Deutschenkind

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6

Deutschenkind! Sie hatte das Wort oft gehört. Es lag etwas Schlimmes darin. Ein Urteil.

Henrik hatte das Wort auch benutzt, nicht direkt ihr gegenüber, aber es war durch die dünnen Holzwände gedrungen. Sie hatte die Mutter fragen wollen, aber das Wort blieb ein Teil der Gefahr. Deshalb verdrängte sie es absichtlich, sie hätte es sonst nicht ausgehalten. Es konnten Wochen und Monate vergehen, ohne dass sie das Wort hörte.

Aber es kam immer wieder. Da hatte sie ein Gefühl wie damals, als die Jungen von Været sie hinterlistig dazu überredeten, auf Skiern einen steilen Hang hinunterzufahren, und sie nicht wusste, dass die Jungen mitten im Hang eine Schanze gebaut und den Aufsprung mit mehreren Eimern Wasser schön vereist hatten. Es gab keinen anderen Weg, wenn man erst einmal in der Luft war. Nur viel Sog und leeren Raum rundum. Das Einzige, was man wusste, war, dass man irgendwann landen musste.

Auf der Straße draußen galt ein eigenes Gesetz. Es war nicht immer dasselbe wie das der Erwachsenen. Und es war auch nicht dasselbe wie drinnen in der Küche.

Aber der Schmerz war von kurzer Dauer. Wie bei einem eingeklemmten Finger oder einer Schürfwunde. Es tat weh, so dass die Tränen liefen, egal. Das ging vorüber. Man brauchte sich nicht zu grämen, denn alle kamen an die Reihe.

Ole war der Stärkste und Größte, aber nicht der Schlimmste. Er hatte seine Schwächen. Er pinkelte nachts ins Bett. Und ab und zu roch es so, als ob er nicht genügend Zeit hätte, sich sauberzumachen, bevor er in die Schule ging. Der große Junge! Tora sammelte Schwächen – von anderen.

Sie sagte es ihnen nicht, denn das hätte nur zu Unfrieden geführt. Aber sie dachte daran.

Manchmal träumte sie davon, dass sie es ihnen zurückgeben würde, genau an der Stelle, wo sie am verletzlichsten waren. Aber es wurde nie etwas daraus. Tora war dünn und unansehnlich und klein. Das Einzige, wozu sie Kraft hatte, war der Ballweitwurf. Sie lief auch schneller als alle anderen, wenn es sein musste. Oder sie schlich sich fort, ohne dass jemand es merkte. Dann stieg ihr die Schamröte ins Gesicht. Sie bekam ihren Anteil von all den Schlägen, die auf der Straße ausgeteilt wurden. Aber die waren anders als die Prügel, die sie von Henrik bezog.

Auf dem gegenüberliegenden Ufer der Bucht, wo Heidekraut und niedriges Gehölz beinahe bis an den Wegrand wuchsen, konnte Tora das alte Jugendheim sehen. Es war eigentlich nicht alt, nur sehr verwahrlost. Einst war es rot angestrichen gewesen. Vor dem Krieg. Der Krieg war schon sehr lange her, aber Tora wusste, dass sie ein Teil von ihm war.

Sie hatte viele Geschichten über den Krieg gehört. Aus allem, was sie hörte, wuchs die schreckliche Erkenntnis, dass auch Mama ein Teil von ihm war.

Wenn Henrik vom Krieg sprach, ging Mama ans andere Ende des Zimmers und drehte denen, die gerade anwesend waren, den Rücken zu. Henrik verfluchte den Krieg mehr als jeder andere, denn er hatte ihm beinahe die linke Schulter abgequetscht und sie halbwegs in die Lunge gedrückt.

»Die verdammten deutschen Schweine!«, sagte er und bekam tiefe Furchen zwischen den buschigen Augenbrauen.

Alle waren einer Meinung mit ihm, trotzdem sahen sie weg und warfen Ingrid verstohlene Blicke zu, wenn sie Henriks Ausbruch miterlebten. Mama sprach niemals vom Krieg. Tante Rakel hatte einmal angedeutet, dass Toras Geburt die Großmutter das Leben gekostet habe. Das war nicht für Toras Ohren bestimmt gewesen, deshalb konnte sie auch nicht fragen. Tora fand es seltsam, dass ihre Geburt an Großmutters Tod schuld sein sollte, denn sie konnte sich noch deutlich an sie erinnern, an ein bleiches und mageres Gesicht auf einem weißen Kissen, drinnen in der Kammer bei Tante Rakel und Onkel Simon auf Bekkejordet. Tora wusste, dass alles rationiert gewesen war, so dass die Menschen wenig zu essen und anzuziehen hatten. Vielleicht hatte sie sich verhört, und die Tante hatte gesagt, dass dies die Großmutter das Leben gekostet habe.

