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Herbert Speer

Keltisches Kreuz

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1 Irland

2 Auf zu Gunnings

3 Zehn der Schwerter

4 Prinzessin der Kelche

5 Die schwarzen Männer

6 Athlone

7 Was bedeutet IRA?

8 Clonmacnoise

9 Keltisches Kreuz

10 Die Liebenden

11 Geständnisse

12 Rock of Cashel

13 Ian’s Geheimnis

14 Die Wahrheit kommt ans Licht

15 Zu Hause

Impressum neobooks

1 Irland

„Vorsicht, Papa! Du fährst auf der falschen Seite!“

Mit quietschenden Reifen brachte Herr Wagner den schweren Kombi zum Stehen. Seiner Frau auf dem Beifahrersitz blieb fast die Luft weg. Michael, der von hinten gewarnt hatte, war froh, dass sein Vater so schnell reagiert hatte. Doch Michaels Adoptivschwester Sophie schüttelte nur den Kopf.

„Weißt du denn nicht, dass in Irland Linksverkehr gilt?“

Michael machte ein verständnisloses Gesicht und Kai, der zwischen den beiden saß, fing herzhaft an zu lachen. Derweil gab Herr Wagner wieder Gas und steuerte den Wagen in Richtung Autobahnauffahrt.

„Woher hätte ich das denn wissen sollen? War ich etwa schon mal in Irland?“, versuchte sich Michael zu verteidigen.

„Ich war ja auch noch nie in Irland und wusste es trotzdem!“

Sophie konnte es nicht zulassen, dass ihr Bruder das letzte Wort behielt, doch wie so oft in solchen Fällen, half Kai, der Michaels bester Freund und Dauergast bei der Familie Wagner war, den Streit zu beenden.

„Sagt mal, die Leute, zu denen wir fahren, das sind doch keine Iren, oder?“

„Der Vogel ist eigentlich ein Urbayer, der vor langer Zeit nach Irland ausgewandert ist.“

Herr Wagner hatte die Autobahn erreicht und fädelte sich gerade in den laufenden Verkehr ein.

„Der Vogel?“

Michael konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Das ist sein Spitzname. Kommt wohl noch aus seiner Jugend. Der Schulfreund, der mir den Kontakt vermittelt hat, meinte, früher sei der Vogel vogelwuid gewesen...“

„Vogelwuid?“

„Na, ihr könnt doch bayerisch, oder nicht?“

„Klar“; übernahm Sophie das Ruder. „Vogelwuid heißt so viel wie ziemlich verrückt, total abgefahren, krass drauf halt...“

„Und zu so einem fahren wir jetzt?“

Kai und Michael tauschten fragende Blicke.

„Keine Angst. Der Vogel ist einfach nur ein Original. Habe ja ein paar Mal mit ihm telefoniert. Er hat sich da mitten in Irland eine alte Mühle zugelegt und sie renoviert. Früher hat er als Musiker und Gastwirt gearbeitet...“

„Eine Mühle?“

Nun wurde Michael hellhörig.

„War wohl ziemlich verfallen das Ganze. Aber es ist ihm gelungen, das Mühlrad wieder instand zu setzen.“

„Hört sich ja abgefahren an.“

„Und wie lange fahren wir jetzt?“

„Vielleicht anderthalb Stunden. Schaut Euch die Landschaft an!“

Die Landschaft war nicht besonders berauschend und bot nichts, was die Kinder interessiert hätte. So versuchten sie sich anderweitig zu beschäftigen. Michael und Kai spielten ‚Ich sehe was, was du nicht siehst’ und Sophie simste mit ihrer besten Freundin.

Als die anderthalb Stunden fast vorüber waren, fragte Michael ungeduldig nach, wie weit es noch wäre.

