur Berliner Republik, was einen Historisierungsschub der bundesrepublikanischen Geschichte einleitete (Cammann/Hacke/Schlak 2005). Wiederkehrendes Thema sind dabei die lange wenig beleuchteten Kontinuitäten von der NS-ZeitNationalsozialismus zur Bundesrepublik. Sie haben zuletzt zahlreiche Ministerien dazu veranlasst, ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten (siehe dazu die Antwort der BundesregierungBundesregierung auf die Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen [BT-Drucksache 18/4238] sowie Mentel/Weise 2016).

Ein Wiedergänger ist auch die 68er-Bewegung. Während der durch die Protestbewegung angestoßene Impuls zur gesellschaftlichen Liberalisierung heute wenn auch unterschiedlich bewertet so doch weitgehend einhellig anerkannt ist, wird ihr Beitrag zur historischen AufarbeitungVergangenheitsbewältigung kritisch hinterfragt; vor allem das Umschlagen von Teilen der gleichen Bewegung in den Linksterrorismus der 1970er Jahre provoziert immer wieder kontroverse Debatten über Abwege und Irrwege dieser Epoche und ihrer Ideologien.

Vom langen ‚SonderwegSonderweg‘ nach Westen: Deutsche Freiheits- und Demokratiegeschichte

Hinweise auf eigene deutsche Freiheits- und Demokratietraditionen hatten es nach 1945 aus nachvollziehbaren Gründen schwer, Gehör zu finden. In der DDRDDR gab die marxistische Geschichtsauffassung von der bürgerlichen Verfallsgeschichte und ihrer Überwindung den Ton an, sie zog die Linie von den Bauernkriegen über die „Mainzer Republik“ 1793 und die gescheiterten Revolutionen von 1848 und 1918 zur Gegenwart des realexistierenden Sozialismus. In der Bundesrepublik dominierte hingegen die AufarbeitungVergangenheitsbewältigung der NS-Diktatur durch die kritische Geschichtswissenschaft, deren „Sonderwegsthese“ über Jahrzehnte leitend blieb. Allerdings bemühte sich während der sozialliberalen Ära insbesondere BundespräsidentBundespräsident Gustav HeinemannHeinemann, Gustav W. (1899–1976) um eine positive Traditionsbildung der inzwischen etablierten jungen Demokratie. 1970 sah er es an der Zeit, „dass ein freiheitlich-demokratisches Deutschland unsere Geschichte bis in die Schulbücher hinein anders schreibt“ (Heinemann 1975, 34). Nichts könne die Deutschen daran hindern, „in der Geschichte unseres Volkes nach jenen Kräften zu spüren und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die dafür gelebt und gekämpft haben, damit das deutsche Volk politisch mündig und moralisch verantwortlich sein Leben und seine Ordnung selbst gestalten kann“ (ebd.). Heinemann initiierte den breitenwirksamen Schülerwettbewerb um den Preis des Bundespräsidenten, den die Hamburger Körber-StiftungStiftung seitdem mit anhaltend großem Erfolg durchführt (www.koerber-stiftung.de/bildung/geschichtswettbewerb.html), und er ergriff die Initiative zur Errichtung einer „Erinnerungsstätte für die FreiheitsbewegungRastatt, Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte“ in Rastatt. Aus Anlass ihrer Eröffnung betonte er: „Man sagt gelegentlich, und ich habe es auch getan, die Geschichte werde vom Sieger geschrieben. […] Doch wer ist nun Sieger und wer Besiegter? […] Sind wirklich jene die Sieger, die damals die deutsche Einheit verhindert und die demokratischen Freiheitsrechte niedergeschossen haben? Haben nicht sie letztlich unser Land in die Schande und in schreckliche Zusammenbrüche geführt? Sind nicht am Ende doch sie die Verlierer und Sieger jene, die einst für das kämpften, was wir heute unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung nennen?“ (Heinemann 1974).