Tora stellte sich öfter vor, wie Almar aus Hestvika während der Rationierungszeit auf dem Deck seines klobigen Fischkutters nackt und ausgehungert umhergewandert war. Das musste ein kalter und wunderlicher Anblick gewesen sein. Tora sah immer Almar vor sich und keinen anderen.

Auf der Heide stand also das Jugendheim. Es war auch ein Teil vom Krieg.

Dort hatte man einmal Mamas Haar bis zu der schneeweißen Kopfhaut abgeschnitten.

Tora hatte oft und von vielen davon gehört. Aber sie glaubte vor allem Sols Geschichte: Sie hätten der Mutter das Haar abgeschnitten, weil Tora im Krieg geboren worden war.

Tora dachte indessen, dass sie es sicher deshalb getan hatten, weil sie neidisch auf Mama waren. Denn sie konnte gut sehen, dass auch die neuen Haare ungewöhnlich dunkel und dicht waren. Mama hatte das schönste Haar in ganz Været. Aber dass die Leute so gemein sein konnten? Einmal hatte sie Tante Rakel gefragt.

Da hatte die Tante sie in den Arm genommen und gesagt, dass der Krieg viele Menschen schlecht gemacht habe und dass Tora die Mutter nicht quälen und nicht danach fragen solle.

Aber jedes Mal, wenn Tora an dem Jugendheim vorbeiging, war ihr, als ob sich unsichtbare Hände nach ihr ausstreckten und ihr Böses tun wollten. Das Haus hatte ängstliche kleine Fensteraugen und ein schiefes Muster auf den ausgeblichenen Gardinen, deshalb war es seltsam, dass sie solche Gefühle hatte. Und sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendeiner von den Menschen, die sie auf der Straße, in Ottars Laden oder auf dem Kai sah, die Mutter so gehasst haben könnte, dass er ihr das Haar abgeschnitten hatte. Da musste eher das Haus die Schuld tragen.

Dort war es passiert. Und dort konnte es nun stehen, allein mit seinem immer störenden, zum Moor hin niedergedrückten Drahtzaun und seinen ungestrichenen Wänden, sichtbar für alle Welt! Die Mutter ging niemals mit ihr dorthin. Am 17. Mai und an den Weihnachtsfeiern nahm Tora nicht wie die anderen Kinder teil, bevor sie in die Schule ging.

Tora bildete sich ein, wenn »das Haus« der Mutter nicht die Haare abgeschnitten hätte, dann würden sie bis zu den Hüften hinunterreichen. Sie konnte die Mutter vor sich sehen, im Wind über den Fluss gebeugt, während sie die Wäsche ausspülte. Das Haar schwamm zwischen den Steinen im Fluss direkt hinaus ins Meer. Sie erzählte es Sol.

Aber Sol war zwei Jahre älter und nahm das nicht ernst. »Keine bekommt so lange Haare. Das gibt’s nur im Märchen.«

Sol und der Rest von Elisifs Kindern wohnten genau über Toras Kopf. Morgens rauschte es lange und kräftig in den Rohren da oben. Es waren eben viele, die die Waschschüsseln füllen und sich waschen mussten, gebückt über die Torfkiste beim Ofen und bewacht von Elisifs strengen Augen.

Es scharrte und klopfte und hustete und weinte da oben. Und das musste auch so sein.

Aber es gab natürlich genug Leute, die meinten, es sei doch zu verrückt, dass Elisif die vielen Kinder hatte. Sie waren gezeugt von einem kleinen grauen Mann, der nie mit den Türen schlug oder zur Unzeit ein tadelndes Wort sagte. Ein sanfter Schatten, mit dem niemand an der Seite der starken, dominierenden Elisif rechnete. Indessen standen die Männer rundum an den Wänden in Ottars Laden und grinsten und überlegten, ob bei Elisif auch in diesem Jahr wieder vor Weihnachten etwas Kleines ankommen würde. Das war nicht immer so. Jørgen war jedenfalls am 18. Mai geboren. Tora schien es ein Trost, dass die Leute es für verrückt hielten, dass Elisif jedes Jahr ein Kind bekam. So war sie im Unglück nicht allein.