„Höchstens noch eine Viertelstunde. Das hier ist schon Mullingar, die letzte größere Stadt.“

Sie fuhren gerade die Hauptstraße der Stadt entlang. Links und rechts reihten sich bunte Häuserfassaden aneinander. Dort gab es kleine Läden und dazwischen immer wieder Lokale und Restaurants. Außerhalb der Stadt fuhren sie nochmal etwa zehn Minuten über Land, dann bogen sie in eine schmalere Seitenstraße ab, wo Vater den Wagen deutlich verlangsamte.

„Es soll auf der linken Seite sein. Seht mal zu, ob ihr eine Mühle entdeckt.“

„Ich glaube, da ist es. Da steht zumindest jemand am Straßenrand und winkt uns.“

Tatsächlich stand da ein kräftig gebauter Mann, der wohl in den Fünfzigern sein mochte, und wies mit der Hand auf ein Rasenstück, wo sie parken konnten. Fast gleichzeitig stiegen sie aus und näherten sich ihrem Gastgeber, zu dem sich in der Zwischenzeit eine Frau gesellt hatte.

„Herzlich willkommen in Milltown!“

Der Mann streckte ihnen die Hand entgegen. Herr Wagner ergriff sie als Erster.

„Ich bin der Hans. Und das ist meine Frau Louise.“

„Sehr erfreut. Wagner.“

Nachdem sich alle gegenseitig vorgestellt hatten, übernahm der Mann, den man den Vogel nannte, das Kommando.

„Dann kommt’s mal mit. Na zeig ma euch erst mal as Häusel.“

Er führte sie durch ein Gartentor und schritt die wenigen Stufen einer steinernen Treppe zur Eingangstür eines Anbaus hinauf, der sich an der Stirnseite des langgestreckten Hauptgebäudes befand. Der Vogel öffnete die Tür und betrat einen kurzen Gang.

„Links habts des Bad und rechts as Klo. Gradaus is dann die Stube. Kommts nur rein.“

Im Gänsemarsch folgten die fünf ihrem Gastgeber und seiner Frau. Die Stube sah richtig gemütlich aus. Es gab eine Eckbank mit Tisch und zwei Stühlen, eine Küchenzeile mit allem, was dazu gehört, außerdem einen Schrank, Regale und einen großen alten Sessel. Hinter diesem führte eine Holztreppe in das obere Stockwerk.

„Dürfen wir nach oben schauen?“

Michael stand schon am Fuß der Treppe.

„Na klar. Warum net?“

Die Kinder stürmten fast gleichzeitig die Treppe hinauf, während Frau Wagner einen Wäscheständer entdeckte, der unter der Decke hing. Der Vogel fing ihren Blick auf, griff nach einem Seil, das an einem Haken an der Wand befestigt war, und ließ den Wäscheständer tiefer sinken, bis er auf Augenhöhe hing.

„So, da könnt’s die Wäsch aufhängen. Wenns was zum Waschen habts, gebts as uns.“

„Ist ja unglaublich praktisch“, freute sich Sophies Mutter.

„Ich will an der Wand schlafen.“

Michael hatte das Rennen gewonnen und als erster den Schlafbereich im oberen Stockwerk erreicht. Es gab ein Doppelbett am Ende des Raumes, das sich durch einen Vorhang abtrennen ließ. Ein weiteres Doppelbett befand sich an der Seite und ganz vorne, bei der Treppe, war noch ein einzelnes Bett.

„Vielleicht sollten wir erst einmal eure Eltern fragen, wo die schlafen wollen...“

Kai konnte sich nicht recht entscheiden und Sophie dämmerte bereits, dass sie das Einzelbett beziehen würde.

Unten verabschiedeten sich derweil der Vogel und seine Frau. Gleich darauf kamen auch Herr und Frau Wagner nach oben und entschieden, dass sie den abgetrennten Schlafbereich für sich beanspruchen würden.

„Und was machen wir jetzt?“

Michael hatte seine Tasche aus dem Auto geholt und sie auf das Bett gewuchtet.