In den 1980er Jahren gewannen diese Bemühungen weiter an institutioneller Kontur, u. a. mit der Einrichtung des „Deutschen Historischen MuseumsMuseenDHM“ in Berlin und den Planungen für das „Haus der Geschichte der Bundesrepublik DeutschlandMuseenHdG“ in Bonn (→ Kapitel 6.6). Die Bundesrepublik sollte nicht nur in den Kontext ihres nationalen Erbes gestellt, sondern selbst historisiert werden, von der Westbindung in der AdenauerAdenauer, Konrad-Ära über die Phase des „Mehr Demokratie wagen“ bis zum Aufgehen in der supranationalen Europäischen Gemeinschaft. Die deutsche Einheit bedeutete eine Zäsur, denn nun blieb das Jahr 1933 nicht mehr der alleinige Kulminationspunkt deutscher Geschichte. Zwar ist und bleibt wohl auch weiterhin die NS-Zeit Dreh- und Angelpunkt, doch hat sich mit den Ereignissen 1989/90 ein neuer Fluchtpunkt der Geschichtserzählung aufgetan. Zum geflügelten Wort für die Irrwege und Umwege der Deutschen wurde der Titel einer zweibändigen Darstellung des Historikers Heinrich August WinklerWinkler, Heinrich August (2000): „Der lange Weg nach Westen“. Damit gingen Neubewertungen früherer, auch demokratischer Traditionsbestände in der deutschen Geschichte einher. So erfuhren vor allem die Revolution von 1848Revolution von 1848 und die Weimarer RepublikWeimarer Republik neue Beachtung, aber auch Ereignisse wie die ‚Mainzer Republik‘ oder die preußischen Reformen. Ob sich allerdings neben der dominierenden Ursprungserzählung der zweiten deutschen Demokratie aus der Katastrophe des NationalsozialismusNationalsozialismus eine parallele Erzählung über parlamentarische und demokratische Traditionen entwickeln und behaupten wird, bleibt abzuwarten – und noch mehr, ob die Deutschen daran anschließend auch wieder im Sinne Karl Heinz BohrersBohrer, Karl Heinz ein engeres Fernverhältnis zu ihrer Geschichte entwickeln werden.

 

Infobox

SonderwegSonderweg

Unter dem Begriff ‚SonderwegSonderweg‘ wird eine über Jahrzehnte Wissenschaft wie bundesdeutsche Öffentlichkeit dominierende Lehrmeinung verstanden, der zufolge sich Nation und Demokratie in Deutschland anders als in anderen westlichen Staaten, vor allem Frankreich und Großbritannien, entwickelte habe. Ausgehend von der Frage, wie es zur Katastrophe von 1933–1945 kommen konnte, werden die Antworten in der deutschen Geschichte seit dem MittelalterMittelalter gesucht. Wesentliche Aspekte sind dabei die Folgewirkungen des Reichsgedankens und der verspäteten Nationswerdung, die gescheiterten Revolutionen (1848/49Revolution von 1848 und 1918), der preußische Militarismus und das den Deutschen nachgesagte Obrigkeitsdenken. Die ‚Sonderwegs‘-Theorie, die eng mit der neuen Sozialgeschichte seit den 1970er Jahren und deren Leitfrage nach den historischen Bedingungen gesellschaftlicher Modernisierung verbunden ist, steht heute zunehmend in der Kritik. Die These von der Einzigartigkeit des deutschen Weges wird als zu einseitig zurückgewiesen, in dem sie Negatives in der Demokratieentwicklung anderer Staaten ebenso ausblende (z.B. die Dreyfuss-Affäre in Frankreich) wie Positives in der politischen Kultur des KaiserreichsKaiserreich (z.B. das allgemeine Wahlrecht, auch für Frauen, früher als anderswo). Vielmehr sei, da es keine Norm oder Regel dafür gebe, was ein normaler Weg hätte sein können, von zahlreichen ‚Eigenwegen‘ der Nationen auszugehen. Die Frage aber nach den Gründen dafür, warum ausgerechnet in und nur in Deutschland Nationalismus, Militarismus, Chauvinismus und Antisemitismus in die Katastrophe geführt haben, bleibt noch immer zentrale Herausforderung für die Geschichtswissenschaft und ihre Deutungsangebote.