Als Tora klein war, saß sie bei Ebbe öfter unten am Strand und sah das Licht aus dem Grau und Blau aufsteigen und seinen Schein direkt in den Himmel hineingeben.

»Es ist der Himmel, der dem Meer und der Erde Licht gibt«, sagte Ingrid, als Tora versuchte, ihr verständlich zu machen, was sie sah. Sie saßen oft an der Flussmündung und aßen, während die Wäsche in dem mächtigen Waschkessel zwischen den Steinen kochte. Kaffeemulde nannten die Leute die Stelle. Dort konnte man im Kessel frisches Wasser aus dem Fluss holen und außerdem auf das Meer hinausschauen.

Tora glaubte nicht richtig, was die Mutter vom Licht und vom Himmel sagte. Denn das Meer war doch so unendlich tief. Ganze Schiffe und jede Menge Menschen konnte es verstecken wie nichts. Und doch war es so groß, dass es noch Platz hatte für alles andere, Fische und Tang, Netze und Steine.

Aber sie widersprach der Mutter nicht, sah nur verwundert auf das Glitzern dort unten im Brackwasser, folgte mit den Augen den Strömungen und Wirbeln bis dorthin, wo es das graue Salzwasser erreichte und unter zitternden Schaumkronen grünlich schimmerte. Tora hatte einmal Salzwasser getrunken, weil sie nicht begriffen hatte, dass ein Unterschied zwischen Meer- und Flusswasser besteht. Seitdem vergaß sie den Geschmack nie mehr. Deswegen hatte sie Angst, im Meer zu baden. Sie zog die Kolke im Fluss vor, auch wenn sie kälter waren. Und wenn sie hörte, dass jemand im Meer ertrunken war, hatte sie immer den salzigen, widerlichen Geschmack im Mund. Somit wusste sie ein wenig vom Sterben.

7

Der Herbst war die Zeit der Reisig- und Torffeuer. Die Leute bereiteten sich auf den Winter vor und waren im Haus beschäftigt.

Alle warteten mehr oder weniger auf die große Geschäftigkeit, wenn der Fisch an Land kam.

Da waren Nerven und Glieder angespannt, und man fragte nicht nach Tag oder Nacht, nach Arbeitslust oder Müdigkeit. Einige standen in der Fischfabrik oder in der Gischt. Andere standen am Küchenfenster oder mit dem Ohr dicht am Radio. Kinder weinten, und das Vieh musste gefüttert und der Stall ausgemistet werden, auch wenn die Frauen allein waren. Sie beklagten sich nicht. Es war wichtig, möglichst viel aus der Fischsaison herauszuholen. Da bekamen viele diese Chance zum Geldverdienen. Das war aber auch alles. Ottar und Grøndahl mussten ihr Geld für die Nahrungsmittel bekommen, die vielleicht schon als Mist ausgebreitet auf den kleinen, steifgefrorenen Äckern lagen oder an heimlichen, versteckten Stellen zwischen Tangbüscheln an der Flutgrenze schaukelten. Die Kinder brauchten neue Stiefel und Skihosen und Kleider für drinnen, damit sie sich sehen lassen könnten, wenn es Weihnachten wurde.

 

Den Torf nahm man nur zum Feueranmachen, dann kam der Kohlenhändler zum Zug. Wer später im Jahr schlachtreife Schafe im Stall hatte, konnte sich freuen, wer aber das Fleisch kaufen musste, konnte bluten. Solchen Leuten blieb nichts anderes übrig, als den Kopf über Wasser zu halten und das Leben weitergehen zu lassen. Schweinefleisch sollte der Teufel essen. Denn nur bessere Leute und solche mit einer tüchtigen Frau im Hause, die ein Schwein zu mästen verstand, konnten sich diesen Luxus leisten. Simon auf Bekkejordet behauptete, dass eine ordentliche Frau der halbe Lebensunterhalt sei.

Damit habe er recht, meinten alle, die Rakel kannten. Alle wussten, dass sie das Zeug zu mehr in sich hatte, als sich nur völlig zu verausgaben.

Rakel verwaltete Simons Besitz und seine Schulden. Ab und zu beschummelte sie ihn auch ein wenig. Aber niemals aus Bosheit. Nur um ihm das Bitten und Betteln um Geld zu ersparen, für Dinge, von denen er einfach nicht begriff, dass sie nötig waren.

Rakel hatte ihre Notgroschen in einer Schatulle. Mit der Zeit waren das übrigens nicht gerade wenige.