„Jetzt sehen wir uns draußen um. Los, wer Erster ist!“

Sophie nutzte den Vorteil, dass sie direkt an der Treppe stand, und sauste hinunter. Kai und Michael folgten ihr ins Freie. Eine riesig anmutende Rasenfläche erwartete sie dort. Der Vogel und seine Frau saßen an einem Tisch und tranken Bier. Als sie die Kinder sahen, winkten sie ihnen freundlich zu.

„Schaut’s euch nur um!“

Die Kinder rannten über den Rasen, schauten sich Blumen- und Gemüsebeete an, und versuchten, eine Katze zu fangen, die sie in einem Gebüsch aufgestöbert hatten. Als sie zurückkamen, hatten sich die Eltern zu den Gastgebern gesellt.

„Jetzt zeig ich euch das Prunkstück von der ganzen Anlage.“

Der Vogel erhob sich und schritt über den Rasen auf einen seitlichen Anbau des Haupthauses zu. Die anderen folgten ihm. Sie umrundeten einen Schuppen und kamen so an ein tief eingeschnittenes Bachbett.

„Da seht’s jetzt das Mühlrad!“

„Wow!“

„Klasse!“

Michael und Kai drängten sich an den Erwachsenen vorbei, um besser sehen zu können. Ganz entgegen ihren Erwartungen erblickten sie ein Stück weiter vorne nicht ein altersschwaches, von Moos überzogenes hölzernes Mühlrad, sondern stattdessen eine moderne Konstruktion aus Metall.

„Gell, da schaut’s! Mit dem Radl produzierma an Strom. Da drüben auf der andern Seitn, wo die Achs nei geht, da steht der Generator. Wenn’ds woit’s, kennt’sn eich anschaun.“

Die Kinder schritten über ein Wehr und schlüpften durch einen niedrigen Durchgang. Der Vogel eilte hinter ihnen her. Die Eltern genossen indes den Anblick des sich harmonisch drehenden Mühlrades und des Wassers, das von den großen Schaufelrädern aufgenommen und am höchsten Punkt wieder in die Tiefe abgegeben wurde.

Im Generatorhäuschen scharten sich Michael, Kai und Sophie um den Vogel.

„Wisst’s eigentlich, wozu ma früher a Mühlrad braucht hat? Ich mein, bevor’s an Strom gem hat.“

Er sah die drei fragend an. Diese überlegten fieberhaft.

„Um das Korn zu mahlen!“

Sophie wusste die Antwort als Erste.

„Gut. Des is richtig. Und jetzt kimmt’s mit! Dann zeig ma euch noch unser Haus. Da seht’s dann auch noch die Mühlsteine.“

Der Vogel kehrte mit den Kindern aus dem Generatorraum zurück und überquerte das Wehr. Sie umrundeten den Anbau und folgten Hans die Treppe zum Haupthaus hinauf. Hinter der Tür befand sich eine langgestreckte Küche. Gleich links ging es in einen gemütlich eingerichteten Wohnraum.

„Da vorn am Boden, da seht’s die Radln.“

Der ganze Raum war mit hellem Parkett ausgelegt. Doch an der Schmalseite ragten zwei große flache Steinscheiben ein wenig aus dem Holzboden.

„Mit dene hat ma früher as Korn gmahln.“

Zusammen mit seiner Frau führte Hans die Gäste durch das ganze Haus. Den Eltern gefiel der Wintergarten, der sich auf der Längsseite des Hauses anschloss, am besten. Hier gab es viele Pflanzen und einen langen Holztisch mit zwei Bänken.

„Hier könnt ihr jederzeit rein“, sagte Louise. „Wir sitzen abends oft bei einem Glas Wein zusammen und freuen uns dann über Gesellschaft.“

Durch eine Tür in der Glaswand verließen sie den Wintergarten und gingen am Haus entlang zum Eingang des Häusl’s.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Kai, nachdem sie den Wohnraum betreten hatten.