4.2 Geschichtsdebatten

Mitte der 1970er Jahre machte der Geschichtsdidaktiker Karl-Ernst JeismannJeismann, Karl-Ernst (1977, 12f.) die Beobachtung, dass sich das individuelle und gesellschaftliche Geschichtsverständnis immer stärker zu einem wesentlichen Element politischer Grundsatzentscheidungen entwickeln würde. Und er ergänzte: „GeschichtsbewusstseinGeschichtsbewusstsein als politisch heikler, feuergefährlicher Stoff lagert heute flächig.“ Diese Prophezeiung hat sich bewahrheitet. Der (richtige) Umgang mit der Historie hat zu zahlreichen heftigen Kontroversen geführt, die das Geschichtsbewusstsein und die politische Kultur in Deutschland nachhaltig prägten. Einige, die noch heute Referenzgrößen der geschichtspolitischen Debatte sind und die deshalb jeder kennen sollte, der im Bereich der Angewandten Geschichte tätig wird, werden im Folgenden kurz skizziert.

Kontroverse reloaded: Die Kriegsschuldfrage

Die Frage nach der Schuld am Ausbruch des Ersten WeltkriegsErster Weltkrieg beantworteten die Siegermächte im Versailler Friedensvertrag 1919 eindeutig. Ihre einseitige Schuldzuweisung an das Deutsche Reich hatte verheerende Auswirkungen auf das politische Klima der Weimarer RepublikWeimarer Republik, wo sich Staat, Politik und große Teile der Öffentlichkeit dieser Lesart widersetzten. Bis in die frühe Bundesrepublik hinein dominierte die Überzeugung, alle europäischen Mächte seien 1914 gleichermaßen ungewollt in den Krieg ‚hineingeschlittert‘. Aus diesem Konsens brach in den 1960er Jahren der Hamburger Historiker Fritz FischerFischer, Fritz aus. Auf Grundlage neu erschlossener Quellen analysierte Fischer die Kriegsziele der Reichsleitung, die er als deutschen „Griff nach der Weltmacht“ deutete (Fischer 1961). Fischers Argumente, die in der Öffentlichkeit zur These deutscher Alleinschuld verkürzt wurden, schlugen international hohe Wellen. In der Bundesrepublik erlebte die Kontroverse ihren Höhepunkt 1964, als sich der Ausbruch des Ersten und Zweiten WeltkriegZweiter Weltkriegs jährte und sich die Frage nach der Kontinuität deutscher Schuld stellte. Die Auseinandersetzung tobte nicht nur in der Fachöffentlichkeit, in der prominente Historiker Zweifel an Fischers Thesen äußerten, sondern auch im Feuilleton und in der Politik. Führende Staatsrepräsentanten widersprachen Fischer, dessen Reise in die USA im selben Jahr zum Politikum avancierte. Die Hintergründe für die Absage einer finanziellen Unterstützung Fischers durch das Goethe-Institut und das Auswärtige Amt gerieten sogar zum Gegenstand einer Fragestunde im Deutschen BundestagBundestag (Plenarprotokoll 4/126, 6137).

Die Geschichtswissenschaft wurde von der Fischer-Kontroverse gleichwohl nachhaltig geprägt und es bildete sich ein breiter Konsens über Deutschlands Hauptverantwortung am Krieg heraus (siehe Große Kracht 2005, 47ff., Jarausch 2003, Wieland 1992). Aufgewärmt wurde die Debatte 2014, als EuropaEuropa ein halbes Jahrhundert später mit großem Aufwand des Ausbruchs des Ersten WeltkriegsErster Weltkrieg vor 100 Jahren gedachte (siehe Mombauer 2014). Nun avancierte die Studie „Die Schlafwandler“ von Christopher ClarkClark, Christopher (2013) zum umstrittenen Bestseller, insbesondere in Deutschland. Denn der australische Historiker lenkt darin den Fokus auf Serbien in der Julikrise 1914 und kommt zu einer Neubewertung der Schuldfrage, bei der Deutschlands Hauptrolle relativiert wird.

