Drei Dekaden

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LOKI, LOKI, SHINING BRIGHT!
I. Die kurze Einführung

All woes that fall

On Odin’s hall

Can be traced to Loki base.

– Valhalla, J. C. Jones102

Loki ist unter den nordischen Göttern eine Ausnahme – er ist kultlos, ortlos, heil-los. Seine mythische Herkunft liegt im Dunkeln, nur sein Ende ist bekannt. Schon Herrmann schrieb in klarer Erkenntnis der Geheimnisse nordischer Mythologie:

Bei den Griechen lag der siegreiche Kampf der Olympier gegen die Titanen weit, weit in der Vergangenheit, der Germane dachte sich den letzten Kampf seiner Götter in der Zukunft, und nicht die Götter behaupteten die Walstatt, sondern ihre Gegner.103

Auf das Ende hin, nicht aus einer heroischen Vergangenheit gespeist; ein Götterhimmel, der auf etwas zu, nicht aus etwas kommend existierte. Das ganze Sein nur als Präludium zum Niedergang.

Die nordischen Götter lebten in Kenntnis ihres Endes, daher sind ihre Vorstellungen von der Vergangenheit weniger farbig als jene der Zukunft. Die uns überlieferten Mythen sind eschatologisch geprägt – vom Ende der Zeit, einem Heil beeinflusst, das schon das Herüberwehen christlicher Vorstellungen beweisen dürfte.

Und es war Loki, der diesen Niedergang der Götter einleitete. Er ist der Auslöser, der wichtige Faktor im Geschehenen. Am Ende der Welt darf Loki das Nagelschiff lenken104, seine Kinder sind wichtiger Teil der Eschatologie. Sie werden im Rahmen einer gigantischen Blutrache von den Kindern der Opfer getötet.105 Und er auch.

II. Der riesige Hintergrund

Loki ist eine der interessantesten Gestalten der nordischen Mythologie, wenn nicht gerade die interessanteste. Als der Geist, der stets verneint, treibt er innerhalb der Götterwelt sein Unwesen (…); er ist bald Ratgeber und Helfer der Götter, bald ihr Possenreißer und Spaßmacher, schließlich aber ihr erbittertster, furchtbarster Feind (…).

– Nordische Mythologie, Paul Herrmann106

Lokis Herkunft ist unklar. Doch seine Familienverhältnisse sind (teilweise) eindeutig. Er hat drei Kinder: die Midgardschlange, den Fenriswolf und Hel (Tod). Alle drei spielen beim Ende der Welt eine wichtige Rolle.

Odin konsultierte, um das Schicksal Balders zu erfahren, die Seherin und Riesin Angerbode oder Angrboda (die Schadensbotin107), die Mutter von Fenris, Hela und Midgardschlange. Sie war tot, daher musste Odin sie im Totenreich Helas suchen.

Warum war sie tot? Wer ist diese Frau, die Mutter von Lokis Kindern? Warum hatte Loki Kinder mit einer Riesin? War er selbst ein (Halb-)Riese, ungeschlacht, mythisch?

Noch einmal Herrmann:

Die Riesen erscheinen als Heiden aus dem Steinzeitalter, die sich scheu vor den erobernden Menschen zurückziehen und ihren Ackerbau und die Klänge ihrer Kirchenglocken verwünschen.108

Für eine Beschreibung der Riesen ist das zu wenig, auch wenn es zutreffend ist. Die Riesen sind älter als die Götter, auch eine der Nornen wird als Riesin bezeichnet.109 Die Riesen erhalten Runen für die Zauberei110, doch die Zaubersprüche sind „gar nützlich den Menschen, doch unnütz den Riesen“.111 Warum? Welche Zauberei war den Riesen eigen? Wie konnte sie gegen die Asen bestehen, ihnen ein würdiger Gegner sein?

Ich weiß es nicht. Niemand hat eine Antwort, die mich überzeugt. Zusammenfassend kann ich mich wieder nur Herrmann anschließen:

Ihrer [der Riesen] großen Bedeutung bei der Kosmogonie entspricht nicht ihre untergeordnete Stellung in der Eschatologie.112

III. Lokis kleine Tat

Loki:

„Hass und Hader,

bring ich den Asen,

so misch’ ich ihnen Gift in den Met.“

– Zankreden Lokis, Vers 3

Loki stiftet Balders/Baldrs Tod an. Er ist Beginner und Vollender des göttlichen Endkampfes Ragnarök.