„Also wir müssen jetzt zum Einkaufen nach Mullingar fahren.“ Frau Wagner wandte sich an die Kinder. „Da müsst ihr natürlich nicht mitkommen. Schaut euch doch einfach ein wenig um.“

Sophie, Michael und Kai wechselten Blicke. Dann schlug Michael vor:

„Noch mal zum Mühlrad. Wer als Erster dort ist!“

Und schon sauste er los, dicht gefolgt von seinem besten Freund und seiner Schwester. Die schaffte es auf der Strecke über den Rasen die beiden Jungen zu überholen. Außer Atem erreichte sie den Generatorraum.

„He! Das gilt nicht! Du hast geschummelt!“

Michael hielt sich den Bauch. Er hatte Seitenstechen bekommen.

„Geschummelt? Ich?“

„Ja, natürlich. Da war überhaupt keine Katze...“

„Kann ich was dafür, wenn du dich ablenken lässt?“

Noch einmal bewunderten die Kinder den Generator, dann kehrten sie in den Garten zurück.

„Und jetzt?“ Michael machte es sich im Gras gemütlich. Kai ließ seinen Blick schweifen.

„Wie wäre es, wenn wir ein wenig die nähere Umgebung erkunden?“

„Au ja! Da vorne ist ein Tor!“

Sophie hatte als Erste das zweite Gartentor entdeckt. Es ging in Richtung Norden. Diesmal war Michael schneller. Er öffnete es und sie traten hinaus auf eine schmale Straße, die sich durch leicht welliges Land dahinzog. Seitlich war sie durch niedrige Steinmauern begrenzt.

„Na, schön. Dann mal los!“

Pfeifend und singend marschierten die Kinder durch die irische Landschaft. Auf den Weiden hinter den Steinmauern entdeckten sie Schafe und schließlich ein paar Pferde. Sie stellten sich an die Mauer und versuchten die Tiere anzulocken, doch das war vergeblich.

Als sie schon enttäuscht abziehen wollten, spürte Sophie auf einmal etwas an ihrer Wade. Erschrocken fuhr sie herum. Ein mittelgroßer Hund schnüffelte an ihrem Bein.

„Bist wohl neugierig, was?“

Sie beugte sich tiefer und kraulte das Tier hinter den Ohren, woraufhin dieses mit heftigem Schwanzwedeln antwortete und zusätzlich seine Zunge ausfuhr und Sophie stürmisch das Gesicht schleckte. Michael und Kai knieten sich auf den Boden und streichelten den Hund ebenfalls.

„Ja, ja, ist ja gut. Nicht so heftig, mein Guter. Wie heißt du denn?“

Sophie tastete den Hals des Hundes ab, entdeckte dort aber weder Halsband noch Hundemarke.

„Hast du etwa kein Herrchen? Oder braucht man in Irland keine Marke?“

In diesem Moment ertönte ein scharfer Pfiff. Der Hund löste sich und stellte die Ohren auf. Er blickte aufmerksam in die Richtung, aus der der Pfiff gekommen war.

„Mir scheint, du bist doch nicht herrenlos...“

Im nächsten Moment bog ein junger Mann um die Ecke. Er trug ausgewaschene Jeans, die teilweise zerrissen waren, und darüber ein ärmelloses T-Shirt. Er hatte kurze braune Haare, die wild in alle Richtungen von seinem Kopf abstanden. Und – was Sophie am meisten auffiel – er hatte einen sympathischen Gesichtsausdruck. Fast schelmisch grinste er die Kinder an, als er näher kam. Der Hund stürmte auf ihn zu und sprang mehrfach an seiner Seite hoch.

„He, ist ja gut“, sagte der junge Mann auf Englisch. Sophie reagierte sofort und fragte in derselben Sprache:

„Wie heißt er denn?“

„Hank! Wie Tom Hanks, nur ohne s. Hi, ich bin Ian!“

Er hob seine Hand zum Gruß und sah die drei der Reihe nach an.