Die Kontroverse der frühen 1960er Jahre hatte sich vor allem an einem gesellschaftspolitischen Klima entzündet, das von der intensivierten AufarbeitungVergangenheitsbewältigung der NS-Vergangenheit aufgeladen war. Das Doppel-Gedenken 2014–100 Jahre ErsterErster Weltkrieg und 75 Jahre Zweiter WeltkriegZweiter Weltkrieg – fiel demgegenüber in eine Phase deutscher Selbstfindung: Deutschlands gewachsenes internationales Gewicht erforderte eine Neubestimmung seiner außenpolitischen Rolle. Argumente zur Begründung der jahrzehntelangen Zurückhaltung, die in der deutschen Verantwortung zweier Weltkriege gründeten, wurden daher neu bewertet. Aufsehen erregte BundespräsidentBundespräsident GauckGauck, Joachim, als er in seiner Rede zum 1. September 2014 in Danzig als Lehre aus der Geschichte gerade keine Zurückhaltung mehr, sondern im Gegenteil eine harte Haltung gegenüber Russlands Aggression gegen die Ukraine forderte (Gauck 2014b).

Am heftigsten entwickelte sich 2014 der publizistische Schlagabtausch zwischen Heinrich August WinklerWinkler, Heinrich August als prominentem Protagonisten der These von einem deutschen SonderwegSonderweg und Historikern einer jüngeren Generation, die dieses Jahrzehnte dominierende Axiom in Frage stellten. Mehr noch: Aus dem postulierten Paradigmenwechsel im Urteil der Geschichtswissenschaft über deutsche Schuld zogen sie völlig neue politische Schlüsse. Demnach seien Pazifismus und die Überwindung des Nationalstaats nicht die einzig denkbaren Schlussfolgerungen aus den Weltkriegen, nötig sei statt eines „Schuldstolzes“ durch deutsche Selbstbezogenheit und der historisch grundierten Moralisierung außenpolitischen Handelns ein abgeklärter Blick auf die Vergangenheit (Geppert u.a. 2014). Für Heinrich August Winkler, der darin die Absage an die supranationale Einbindung Deutschlands in EuropaEuropa erkannte, lief diese Empfehlung auf eine „Umdeutung der Geschichte in volkspädagogischer Absicht“ hinaus (Winkler 2014). Der Abwehr moralischer Fragen und Urteile hielt er entgegen, eine Geschichtswissenschaft, die dieser Devise folge, würde entweder in plattem Positivismus landen oder bei jenem spezifisch deutschen Verständnis von ‚Realpolitik‘, das mit dazu beigetragen habe, Deutschland auf den Weg in den Ersten WeltkriegErster Weltkrieg zu führen (zur Debatte siehe auch Geppert 2014, Jessen 2014, Kurbjuweit 2014).

Die Mutter aller Debatten – der ‚HistorikerstreitHistorikerstreit‘

Den Anfang machte der Abdruck einer nichtgehaltenen Rede des Historikers Ernst NolteNolte, Ernst in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ), auf die eine scharfe Replik des Philosophen Jürgen HabermasHabermas, Jürgen in „Die Zeit“ folgte (Habermas 1986; Nolte 1986). Aus diesem publizistischen Schlagabtausch entwickelte sich im Sommer 1986 die bis dahin heftigste Debatte über das Verhältnis der Deutschen zu ihrer NS-VergangenheitNationalsozialismus. Dabei war die Auseinandersetzung, an der sich in der Folge große Teile der Historiker-Zunft beteiligten, alles andere als eine wissenschaftliche Fachdiskussion in einem geschützten akademischen Raum (zeitgenössische Dokumentation bei Piper 1987; ein Rückblick bei Brodkorb 2011). Vielmehr wurde der Streit unter den führenden Intellektuellen der Bundesrepublik unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit ausgetragen. Die Lagerbildung erfolgte um bedeutende Vertreter einer eher klassischen Politikgeschichte auf der einen sowie Hauptakteuren der Sozial- und Strukturgeschichte auf der anderen Seite; sie fanden ihre publizistische Arena wahlweise in der liberalkonservativen „FAZ“ oder den eher linksliberalen Blättern „Die Zeit“, „Frankfurter Rundschau“ bzw. der linken „tageszeitung“.