Doch ist er auch schuld? Diese Frage mag eigenartig sein, aber sie wird aus zwei Quellen gespeist. Erstens ist es der Ursprung der Schuldfrage, die eigenartig ist:

Seine [Lokis] Weigerung, um Baldr zu weinen, sein trotziges Brüsten Frigg gegenüber (…) galt ursprünglich als wirklicher Grund für seine Bestrafung; aber ist noch keine Andeutung wahrzunehmen, dass Loki an Baldrs Tötung schuld gewesen sei; der intellektuelle Urheber des Mordes ist Loki in der Dichtung erst um das Jahr 1000.113

Ist Lokis Schuld eine spätere Schöpfung, ein Erklären des Ragnarök, das mit seiner ursprünglichen Rolle nichts zu tun hat? Vielleicht; zumindest ist die Theorie interessant (und passt zu meinen folgenden Thesen). Der zweiten Quelle meiner Theorie will ich mich gleich zuwenden.

IV. Die ewigen Blutsbrüder

„Lebt wohl“, sagte der Wanderer. Sein Umhang wehte um ihn herum, sein Speer drehte sich in die andere Richtung, die Tür fiel zu, und er war fort.

– Die Trauer Odins des Goten, Poul Anderson114

Odin: Der große Gute der nordischen Mythologie, die All-Vater-Figur, der Wissende um das Ende der Götter, der trotzdem seine Rolle bis zum Ende konsequent spielt. Doch ist Odin richtig beurteilt, wenn Herrmann über ihn schreibt:

Die alte Welt geht aus den Fugen, aber in unermüdlicher Fürsorge sie so lange wie möglich zu erhalten, auch unter den schwersten eigenen Opfern – das ist ihm [Odin] gelungen.115

Odin ist keine Lichtfigur, will es auch nicht sein. Man darf nicht vergessen, welche Ereignisse zum Krieg am Ende der Zeit führen. Die Schuld liegt bei den Göttern. Der erste Eidbruch war der Bruch des Eides der Götter gegenüber den Riesen. Dieser Betrug erzeugt das Ragnarök, sät er doch die Feindschaft, welche die Welt zerstören sollte.

Und auch Odins Handel, der zum Verlust von Hand, Schwert und Auge führt, ist am Ende der Welt töricht. Loki hingegen hilft den Göttern, kampfbereit zu bleiben. Als Thors Hammer verschwunden ist, ist es Loki, der ihn mit Thor zusammen wiederholt.116 Seine Warnung ist eindeutig:

Gleich werden Riesen

in Asgard hausen,

holst du dir nicht

deinen Hammer heim.117

Warum? Immerhin rettet er damit das Gerät, mit dem die Vernichtung der Welt erst möglich wird. Und was weiß er von der Bedrohung durch die Riesen, die durch die Angst vor Thors Hammer gebannt wird?

Scheinbar will er den Status Quo halten, so lange er kann. Und das macht nur (!) Sinn, wenn er vom Endkampf weiß. Eine eigenartige These. Aber es gibt Indizien dafür, dass Loki in das große Geheimnis eingeweiht ist.

Warum sind Loki und Odin Blutsbrüder? Woher stammt dieser Eid, auf was fußt er?

Loki:

„Weißt du noch, Odin,

wie in der Vorzeit einst

wir mischten das Blut miteinander?

Sagtest, du würdest

kein Bier je trinken,

außer es würde uns beiden gebracht.“118

Was war geschehen, dass diese beiden so aneinander bindet? Ich glaube, dass es das Wissen um das Schicksal war, in dem sie beide ihre Kinder und ihr eigenes Leben verlieren würden. Loki war die einzige Wahl für Odin, um das Geheimnis zu teilen. Wer sonst, wenn nicht der zynische Rätsel-Zauber-Trug-Gott? Und daher ist es Loki, der seine Rolle spielt – aber dafür sich herausnimmt, unter Odins Schutz der Witzbold zu sein, der Dinge tun darf, die kein anderer tun darf. Odin und Loki sind Blutsbrüder, weil sie gemeinsam um das Ende wissen.

Doch war das Geheimnis wirklich ein Geheimnis, das nur Odin kannte? Woher kennen die Götter beim Ragnarök dann das Geheimnis?

Die Asen treffen

am Idafeld sich, (…)

und denken zurück

an die großen Dinge,

an Göttervaters,

altes Geheimnis.119

Und auch die Seherin kennt das Schicksal der Welt:

Heimreite du, Odin,

freu dich des Ruhms!

So suche keiner mehr

Künftig mich heim,

bis Loki sich löst

aus seinen Banden

und Göttergeschick,

das gewaltige, eintritt.120

Was spricht Odin seinem (eigentlich schon toten) Sohn ins Ohr, bevor dieser auf den Holzstoß steigt?121

Das Geheimnis kann kein Geheimnis sein, wenn es so weit bekannt ist. Aber es ist auch nicht öffentlich bekannt, eher ein Geheimnis einer kleinen Gruppe, die gemeinsam schweigt, außer sie verplappert sich oder wird zum Reden gezwungen.