„Und ihr verbringt hier wohl eure Ferien...“

„Stimmt. Sieht man uns das an?“

„Na ja, wie Iren seht ihr nicht gerade aus, vor allem du nicht.“

Er zeigte auf Sophie und Michael konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Wie eine Deutsche sehe ich aber auch nicht aus.“

„1:0 für dich. Du bist nicht auf den Mund gefallen. Und wie kommt’s, dass du Deutsche bist?“

„Eine deutsche Familie hat mich adoptiert. Das hier ist mein Bruder Michael. Und dies sein bester Freund Kai. Ich komme eigentlich aus dem Senegal...“

„Oh, nicht gerade der nächste Weg. Aber mir scheint, in Deutschland gefällt es dir ganz gut. Obwohl du dich manchmal fragst, wer deine richtigen Eltern sind...“

Der junge Mann lehnte sich an den Zaun und blickte Sophie mit schiefgelegtem Kopf an. Sie spürte, dass sie errötete.

„Woher weißt du das?“

„Ist keine Kunst. Geht doch allen adoptierten Kindern so, wenn sie mal erfahren haben, dass ihre Eltern gar nicht ihre richtigen Eltern sind.“

Das klang plausibel.

„Und wie ist dein Name, dunkelhäutiges Mädchen aus dem Senegal?“

„Sophie...“

„Sophie. Klingt schön. Ich muss jetzt weiter, Sophie. Ich wünsch euch noch eine schöne Zeit.“

Mit diesen Worten wandte sich Ian dem Weg zu und verschwand. Sophie blickte ihm und Hank gedankenverloren hinterher. Nach einer Weile stupste Michael sie an.

„He! Sophie! Träumst du am helllichten Tag?“

Da riss sich Sophie aus ihrer Starre und wandte sich den anderen zu.

„Quatsch! Und jetzt? Machen wir ein Wettrennen?“

***

2 Auf zu Gunnings

Als Sophie, Michael und Kai von ihrer Wanderung zurückkamen, waren die Eltern schon damit beschäftigt, den Gartentisch zu decken. Herr Wagner stand am Grill und versuchte, die Kohle zum Glühen zu bringen.

„Hallo, ihr drei! Geht gleich rein und helft eurer Mutter!“

Im Häusl trafen sie Frau Wagner, die jedem von ihnen etwas in die Hand drückte. Eine Weile später war die Familie um den Tisch versammelt. Der Vater wendete die Fleischstücke auf dem Grillrost und die Mutter verteilte den Salat. Sophie genoss den Duft der Natur, in den sich ein Hauch gegrillten Fleisches mischte. Während sie noch beim Essen saßen, kam der Vogel die Küchentreppe herunter und gesellte sich zu ihnen.

„Schmeckt’s? Na, des is recht!“

Er zog sich einen Stuhl heran und nahm darauf Platz.

„Sagt’s amal, was habts’n heit auf’d Nacht vor?“

Es war noch früh am Abend.

„Wenn’ds woit’s, na kennt ma no zum Gunnings fahr’n.“

„Gunnings?“

Frau Wagner runzelte die Stirn.

„Des is unser Pub. Da kriagt’s as beste Guinness von ganz Irland!“

Herr Wagner nickte freudig.

„Warum nicht?“

„Aber die Kinder lassen wir hier. Ein Pub ist doch kein Ort...“

Frau Wagner konnte den Satz nicht beenden, da flogen ihr schon von allen Seiten Vorwürfe an den Kopf. Der Vogel musste daraufhin lauthals lachen.

„Also, weng dem braucht’s eich keine Sorgen macha. Beim Gunnings geht jeda nei, a die Kloana. Hinten steht a so a Billardtisch...“

„Wir müssen ja nicht ewig bleiben“, schlug sich der Vater auf die Seite der Kinder. Nach kurzer Diskussion gab die Mutter nach und so beschloss man, am späteren Abend gemeinsam zu der Kneipe zu fahren.

Die Kinder konnten es gar nicht abwarten, bis es endlich losging. Sie halfen widerwillig beim Abwaschen, dann vertrieben sie sich die Zeit mit Ballspielen. Als es auf 21 Uhr zuging, wurde endlich das Signal zum Aufbruch gegeben. Hans und Louise fuhren in ihrem VW-Bus voran, und zwar in die Richtung, aus der sie am Nachmittag gekommen waren.