Auslöser des Streits waren keine neuen Fakten oder bislang unbekannte Quellen, kontrovers waren die Deutungen der Geschichte. Im Zentrum standen bereits früher formulierte Thesen NoltesNolte, Ernst über den kausalen Zusammenhang der beiden totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts, dem Bolschewismus und dem Faschismus. In der geschichtsphilosophischen Lesart des Berliner Historikers standen sich diese in einer Art „Weltbürgerkrieg“ gegenüber, wobei Nolte die NS-Verbrechen als Reaktion auf die stalinistischen Gewaltexzesse begriff: „War nicht der ‚Archipel Gulag‘ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ‚Klassenmord‘ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ‚Rassenmords‘ der Nationalsozialisten?“ (Nolte 1986). Jürgen HabermasHabermas, Jürgen wies in seinem Leitartikel diese Deutung eines „kausalen Nexus“ zwischen dem „bolschewistischen Klassenmord“ und dem „nationalsozialistischen Rassenmord“ vehement zurück. Er erkannte darin, wobei er auch die Historiker Andreas Hillgruber, Klaus Hildebrand und Michael Stürmer attackierte, den Versuch zur Umdeutung der Geschichte und Entsorgung von Vergangenheit, mithin einen revisionistischen Frontalangriff auf den etablierten bundesrepublikanischen Konsens im Verständnis des NationalsozialismusNationalsozialismus (Habermas 1986). Der HistorikerstreitHistorikerstreit war als geschichtspolitische Debatte vor allem ein Kampf um die Deutungshoheit (wobei „GeschichtspolitikGeschichtspolitik“ begrifflich erstmals überhaupt eingeführt wurde). Leidenschaft und Schärfe der Auseinandersetzung erklären sich aus dem politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontext, der im Zeichen der von Helmut KohlKohl, Helmut ausgerufenen „geistig-moralischen Wende“ neu entfachten Debatte über nationale Identität und das Selbstverständnis der Bundesrepublik „im Schatten HitlersHitler, Adolf“ (Evans 1991; siehe auch Kapitel 7.2): „Auf der einen Seite sammelten sich jene, die den sozialliberalen Zeitgeist des vorangehenden Jahrzehnts in geschichtspolitischer Absicht einer konservativen Revision zu unterziehen versuchten, auf der anderen Seite jene, die den linksliberalen Konsens bekräftigen und das Bekenntnis zur Einzigartigkeit des Holocausts zum Ankerpunkt einer posttradtionalen kollektiven Identität der (West-)Deutschen erheben wollten“ (Große Kracht 2010).

Die Frontlinien verliefen entlang folgender Fragestellungen, die seitdem immer wieder Gegenstand der Debatten sind: Gibt es Tabus in der Wissenschaft? Lässt sich der Holocaust ‚historisieren‘ (im Unterschied zur moralischen Relativierung), konkret: Wie weit können die NS-Verbrechen verglichen werden und wie weit tragen dabei Forschungsansätze der Totalitarismustheorie (die mit dem Untergang des realexistierenden Sozialismus kurz darauf neu belebt wurden)? Demgegenüber: Inwieweit entzieht sich der HolocaustHolocaust/Shoah dem Begreifen? Oder hemmt gerade das quasi ‚sakralisierende‘ Diktum von der Einzigartigkeit des Holocaust den wissenschaftlichen Erkenntnisdrang unzulässig? Und: Braucht es die ‚Renormalisierung‘ des deutschen GeschichtsbewusstseinsGeschichtsbewusstsein? Wo liegen die Grenzen dafür angesichts des von Deutschen und in deutschem Namen begangenen Menschheitsverbrechens?

 

Während sich NolteNolte, Ernst in der Folge mit weiter zugespitzten Thesen immer stärker ins Abseits manövrierte, blieb der NationalsozialismusNationalsozialismus für die Deutschen das, was Nolte und seine Mitstreiter 1986 kritisch hinterfragt hatten: eine Geschichte, die nicht vergeht. Als solche ist sie immer wieder Gegenstand von Debatten über deutsche Identität (→ siehe folgenden Abschnitt) – ohne dass diese freilich noch einmal zu einer vergleichbar weit in die Gesellschaft reichenden Lagerbildung führten wie im ‚HistorikerstreitHistorikerstreit‘ 1986.


Abb. 5: Bücher, Ausstellungen, Kontroversen: Die Geschichtswissenschaft löst politische Debatte aus

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