Odin kennt den Gang der Welt, aber er nutzt dieses Wissen meiner Ansicht nach, um das Ende der Welt so weit wie möglich zu verzögern. Verschlüsselt wirft auch Loki Odin vor, am Schicksal gedreht zu haben.122 Wofür hat Odin eigentlich sein Auge bezahlt? Das Schicksal der Welt kannte er schon, als er sich verstümmelte.

Immer wieder wird Loki von Odin geschützt – scheinbar als Ergebnis des alten Bundes, der Loki schützt, so lange dieser das Geheimnis wahrt. Doch Odin ist nicht der einzige, der Loki schützt. Loki wird bestraft, in dem eine Giftschlange ihm Gift ins Gesicht tropft. Seine Frau Sigyn123 hält eine Schale über sein Gesicht, um ihn vor dem Schmerz zu retten. Macht man das mit jemanden, der die Welt vernichten will?124

 

Meine These ist einfach: Loki weiß durch Odin (oder durch eigenes Erfahren?) vom Ende der Götter. Odin schützt Loki des gemeinsamen Geheimnisses willen. Die beiden schließen einen Bund, bis zum Ende der Welt zu schweigen, da sie ihre Umgebung nicht mit dem Wissen belasten wollen, das zu groß und zu schrecklich ist, um es selbst Göttern anzuvertrauen. Loki bleibt der Zyniker der Götter, der – von Odin geschützt – tun und lassen darf was er will, so lange er hilft, das gesehene Ende zu verwirklichen. So ist zu erklären, warum er Thor seinen Hammer besorgte und warum er seinen Teil im Kampf der Götter spielte.

Doch er wusste und erkannte, wer an dem Krieg wirklich schuld war. Die Asen trugen die Schuld der alten Blutlast und sie werden bestraft. Aber mit dem Fall der Asen endet auch das goldene Zeitalter Asgards, und so versucht Loki alles, um dieses Zeitalter zu verlängern – vergeblich, wie es scheint. Wenn die Zeichen kommen, dann steigt Loki an Deck und lenkt das Schiff zum letzten Kampf.

Und so erfüllt sich das Schicksal, das nicht hätte sein müssen, wenn die Götter ihre Eide gehalten hätten. Loki – der widerwillig zum Feind gemachte Possenreißer – zieht mit seinen Kindern gegen die Götter-Ordnung, um vernichtet zu werden. Das Steuerrad sicher zwischen den Händen fährt er aus, um Familie und eigenes Leben zu verlieren. Aber er stirbt im Wissen, das Ende der Welt mitgestaltet und – soweit möglich – verzögert zu haben.

V. Das kurze Nachwort

Nur ein sehr naives Zeitalter konnte wähnen, dass des Feuers Macht Segen bringt, solange es der Mensch bezähmt und bewacht. Der Teufel ist ein gewiefter Falschspieler, er lässt den Partner zunächst einmal gewinnen, um ihn dann hinterher um so müheloser ausplündern zu können. Mit dem Feuer, dem Element der Dämonen, lässt sich kein dauerhafter Bund schließen.

– Der Dämon und sein Bild, Erwin Reisner125

Dreieinhalb Nachbemerkungen.

Erstens: Ich bin kein Fachmann in nordischer Mythologie, kann weder fünfundzwanzig Namen für Gehöft in altisländisch oder altnorwegisch vorschlagen noch wichtige Sätze wie „Noch ein Met für den Magier an Tisch Zwo!“ in einer Zunge sprechen, die nordischen Göttern verständlich wäre. Sollte ich nach meinem Tode von Walküren geholt werde (was ich bezweifele), so hoffe ich in der Halle der Helden auf Bedienung nach Handzeichen.

Zweitens: Ich bin kein Mensch, der sich mit Schamanismus beschäftigt. Schamanismus und Religion sind nicht zwei unterschiedliche Seiten einer Münze, sondern eine Holzscheibe und eine Münze. Da ich an Gott oder Götter glaube (nennen wir es Theismus), muss ich auf den Schamanismus verzichten. Mir fehlt daher auch der Zugang, zu Göttern oder göttlichen Welten zu reisen und mich dort selbst umzuschauen. Mir bleiben das Buch, das gesprochene Wort und das eigene Erleben.