„Der fährt ja einen scharfen Reifen!“

Herrn Wagner gelang es kaum, dem VW-Bus auf den Fersen zu bleiben. Aber wenigstens schaffte er es, den Abstand so klein zu halten, dass er die Rücklichter des voranfahrenden Autos nicht aus den Augen verlor.

Nach kurzer Fahrt erreichten die beiden Autos ein niedriges Haus, vor dem einsam eine alte Zapfsäule vor sich hin rostete. Als Sophie ausstieg, fielen ihr ein paar altersschwache Campingbusse auf, die auf der anderen Straßenseite geparkt waren. Auf Klappstühlen saßen Männer und unterhielten sich. Sie rauchten und tranken Bier aus Dosen. Schon wollte Sophie den anderen zum Eingang des Pubs folgen, da sah sie den Hund und gleich darauf sein Herrchen hinter einem der Autos hervorkommen.

„Hi Sophie! Hallo Michael und Kai!“

Ian winkte von der anderen Straßenseite, während Hank gleich angestürmt kam.

„Wer ist denn das?“

Sophies Mutter setzte eine besorgte Miene auf.

„Niemand!“

Sophie kraulte Hank hinter den Ohren und blickte dabei immer wieder verstohlen auf die andere Straßenseite. Auch Michael und Kai scharten sich um den Hund, während Frau Wagner ihren Mann auf die Männer vor den Campingbussen aufmerksam machte.

„So, kummt’s mit. Na segt’s, wia des beim Gunnings ausschaut!“

Der Vogel gab das Signal. Die Kinder lösten sich von Hank und folgten den Erwachsenen. Über dem Eingang des Pubs stand in verblichenen Buchstaben das Wort „Gunnings“. Durch die Tür kamen sie zunächst einmal in einen Kramladen. In überfüllten Regalen stapelten sich Lebensmittel, Haushaltswaren, Zigaretten und anderes. Ein Mann hinter einer Theke begrüßte die Ankommenden.

„Und das soll ein Pub sein?“

Michael konnte seine Enttäuschung nicht verbergen.

„Des Pub kimmt erst hinta dera Tür“, bemerkte der Vogel, der es gehört hatte.

Michael blieb dennoch skeptisch. Doch als sie durch die zweite Tür schritten, musste er zugeben, dass sie tatsächlich in so etwas wie einer Kneipe gelandet waren. Hinter der Verlängerung der Theke des Kramladens befanden sich nun unzählige Flaschen, die sicherlich alkoholische Getränke enthielten. Auf dem Tresen waren mehrere Zapfanlagen für Bier montiert. Auf hohen Barhockern saßen zwei ältere Männer und eine Frau. Die Männer trugen einfache Kleidung und flache Kappen mit kariertem Muster auf dem Kopf.

Der Vogel begrüßte alle Anwesenden persönlich. Dann steuerte er auf einen niedrigen Tisch zu. Dort setzten er und Louise sich auf eine Bank, während sich die Eltern und die Kinder auf Stühle rings um den Tisch verteilten.

„So, was mögt’s jetzt trinken? Guinness für die Erwachsenen und a Cola für eich Kinder, is des recht?“

Alle nickten, woraufhin sich Hans noch einmal erhob und in Richtung Bar auf Englisch rief:

„Zwoa Pinten und zwoa Glas und dann no drei Cola!“

Michael und Kai mussten schmunzeln, als sie hörten, dass der Vogel seinen bayerischen Dialekt nicht einmal in der fremden Sprache ablegen konnte. Allerdings war ihnen nicht ganz klar, was er mit Pinten und Glas gemeint hatte. Die Erwachsenen begannen eine Unterhaltung und die Kinder sahen sich in der Bar um. Sophie entdeckte eine Tür, die zu einem Nebenraum führen mochte, und fragte sich, ob dort der erwähnte Billardtisch aufgestellt sei.