Wenn sie etwas davon nahm, so musste das sein, und sie trauerte dem Geld nicht nach. Aber sie war nie blank. Sie hatte schon schlechtere Zeiten erlebt als jetzt bei Simon. Simon erlaubte es sich, über Rakels Schatulle zu lächeln, er mischte sich jedoch in ihre Angelegenheiten nicht ein. Sie ihrerseits ließ ihn niemals merken, dass sie über Geschäft, Mannschaft und Boot Bescheid wusste.

Es gab auf Bekkejordet auch einen verborgenen Brunnen. In diesem Brunnen wäre Simon einmal beinahe ertrunken. Da war Rakel aus der warmen Stube herausgekommen und hatte ihn aus der Kälte geholt.

Im tiefsten Herzen wusste Simon, dass Rakel als Letzte untergehen würde, wenn etwas Schlimmes passierte und sie Schiffbruch erlitten. Rakels Stärke verwirrte und überraschte ihn, gerade deswegen, weil sie nicht in den Fäusten lag. Rakels Stärke war unantastbar.

Das hatte er vor allem begriffen, als sie aus der Stadt kam und ihm erzählte, dass sie keine Kinder bekommen könne. Sie hatte in dem neuen, großkarierten Mantel dagestanden und mit den Händen gestikuliert.

Der Doktor hatte es gesagt: nach siebenjähriger Ehe keine Hoffnung mehr auf Kinder. Da hatte sie sich eben einen Mantel gekauft. Sie sagte das ebenso verbissen und tränenlos, wie sie es hinnahm, dass sie noch einmal putzen musste, wenn die Arbeiter nach der Kartoffelernte da gewesen waren. Kein Kind! Es lag an ihr.

Sie hatte unten im Betrieb in der blauen Bürotür gestanden. In seinem Reich hatte sie sein Versagen auf sich genommen.

Denn es war kein Leben in Simon Bekkejordets Samen. Er war oft nahe daran gewesen, es ihr zu sagen, aber er brachte die Worte einfach nicht heraus. Wusste, dass sie sich sehnlichst ein Kind wünschte. Er überlegte genau, was er sagen wollte. Aber wenn der Augenblick kam, wurde es doch nicht gesagt. Es ging einfach nicht. Zuletzt bedrückte es ihn so, dass er anfing, sich von ihrem Bett fernzuhalten. Er machte sich mehr und mehr im Betrieb zu schaffen, so dass sie eingeschlafen sein musste, wenn er nach Hause kam.

Vielleicht hatte sie deshalb die Schatulle aufgeschlossen und war in die Stadt gefahren.

Rakel verwaltete das, was Simon nicht hatte, genauso gut wie das, was er hatte, so sah es jedenfalls aus.

Da hatte sie nun in dem neuen Mantel gestanden und ihm mit den ehrlichsten Augen der Welt ins Gesicht gelogen. »Ich kann keine Kinder kriegen, Simon. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen oder kinderlos bleiben.«

Am Abend hatte er sie genommen, erst etwas schamhaft wie ein dankbarer Hund. Da hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass sie ihn so nicht haben wollte. Und er hatte sich tief in sie hineingegraben und die Sicherheit gefühlt, einen Menschen bei sich zu haben, der ihm mindestens ebenbürtig war im Körper und im Willen. Sie waren wach beieinander, bis der Tag kam und die Arbeit mit dem großen Vorschlaghammer vor dem Bett wartete. Beide lebten voller Wärme und Nähe füreinander. Beide wussten.

Rakel schaffte sich eine Katze an.

Der Regen hatte sie überfallen, und unter den Bergkämmen lag der Nebel, dicht wie alte Bosheit.

Die Berge im Süden gehörten nicht mehr zur sichtbaren Welt. Die Leute heizten ein, schlossen die Haustüren und maulten über die undichten Fenster. Sie suchten Wolljacken und -hosen hervor und grausten sich vor dem notwendigen Geschäft in dem kleinen Häuschen.

Man knöpfte alles gut zu, wenn man hinausging. Die Gesichter lugten weiß und leuchtend aus den Kleiderbündeln, wenn man unterwegs Menschen traf.

Am liebsten hockten sie dicht beieinander in den eigenen vier Wänden. Hielten Abstand zu allem, was außerhalb war. Da gab es kein Rufen mehr über Gartenzäune, von denen die Farbe abgeplatzt war, und über rostige, quietschende Wäschegestelle. Die Kartoffeln waren im Haus. Die paar Johannisbeeren, die noch an den Sträuchern hingen, sollten in Gottes Namen die kleinen Vögel fressen.

