Prophetisch glauben

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From the series: Franziskanische Akzente #7
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Prophetisch glauben
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HERMANN SCHALÜCK

Prophetisch glauben Aufbrüche in franziskanischer Spiritualität

Franziskanische Akzente

Für ein gottverbundenes und engagiertes Leben

Herausgegeben von Mirjam Schambeck sf und

Helmut Schlegel ofm

Band 7

Die Suche der Menschen nach Sinn und Glück ernst nehmen und Impulse geben für ein geistliches, schöpfungsfreundliches und sozial engagiertes Leben – das ist das Anliegen der Reihe „Franziskanische Akzente“.

In ihr zeigen Autorinnen und Autoren, wie Leben heute gelingen kann. Auf der Basis des Evangeliums und mit Blick auf die Fragen der Gegenwart legen sie Wert auf die typisch franziskanischen Akzente:

Achtung der Menschenwürde,

Bewahrung der Schöpfung,

Reform der Kirche und

gerechte Strukturen in der Gesellschaft.

In lebensnaher und zeitgerechter Sprache geben sie auf Fragen von heute ehrliche Antworten und sprechen darin Gläubige wie Andersdenkende, Skeptiker wie Fragende an.

HERMANN SCHALÜCK

Prophetisch glauben

Aufbrüche in franziskanischer Spiritualität


Herzlicher Dank geht an Simone Müller für die sorgfältige und äußerst kundige Zuarbeit bei den Korrekturen sowie an die Ordensgemeinschaft der Armen Franziskanerinnen von der Heiligen Familie zu Mallersdorf für die finanzielle Unterstützung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

© 2015 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.de Umschlag: wunderlichundweigand.de (Foto: © kotomiti/fotolia.com) Satz: Hain-Team (www.hain-team.de) Druck und Bindung: Druckerei Friedrich Pustet, Regensburg ISBN 978-3-429-03773-4 (Print) 978-3-429-04787-0 (PDF) 978-3-429-06202-6 (ePub)

Inhalt

Zur Einführung: Franziskus lebt

1. Grundierungen des Prophetischen

„Alles ist möglich – nichts ist sicher“

„Alles Leben ist Begegnung“ (Martin Buber)

Prophetie – den Glauben als Hoffnung leben

Neues kommt – seht ihr es nicht? (Jes 43,18.19)

Das prophetische Evangelium Jesu

Die Kirche als Ganzes ist prophetisch „begabt“

Ortsbestimmung und Zeitansage

Institutionskritische Prophetie

Aus Leidenschaft für das Mögliche

Einheit – Verschiedenheit – Beziehungsfähigkeit

Der demütige Gott

Expansion oder Relation?

„Lepanto oder Assisi?“

2. Beispiele des Prophetischen heute

Der „Geist von Assisi“

Die Brüder sollen arbeiten

Unzählige Farben und doch nur ein Regenbogen

Die Wüste zum Blühen bringen

Den Wolf umarmen

„Höre die Musik des Unsichtbaren“ (Olivier Messiaen)

Bruder Dayanand – Schwester Rani

Klara von Vermand

Das verletzliche Antlitz

Nachtkirche im Nordbahnhof Brüssel

Bruder Innozenz aus Prag

Von der Weisheit der Fischer

Global denken …

„Franciscans International“

… und lokal handeln – Bischof Cappio

Com-passion – der Preis der Gerechtigkeit

Mystik und Politik

3. Zum Abschluss: Wortreiche Sprachlosigkeit oder befreiende Sprache?

Anmerkungen

Zum Weiterlesen

Abkürzungsverzeichnis

Zur Einführung: Franziskus lebt

Es war in Berlin im November des Jahres 1990. Die Menschheit trat in eine neue Dekade ein und bereitete sich auf ein neues Jahrtausend vor. Eine hohe Mauer, welche Völker und Kulturen getrennt hatte, war zusammengebrochen. Im alten Europa und überall auf der Welt sprach man jetzt von der Notwendigkeit eines „neuen Denkens“. Aber niemand wusste so recht, was das bedeuten könnte, was sich alles verändern müsste. Da strömte plötzlich bei der Ruine einer ehemaligen Kirche der Minderbrüder im Ostteil der Stadt viel Volk zusammen. Es hatte sich nämlich die Nachricht verbreitet, Bruder Franziskus aus Assisi werde kommen und eine Predigt halten, welche Licht auf viele neue und bedrängende Fragen werfen würde. Also versammelte sich an der Ruine eine große Menschenmenge, Schwestern und Brüder seiner Orden und Gemeinschaften, aber auch zahllose andere: Christen und Nichtchristen, Einheimische, Flüchtlinge und Asylanten, Männer und Frauen aus allen Volksschichten und vielen Regionen der Erde, darunter Muslime, Sikhs, Buddhisten und noch viele andere mehr. Sie wollten hören, was der kleine Bruder aus Assisi ihnen zu sagen hätte, um so besser zu verstehen, was in einer solch entscheidenden Stunde der Weltgeschichte zu tun sein und wie man sich auf das Unbekannte und Neue einstellen sollte, von dem alle sprachen, das aber niemand genau zu benennen wusste.