Drittens: Meine Annäherung an Loki ist eine vorsichtige. Ich habe große Achtung und Demut vor dem Feuer und der Lohe, die in Loki brennt. Aber Loki fasziniert mich trotz der Warnung, die in Reisner Zitat „Mit dem Feuer, dem Element der Dämonen, lässt sich kein dauerhafter Bund schließen“ mitschwingt. Ich will nicht den Fehler machen, mit dem Feuer einen Bund zu schließen. Ich suche einen Mittler, der mir das Feuer erklärt und mir hilft, mehr zu Feuer zu werden oder das Feuer zu erkennen126. Dieser Mittler ist für mich – mit aller Demut, die man benutzen muss, wenn man für Menschen, die mehr von nordischer Mythologie verstehen als man selbst, über nordische Mythologie schreibt – Loki. Keiner sonst.

Dreieinhalb: Hey Loki, wir sterben sowieso (fast) alle im Endkampf. Ich würde gerne den Wind in den Segeln spüren und die Waffe für etwas schwingen, an das ich glaube, bevor alles vorbei ist. An Zynismus kann ich glauben, aber eher an einen Eid, der einen zum Schweigen verpflichtet, damit das Leid durch das Wissen um das Ende nicht noch größer wird. Wenn auf deinem Schiff noch ein Platz frei ist …

MUSIK, MYTHOS, FANTASY
1. Vorbemerkung

Ich bin selbst kein Musikwissenschaftler. Ich bin von der Ausbildung her eigentlich Sozialarbeiter und habe mein Diplom über Fantasy-Rollenspiele geschrieben. Danach kam ein Studium der Geschichte und Politik mit einer Magisterarbeit über Alternative Geschichte – also über das Was wäre wenn? einer anderen Entwicklung von historischen Ereignissen. Darüber hinaus bin ich seit vielen Jahren in der Phantastik-Szene aktiv.

Man möge mir also verzeihen, wenn meine Abhandlungen weniger mit Musiktheorie als mit Phantastik, weniger mit wunderschönen Liedbeispielen aus dem 11. Jahrhundert als mit Zitaten aus dem sogenannten Mainstream geschmückt sind. Als Mainstream bezeichne ich im Folgenden etwas lapidar all jenes, was einem ohne zu suchen via der modernen Kommunikationsmedien ins Haus gebracht wird. Jene Dinge, die man suchen muss, um auf sie aufmerksam zu werden, können per Definition nicht Mainstream sein.

2. Status Quo

Die Phantastik ist mit ihren mythischen Bildern nach vielen Jahrzehnten als verlachte Randerscheinung der Literatur längst im Mainstream angekommen. Dies gilt nicht nur für die Literatur, sondern auch für den Film und die Musik. Ich brauche – völlig anders als noch vor zwanzig Jahren, als das Lesen von Fantasy ähnlich ruchbar war wie der Import von bunten Druckheften aus Dänemark – nur auf die Bestsellerlisten zu verweisen, wo nicht nur Harry Potter für die Phantastik punktet. Auch die Herr der Ringe-Verfilmung, Narnia, Beowulf und was da sonst noch in den letzten Jahren über uns hereingebrochen ist, hat bewiesen, dass mythische Bilder längst ihren Platz in der allgemeinen Kultur eingenommen haben.

Keine andere Literaturgattung kennt eine so enge Bindung zwischen Musik und Literatur wie die Phantastik. Nur der Krimi hat eine ähnliche Leserbindung entwickelt wie die Phantastik – analog mit Veröffentlichungen zum Thema, dem Erscheinen von eigenen Magazinen (Fanzines) und einem eigenen Fan-Publikum (Fandom genannt).

Doch spielt Sherlock Holmes zwar meisterhaft die Violine, aber ein singender Sherlock oder ein singender Arsene Lupin sind undenkbar. So gibt es zwar die Tanzenden Männchen bei Holmes, aber keine Hinweise auf Gesang. Der bekannte Detektiv Nero Wolfe beschäftigt sich nur mit Philosophie, seiner Bibliothek, Wein und Essen127; Sherlock Holmes128 nur mit Tabak und der Violine. Gesang findet nicht statt – und der Singende Detektiv ist daher auch eine eher humoristische Fernsehserie als eine echte Bereicherung des Genres.

Anders in der Fantasy. Wir wissen sofort, dass Prinz Eisenherz sein singendes Schwert führt, auch wenn dies Schwert überhaupt nicht singt. Da musste man schon bis Falsches Spiel mit Roger Rabbit (1988) warten, wo ein singendes Schwert mit dem Gesicht von Frank Sinatra vor sich hin fechtet. Aber praktisch kein Fantasy-Roman kommt ohne die Gesänge irgendwelcher obskurer Volksgruppen aus, die nur singend reisen oder ihre Rituale und Zauber gerne mit Gesang untermauern. Ein wenig fühle ich mich bei Elben immer an den 17. Asterix-Band Die Trabantenstadt gemahnt: Die Elben können nur arbeiten, wenn sie singen – die Elben sind vom Arbeiten befreit.