Einige Laken und Kissenbezüge hingen dort draußen zwischen den Unterhosen und tanzten im Wind. Aber am Morgen knackte es gewöhnlich in ihnen, wie sie da so in Reih und Glied hingen und sich steif hin und her bewegten. Sie baumelten wie vergessene Leichen in dem eisigen Luftzug.

In Bezug auf die Unterwäsche besteht ein großer Unterschied zwischen einem Nordnorweger und einem Südnorweger.

Der Wintermensch hat bedeutend weniger in sich, ist aber umso besser ausgerüstet.

Das Leben am Kai verlief träge. Es war, als ob beim Winterfischfang an Treibstoff gespart würde. Auf ihren Booten gingen die Männer rund um die Ladeluken und hatten nichts zu tun. Große Hände schlenkerten an der Ölhose entlang oder pusselten ein wenig mit dem Tabak und der Pfeife herum.

Ab und zu rissen die Männer sich zusammen und schlugen in rasendem Tempo die Arme über der mit der Arbeitsbluse bekleideten Brust zusammen, bis die Hände von der stärkeren Durchblutung und vom Frost glühten.

»Was treibst du dich denn hier rum?«, konnten die Männer irgendein Kind anschreien, das den Südwest nicht respektierte, sondern einen Spaziergang zwischen den Hütten oder hinter den Bootsschuppen machte.

Aber viele Männer waren auch um diese Zeit gutmütig und hatten nicht vergessen, dass sie selbst einmal jung gewesen waren. Diese Männer hatten oft leisen Spott im Auge und ein Scherzwort im Mundwinkel, wenn Tora und die Tausendheimbande vorbeikamen.

Regennasse, glühende Gesichter und quatschende Schuhe an dem einen Tag, eiskalte, schmerzende Finger und triefende Nase am anderen. So war das eben.

Galoschen mit einem Einmachgummi über dem Rist an dem einen Tag und dicke Socken am anderen.

Den ganzen Oktober und November war es grau und neblig, aber die Nächte waren trotzdem eiskalt und schlimm und hatten einen tückischen Mond, der für den nächsten Tag gutes Wetter versprach und log. Denn lange bevor die Hühner draußen im Schuppen der Kampfertropfen-Anna zu rumoren anfingen und allmählich an den Tag glaubten, goss es von einem lebensfeindlichen Himmel herunter und gluckste und rann in den morschen Dachrinnen vom Tausendheim. Die Männer trafen sich in dem neuen Laden in Nordvika oder in der alten, dunklen Hütte von Ottar. Sie schwatzten und blieben hängen. Nach ein paar Stunden kam vielleicht der eine oder andere darauf, dass er noch einkaufen musste. Das brauchte dann auch seine Zeit und hatte keine große Eile.

Ottar stand hinter dem Ladentisch und wog ein bisschen und maß ab. Er rechnete und beteiligte sich an den Klagen über das Wetter, wenn er gerade nichts anderes zu tun hatte.

»Der Teufel soll das Wetter holen«, konnte er ehrlich überzeugt und mit mühsam unterdrücktem Zorn sagen, wenn er den Südwester aufsetzen musste, um nach draußen zum Lager zu gehen und Heringe oder Sirup zu holen. Denn Ottar hatte einen »Scheitel«.

Die dünnen Haare von unbestimmter Farbe waren sorgfältig gekämmt, mit einem Scheitel auf der rechten Seite. Das hätten sie damals in Bodø so gehabt, als er dort als Verkäufer gearbeitet hatte, erklärte er stolz.

Bei den täglichen Anforderungen hatte er natürlich nicht die Zeit, sich dauernd zu kämmen, deshalb benutzte er einen großen Südwester, wenn er nach draußen musste. Dieser hing stets griffbereit auf einem Nähgarnröllchen hinten bei der Tür mit dem abgesprungenen Emailleschild, das die Aufschrift PRIVAT trug.

Aber lästig war es sowohl mit dem Südwest, der draußen wütete, als auch mit dem Südwester, der drinnen am Haken hing. Es konnte ihm passieren, dass er schon am Kai war, bevor er sich an seine Kopfbedeckung erinnerte. War es windig, was sehr oft der Fall war, dann war der ganze Scheitel zum Teufel. Dann musste er hinauf ins Private eilen und seine Haare in Ordnung bringen, während kostbare Verkaufsminuten sich in Luft auflösten. Denn die heimliche kleine Glatze musste vertuscht werden, koste es, was es wolle.