Als endlich Bruder Franziskus erschien und – um sich besser vernehmbar machen zu können – auf einen großen Steinquader stellte, trat in dem gewaltigen Wirrwarr von Stimmen und Fragen tiefe Stille ein. Darauf predigte Franziskus folgendermaßen:

„Selig sind alle, die einen langen Atem der Hoffnung haben. Sie werden immer neu erfahren, dass Netze zerreißen, wenn Menschen ihren Traum von Freiheit nicht begraben.

Selig alle, die keine Waffen tragen. In ihnen verwirklicht sich schon heute eine Etappe des kommenden Reiches.

Selig alle, die mit ehrlichem Herzen Gott suchen. Das Verharren in Gottes Gegenwart ist wie ein Netz, das uns nie ins Leere fallen lässt.

Selig sind alle, die global denken und lokal handeln. Sie legen den Grundstein für eine neue, gerechte und friedliche Welt.

Selig alle, die sich in aktiver Gewaltfreiheit in den Dienst der Versöhnung stellen. Sie sind Werkzeuge eines dauerhaften Friedens.

Selig die Tapferen und Geduldigen. Sie sind wie Rosen, die in der Wüste erfreuen, und wie eine wohlklingende Hirtenflöte, die Mauern der Feindschaft zum Einsturz bringt und Herzen aus Stein milde und freundlich stimmt.

Selig seid ihr, wenn ihr auf die Stimme des Volkes hört. Ihr werdet Anwälte der Armen sein.

Selig die Aufmerksamen und Verwundbaren. Ihr tragt zu einer dauerhaften Zivilisation des Dialogs und der Verständigung bei.

Selig seid ihr, wenn ihr an die Stelle menschenfeindlicher Ideologien und starrer Gesetzlichkeit befreiende Bilder und Utopien von solchen Gesellschaftsformen setzt, in denen niemand wegen seines Geschlechtes oder seiner Hautfarbe unwillkommen ist, in denen die verschiedenen Kulturen und Religionen sich einander schätzen und voneinander lernen und in denen alle auf unterschiedliche Weisen und doch gemeinsam dem einen Gott die Ehre geben.“

 

1. Grundierungen des Prophetischen
„Alles ist möglich – nichts ist sicher“

Nicht nur unser Kontinent Europa, sondern die gesamte Welt befindet sich in einem Wandlungsprozess, der Hoffnungen und Ängste zugleich nährt. Politische Umwälzungen wie zuletzt in der arabischen Welt und in Osteuropa, dazu Wirtschafts- und Finanzkrisen lassen Gefühle von Unübersichtlichkeit, Ohnmacht und Hilflosigkeit aufkommen. Was wird? Was kommt? Lohnt sich ein Einsatz über meinen eigenen individuellen Bereich hinaus? Ein offenbarer Verlust an realen und sinnerfüllenden Mitgestaltungsmöglichkeiten in gesellschaftlichen und politischen Prozessen wird durch den schwindelerregenden Fortschritt vor allem in der Medizin und in den Naturwissenschaften sowie durch die phantastischen neuen Möglichkeiten der Kommunikation in digitalen Netzwerken nur zum Teil aufgehoben. Es wächst die Gefahr, sich in der Fülle virtueller Sonder- und Scheinwelten mit ihren Angeboten an Konsum und „Spaßhaben“ einzurichten und sich der Verantwortung zur Mitgestaltung zu entziehen. Auch die kulturell-religiöse Landschaft ist diffus und komplex. Sie ist oft gekennzeichnet vom beziehungslosen Pluralismus, von Misstrauen und Furcht, von Abgrenzung, Klischeedenken und nicht selten von Aggressivität. Man kann das ambivalente Grundgefühl der so genannten Postmoderne auf eine knappe Formel bringen: Alles ist möglich – nichts ist sicher.

Das Gespür dafür, dass auch unsere Zeit eine Zeit aus Gottes Hand ist, mit großen Gefährdungen und vielleicht nicht minder großen neuen Chancen, ist Gott sei Dank bei vielen lebendig. Christinnen und Christen können ja im Glauben an die Auferstehung Jesu niemals Unheilspropheten sein. Sie werden sich gerade auch in der Postmoderne diesen Fragen stellen: Wie kann ich heute angesichts der konkurrierenden Sinndeutungen und Wahrheitsansprüche mein Leben autonom, aber auch solidarisch mit den anderen gestalten? Gibt es Gewissheiten, die tragen? Gibt es Perspektiven, die Hoffnung machen?