Sprache hat in der Fantasy-Literatur eine ganz eigene Bedeutung. In seiner Doktorarbeit zur Fantasy schreibt Helmut Pesch darüber:

Die Welt der Fantasy ist somit in einem ganz besonderen Sinne eine Welt, die aus Sprache aufgebaut ist; es verwundert darum auch nicht, dass die Sprache die Möglichkeit gibt, diese Welt zu verändern.129

Die Fantasy kennt einen Zusammenhang zwischen Sprache und wahrer Sprache, die wiederum auf die wahren Namen von Dingen hinweist.130 Wer den wahren Namen einer Sache kennt, der kann die Sache beherrschen. Zur Perfektion getrieben hat dies der Science Fiction-Schriftsteller Samuel R. Delany – in Babel 17 (1966) wird eine Sprache als Waffe eingesetzt. Wer etwas in dieser Sprache richtig beschreiben kann, der kann es auch kontrollieren.

Tolkiens Gandalf hat für jede Volksgruppe einen anderen Namen – und da man über ihn nicht mit einem Namen sprechen kann, bleiben seine Manipulationen auch unbesprochen, weil man offensichtlich nicht vom selben Namen (und damit eigentlich derselben Person) spricht. In Ursula LeGuins Erdsee-Trilogie131 geht es darum, dass der wahre Name Magie ist.

Die Phantastik bietet sich an als Spielwiese für den Einsatz von Magie im Gesang – und natürlich führt gerade die Medienpräsenz der Fantasy im Film dazu, dass hier von der Leinwand herab auch elbisch gesungen und auf Soundtrack-Alben in Harfen und mystischen Klängen geschwelgt wird.

Für die Musik gilt das im Wechselschluss auch, aber hier sind die Regale der Musikläden nicht nur voll mit Soundtracks, sondern auch mit allen möglichen heidnischen, mystisch/mythischen und zauberischen Titeln.

Dass der Mythos des Gesangs in der populären Kultur noch vorhanden ist und fröhliche Urstände feiert, ist spätestens seit dem 2. Weltkrieg kein Geheimnis mehr. Schon in den späten 40ern und frühen 50ern des 20. Jahrhunderts machte eine Amerikanerin auf sich aufmerksam, die angeblich Indio-Prinzessin, Priesterin und Sonnenjungfrau in einem war – 1952 schaffte sie es sogar auf das Titelbild des Spiegel: Yma Sumac.132 Sie sang populäre Lieder wie Wimoweh alias The Lion sleeps tonight:

In the jungle, the mighty jungle

The lion sleeps tonight

In the jungle the quiet jungle

The lion sleeps tonight

Sie sang aber auch Zauberweisen und Regenbeschwörungen a la Nina (Fire Arrow Dance) und Wanka (The Seven Winds). Obwohl diese Titel nicht für einfache Vermarktbarkeit sprachen, waren sie doch in einer unverständlichen Sprache gesungen, füllte sie große Hallen, tourte durch die UdSSR, durfte viele Jahre später auf einem Sammlung mit Liedern aus Disney-Filmen ein Stück beitragen (I wonder auf dem Sampler Stay awake) und war im Soundtrack zu The Big Lebowski zu hören (mit Ataypura).

Wem auch dieser Hinweis zu unauffällig erscheint, dem sei eine andere Quelle ans Herz gelegt, die weder als zu unbekannt noch als zu unpopulär gelten darf. In einer Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung der letzten Wochen war folgender Absatz zu lesen. Und wer hier nicht an singende Zwerge denkt, der ist wahrscheinlich deutlich weniger voreingenommen als ich:

»1,31 Meter groß, kurze Arme, sieben Finger – vier rechts, drei links –, großer, relativ wohlgeformter Kopf, braune Augen, ausgeprägte Lippen; Beruf: Sänger.« So beschreibt sich der 1959 geborene Konzertsänger Thomas Quasthoff selbst. Quasthoff dürfte das bekannteste Contergan-Kind Deutschlands sein.133

Wenn jetzt dieser Thomas Quasthoff Odins Meeresritt (von Aloys Schreiber, 1761-1841) in der Version von Carl Loewe (1796-1869) singt134 – ist das dann Zauberei, Fantasy, Mythos oder einfach nur Mainstream?