Das Wetter war nicht dazu angetan, dass ein armer Teufel wegen eines Mittagessens nach draußen schleichen mochte. Gute Mächte schienen zu meinen, sie sollten mit den Händen im Schoß dasitzen und sich zu Tode hungern, obwohl die Speisekammer gleich vor dem Kai lag. Die Männer spuckten in den großen Napf an der Tür, ob sie nun Tabak kauten oder nicht, und waren sich einig.

Tora saß auf einer Tonne hinten in der dunkelsten Ecke und wartete. Sie hatte eine Liste mit dem wenigen, was sie einkaufen sollte.

Die Wollstrümpfe kratzten. Die Mutter hatte sie ihr auch dieses Jahr wieder aufgezwungen. Jedes Mal, wenn jemand kam oder ging, spürte sie den Luftzug langsam herangleiten und genau die Stelle finden, wo die Hosenkante aufhörte und die bloße Haut zum Vorschein kam, weil sie im letzten Sommer so gewachsen war, dass die Strümpfe zu kurz geworden waren. Sie merkte die Kälte nicht sofort, die schlich gleichsam lauernd, wie mit Eisnadeln, die Schenkel herauf.

Ihr graute vor dem Augenblick, da Ottar ihr zunicken würde und sie an der Reihe wäre, denn sie hatte auch heute kein Geld mit. Nur den Zettel, feucht von den schweißnassen Händen und dem Regen. Auf dem Zettel stand in Ingrids Schrift:

¼ kg Kaffee

1 kg Margarine

1 kg Weizenmehl

100 g Hefe

1 l Sirup

Kannst du das bitte anschreiben, bis ich herunterkomme?

Ingrid

Ottars Gesicht warf Falten in der verkehrten Richtung und wurde ein wenig dunkler, als sie ihm den Zettel gab. Er räusperte sich und holte ihr die Waren. Danach nahm er das große, dicke Buch, das einmal grün gewesen war und ein marmoriertes Muster in allen Farbschattierungen aufwies.

Langsam und traurig suchte er Ingrid Tostes Namen, den Zeigefinger drohend vor sich haltend. Dann fügte er den neuen Betrag zu den vielen anderen, die schon dastanden. Zuletzt schlug er das Buch mit einem Knall zu und seufzte halblaut.

In dieser ganzen Zeit war Tora von einem Fuß auf den anderen getreten und hatte das Gefühl gehabt, Ameisen zwischen ihren Kleidern und dem Körper herumkrabbeln zu spüren.

Dauernd hätte sie Pipi machen können. Obwohl sie sich, bevor sie in den Laden gegangen war, noch hinter den hohen Holzzaun gehockt hatte.

Aber die Waren bekam sie, wie immer.

Es war noch nie vorgekommen, dass Ottar Lebensmittel verweigert hätte, die man zum Brotbacken brauchte.

Tora schlich sich zwischen den Männern durch, deren Gesichter hoch oben zusammenflossen. Augen und nochmals Augen. Münder, die kauten, Münder, die sich um den Pfeifenstiel zwischen gelben Zähnen schlossen oder halboffen und neugierig über ihr standen. Wenn die Messingglocke an der Tür leise klingelte, war das sowohl ein gutes als auch ein schlechtes Zeichen für Tora. Es kam darauf an, in welche Richtung ihre Nase und ihre Zehen zeigten. Hinein oder hinaus.

Zitternd und außer Atem hielt sie so schnell wie möglich hinter dem Holzzaun an und erleichterte sich. Dann eilte sie die Straße entlang und den Hang hinunter zum Tausendheim. Sie sprang über die Pfützen, und die Waren schlugen ihr gegen die Beine. Der alte schwarze Regenmantel hing wie ein Segel hinter ihr, weil sie sich nicht die Zeit genommen hatte, ihn zuzuknöpfen.

 

Eigentlich wusste sie nicht, was passiert wäre, wenn sie nicht mehr rechtzeitig aus dem Laden gekommen wäre, nachdem Ottar die Waren im Buch notiert hatte. Hier hörte die Phantasie auf. Und Ottar vom Laden wurde gleichsam Jesus und Gott und der Pastor und der alte Lehrer und Henrik in einer Person. Das hielt sie nicht aus. Sie musste fliehen.