Wer kann und will sich mit Alternativen vernehmen lassen? Haben leisere Stimmen im heutigen Machtgefüge und in der heutigen Medienlandschaft überhaupt eine Chance, gehört zu werden? Wird unsere Kirche an Haupt und Gliedern erkennen, welche Quelle der Hoffnung sie für die Welt sein könnte, wenn sie sich mit Papst Franziskus von der prophetischen Kraft des Evangeliums Jesu und der Freude daran anstecken und aufrichten ließe?

„Alles Leben ist Begegnung“ (Martin Buber)

Die Gotteserfahrung des Franziskus ist trinitarisch geprägt: Biblisches Denken gestaltet sein Leben und seine Form der Nachfolge. Er liest mehr mit dem Herzen als mit dem Verstand die von Zeugen aufgeschriebenen Taten Gottes.

Für Franziskus ist die trinitarische Erfahrung die tiefste Inspiration für seine Ablehnung klerikaler Vorrangstellungen, für sein Modell von Bruder- und Schwesterschaft, d. h. für einen gemeinsamen Lebensentwurf, in dem alle „durch die Liebe des Geistes einander freiwillig dienen und gehorchen“ (NbR 5, FQ 74), einander nach dem Beispiel Jesu „die Füße waschen“ (NbR 6, FQ 75) und in dem es möglich ist, dass einer dem anderen „vertrauensvoll seine Not offenbart“ (NbR 9, FQ 78). Eine franziskanische Spiritualität der communio wird immer von aufmerksamer Wahrnehmung vor allem für Unscheinbares, Randständiges und Fremdes, von Wertschätzung, wechselseitigem Interesse, achtsamem Umgang mit der Schöpfung, offenen Türen und Aufgeschlossenheit für neue Erfahrungen gekennzeichnet sein. Denn es gilt: Alles Leben ist Begegnung (Martin Buber).

Prophetie – den Glauben als Hoffnung leben

Das Prophetische besteht darin, in großer Sensibilität und mit einem vom Glauben getragenen Unterscheidungsvermögen eine unübersichtliche und mehrdimensionale Gegenwart „lesen“, deuten und Wegweisung zu einem Handeln geben zu können, das Zukunftsperspektiven erschließt. In diesem Sinne ist das Prophetische wie eine Stimme, die ruft: Die geschichtliche Konstellation, die Welt oder die Gemeinschaft der Glaubenden – sie sind nicht so, wie sie es nach dem Willen Gottes und ihrer ursprünglichen Bestimmung sein sollten. Der Prophet will die Augen öffnen und zum Umdenken führen, damit Gefahr vermieden und Zukunft gelingen kann. Joseph Ratzinger hat einmal in einem Interview zum Thema Prophetie u.a. ausgeführt, ein Prophet sei jemand, „der aus der Berührung mit Gott die Wahrheit sagt, und zwar die Wahrheit für heute, so dass sie freilich auch die Zukunft erhellt“. Er sei in der biblischen Tradition der Hoffnungsdimension zuzuordnen, der Prophet „hilft, jetzt den Glauben als Hoffnung zu verstehen und zu leben“. Die Kirche müsse deshalb notwendigerweise Hoffnungsträgerin sein.1

Wir dürfen aber den Propheten Franziskus nicht isoliert betrachten, sondern müssen ihn auf dem Hintergrund des biblischen Prophetentums verstehen. Die Propheten des Alten Bundes bis zu Jesus waren immer auch Poeten, ausgestattet mit bildhafter Vorstellungskraft (Imagination) und viel Talent für Darstellungskunst. Sie bringen auf den Punkt, was in kritischen und chaotischen Zeiten auf dem Spiel steht. Sie formulieren und inszenieren in frischer Sprache und oft auch nonverbal, welche Transformationen sich ankündigen und ihrer Durchführung harren.

Man könnte für Prophetinnen und Propheten bis in unsere Zeit eine Art Anforderungsprofil erstellen. Sie sind berufen, zu den vorherrschenden politisch-sozialen und religiösen Koordinaten und ihren Sprachspielen Alternativen aufzuzeigen. Ein Prophet ist Katalysator und zugleich Sprachrohr für neue Wirklichkeiten. Er ermutigt dazu, ihre ersten, vielleicht noch unbestimmten Anzeichen in den Blick zu nehmen. Er mahnt zur Furchtlosigkeit, wenn die „alten Realitäten“ das Neue noch überlagern. Propheten und Prophetinnen theoretisieren nicht: Sie sprechen und handeln nicht unter dem Aspekt der Ewigkeit. Sie sind konkret, artikulieren sich in einem beschreibbaren Kontext und erhellen einen bestimmten Abschnitt der Geschichte. Sie bleiben misstrauisch gegenüber Personen und Instanzen, die für sich ontologisch gesicherte Existenz, Bedeutung und Unfehlbarkeit beanspruchen. Im Establishment einer kontrollierten und statischen Religion künden sie von der Freiheit Gottes und von der Notwendigkeit, Menschen zu befreien.

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