Als sie nach Hause kam, schimpfte die Mutter nicht, weil sie die Treppe heraufgepoltert war und die Stiefel noch in der Wohnung anhatte. Sie nahm nur die Einkäufe entgegen und berührte Tora flüchtig mit der freien Hand. Sie lächelte schwach, als ob sie noch etwas sagen wollte.

Aber Tora rannte die Treppe hinunter, hinaus auf die Straße zu den anderen, die struppigen roten Zöpfe wie gefärbte Sisalstummel hinter sich und eine wunderbare, flüchtige Freude in sich. Sie war gerettet. Auch diesmal. Sie konnte die nächste Einkaufstour mit gutem Gewissen verdrängen. Runter in den Bauch damit!

Sicher, sie fühlte sie manchmal wie eine Ratte nagen, wenn der Tag sich näherte. Besonders wenn sie in der einsamen, warmen Dunkelheit ihres Bettes lag. Aber in dem Augenblick, wenn der Einkauf vorüber war, gab es keine Sorgen mehr.

Als sie abends mit steifen Händen und roten Ohrläppchen nach Hause kam, roch es im ganzen Treppenhaus nach Brot. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, und sie sauste die Treppe hinauf. Ihre dünnen, geraden Beine waren unglaublich stark, wenn es darauf ankam. Die Brote lagen noch zum Abkühlen auf dem Küchenschrank. Nichts war dem Geruch von Mutters Brot vergleichbar. Sogar Henrik bekam ein gutes Gesicht, wenn er das Brot witterte. Er konnte sich dann neben den Küchenschrank setzen und seine Finger mit irgendetwas beschäftigen. Er war mit der einen Hand, in der er Kraft hatte, außerordentlich geschickt, und er half mit der anderen, soweit er es vermochte. Aber nur, wenn er wollte.

Tante Rakel meinte, dass er, geschickt wie er war, mit dem Reparieren von Netzen sehr wohl etwas verdienen könnte, wenn er nur nicht eine Frau hätte, die alles herbeischaffte, was sie brauchten. Aber Ingrid antwortete nie auf solche Bemerkungen. Sie stellte sich ganz einfach taub. Tora wusste, ohne Tante Rakel hätte es in den Zeiten, als die Mutter arbeitslos gewesen war, nicht sehr gut bei ihnen ausgesehen.

Abends waren sie allein, die Mutter und sie. Henrik saß unten in der Arntsen-Hütte. Tora hatte seine Stimme durch das offene Fenster gehört, als sie mit den anderen Kindern zwischen den Tonnen Versteck spielte und an dem Fenster vorbeigestrichen war. Es war Samstag, und einige Männer vertrieben sich dort die Zeit. Tora hängte ihr nasses Zeug zum Trocknen in die Nähe des Ofens. Sie legte noch ein paar Schaufeln Kohle auf, nur um der Mutter zu zeigen, dass sie ihr gerne zur Hand ging.

Ingrid nähte. Sie saß über die alte schwarze Nähmaschine gebeugt, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte.

Nun erhob sie sich langsam, reckte den Rücken und stützte ihn mit der rechten Hand. Sie sah blass und müde aus, aber sie lächelte. Es war ein richtiges Lächeln, als ob sie an etwas Schönes dächte. Dann ging sie hinüber zum Küchenschrank und nahm eines der frischen Brote heraus. Schnitt mit raschem, sicherem Griff in das weiche Brot, das jedes Mal nachgab, wenn sie das Messer durch die goldgelbe Kruste drückte. Die Kruste war knusprig und gab bei jedem Schnitt einen Laut von sich, als ob sie um Gnade bäte. Ingrid schmierte reichlich Butter auf die Brotscheiben und ließ den Zuckerlöffel darüber vibrieren, so dass es weiß und schön auf die ganze Scheibe rieselte.

»Was hat er gesagt, der Ottar?«, fragte sie und bestreute eine zweite Scheibe mit Zucker.

»Nee-ee, er hat nichts gesagt … Ich mein, er hat nur mit den Mannsleuten geredet, die da standen.«

Tora zögerte so lange, dass die Mutter sich umdrehte und Tora das Gesicht zeigte, das sie heute Abend am wenigsten sehen wollte. »Warum sagste das? Warum sagste nicht, wie es ist?« Das klang ärgerlich und ängstlich.

»Was soll ich da sagen?« Toras Stimme war zaghaft, aber sie streckte die Hand nach der Schnitte aus, die die Mutter ihr reichte.

»Setz dich ans Tischende und streu den Zucker nicht überallhin!«

Tora ließ sich am Küchentisch nieder und stellte einen Teller unter die Schnitte, so wie es die Mutter haben wollte. Dass sie es immer wieder fertigbrachte, die Mutter in schlechte Laune zu versetzen. Immer machte sie alles falsch. Es war wie verhext! Und das heute Abend, wo sie allein waren und es so schön hätten haben können.

»Der Ottar hat nichts zu mir gesagt. Das ist bestimmt wahr. Wenn du meinst, er hätt was zu mir sagen sollen, weil ich die Sachen hab anschreiben lassen, so hat er nichts gesagt, Ehrenwort!« Sie schwiegen beide. Ingrid hatte sich wieder dem Küchenschrank zugewandt. Der Zucker knirschte laut zwischen Toras Zähnen. Sie konnte es nicht ändern, denn es schmeckte so gut, und sie war hungrig.

Es trommelte jetzt gegen die Fensterscheiben. Der Regen schloss sie zusammen dort ein. Die Mutter schien das auch so zu sehen, dass nur sie einander hatten, denn plötzlich drehte sie sich um, sah Tora freundlich an und sagte: »Nein, es ist wohl so. Der Ottar ist nett. Du sollst übrigens nächste Woche mit Geld hingehn. Ich werd im Lensmannshof was kriegen fürs Extrawaschen. Ja, und dann krieg ich ja auch die Lohntüte, weißte. Du kannst damit gehn, du!«

Tora kaute und lächelte. Im Geiste sah sie mindestens zehn Zahlen in Ottars Buch vor sich. Aber sie sagte nichts. Rutschte nur unruhig hin und her und leckte den Zucker auf, der auf den Teller gefallen war. Sie nahm dazu den Finger, drückte ihn kräftig auf die Zuckerkrümel, so dass sie zum Mund mitkamen.

»Sitz nicht so da«, sagte die Mutter. »Es ist ekelhaft, beim Essen an den Fingern zu lecken.«

Tora senkte den Kopf und hörte auf, Zucker zu lecken. Sie bekam einen Knoten im Magen, und die Brotscheibe, die ihr gerade gereicht wurde, war zu groß. Sie fühlte sich so elend, dass sie keinen anderen Rat wusste, als die Mutter noch einmal anzulächeln. Aber es gelang nicht recht, und die Mutter sah es auch nicht, denn sie hatte sich wieder zum Küchenschrank umgedreht, um das Essen wegzuräumen. Dann ging Ingrid zu dem Tisch, auf dem die Nähmaschine stand. Immer mit dem Rücken zu Tora. Tora fühlte eine Leere in sich. Mamas Rücken schien ihr die ganze Zeit feindlich gesonnen zu sein.

»Soll ich dir Kaffee kochen?«, fragte sie nach einer Weile vorsichtig.

Ingrid wandte sich langsam um und sah das Mädchen an, als ob sie sie vorher nicht richtig gesehen hätte. Blinzelte, als ob sie schlecht sähe, nachdem ihre Augen sich an das starke Licht über der Nähmaschine gewöhnt hatten und nun plötzlich in die Dunkelheit hineinschauen sollten.

»Nein, Tora … Aber du kannst mir helfen, die Jacke anzuprobieren. Ich plag mich mit den Ärmeln. Die Rakel ist ja kleiner als ich. Schmaler. Deswegen muss ich Keile einsetzen, guck! Aber das Wenden ging gut. Die Jacke sieht wie neu aus.«

Sie hielt Tante Rakels abgelegte und gewendete Sonntagsjacke vor Tora hoch. Tora wischte sich den Mund ab und stürzte zu ihr hin. »Ja! Was soll ich machen?«

Die Mutter erklärte und dirigierte. Sie zog die Jacke an und drehte sich vor dem Spiegel, den sie aus der Stube geholt und gegen eine Stuhllehne gelehnt hatte. Tora steckte die Stecknadeln dorthin, wo Ingrid hinzeigte. Die nackte Birne über dem Tisch legte einen Glorienschein um die beiden einander zugeneigten Köpfe. Nach einer Weile war die Anprobe beendet, und Ingrid setzte sich wieder an die Nähmaschine. Es summte, wenn sie die Handkurbel in Bewegung setzte. Tora hing über dem Tisch und sah zu. Wagte es jetzt. Sie hatte den Stuhl herangezogen und konnte den ganzen Arbeitsablauf verfolgen.

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