Nach einer Weile meldete der Barkeeper, dass die Getränke fertig seien. Hans zückte seinen Geldbeutel und drückte ihn Michael in die Hand, nachdem dieser der Bar am nächsten saß.

„Hol uns amal bittschön die Getränke.“

Unsicher nahm Michael den Geldbeutel entgegen und ging hinüber zur Bar. Er reichte dem Mann hinter dem Tresen einen Zwanziger, dann wartete er ab, bis er das Wechselgeld erhalten hatte. Er steckte die Börse in seine Hosentasche und griff nach den beiden größeren Biergläsern. Als er sich umdrehte und gerade auf den Tisch zugehen wollte, rief ihn der Barkeeper zurück. Gleichzeitig erhob sich der Vogel.

„Na, de darfst net hoin, de san ja no gar net fertig!“

Michael lief rot an. Er verstand nicht, brachte die beiden Gläser aber dennoch artig zur Theke zurück.

„Bring erst amal die Cola.“

So schnappte sich Michael zwei Cola-Gläser, brachte sie Sophie und Kai und holte sich dann sein eigenes Glas. Zurück am Tisch reichte er Hans den Geldbeutel.

„Des kannst natürlich net wissen. A Guinness braucht a Zeit. Da wird erst a Teil eingschenkt, na muaßt as steh lassen. Und nacha Zeit, wenn’s reif is, kommt da Schaum om drauf. So, jetzt setz di hie, des Bier hoi ma späta!“

Nachdem ihm der Vogel spitzbübisch zulächelte, fühlte sich Michael wieder etwas besser. Sophie grinste, dann nahm sie einen Schluck von ihrer Cola.

„Was waren das eigentlich für seltsame Menschen da draußen...?“, wandte sich Frau Wagner fragend an ihre Gastgeber.

„Des san Tinker!“

Der Vogel machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Tinker?“

„Jo mei, Zigeina hoit!“

„Die Tinker sind ein fahrendes Volk“, ergänzte Louise. „So ähnlich wie die Zigeuner auf dem Kontinent. Allerdings mit einem großen Unterschied: Es sind Iren!“

„Und das heißt?“

„Mit Zigeunern bezeichnet man üblicherweise Angehörige der Roma und Sinti. Das sind eigene Völker, dunkelhäutigen Typs. Mit denen haben unsere Tinker nichts gemein. Das sind eigentlich Iren wie alle anderen auch. Nur dass sie eine ganz eigene Lebensweise haben. Sie haben meist keinen festen Wohnsitz. Deshalb auch diese Campingbusse.“

„Und arbeitsschei san’s a!“

„Na, na, Hans! Das kannst du so wirklich nicht verallgemeinern.”

„Klar kann i! Logisch! Oder hast du je ein von dene Tinker bei a ehrlichn Arbeit dawischt?“

Louise seufzte hörbar auf. Ihr wurde es anscheinend zu mühselig, ihrem Mann ständig zu widersprechen. Herr Wagner, der es bemerkte, lenkte daher ab und brachte ein anderes Thema zur Sprache. Wenig später wurden sie von einem Ruf des Barkeepers unterbrochen.

„Jetz kemm mas Bier hoin!“

„Das macht jetzt aber der Kai“, brauste Michael auf, der sich kein zweites Mal blamieren wollte. Kai hingegen machte es nichts aus. Er sah ja, dass die Biergläser randvoll gefüllt waren. Die beiden größeren Gläser stellte er Michaels Vater und Hans hin, dann holte er die Kleineren.

„So, des san jetz die Pinten. Des is mehr wia a hoiba Lita. Des is für die Mannsbilda!”

Als Kai die anderen Gläser der Mutter und Louise servierte, ergänzte Hans noch:

„Und des nennt ma Gläser, für die Weiberleit! Also, Slontscha!“

Mit diesem Wort erhob der Vogel sein Glas. Die anderen taten es ihm nach, sahen ihn aber gleichzeitig fragend an.

„Slontscha is gälisch, des heißt Prost! Kannst dir übrigens leicht merka. Des klingt wie s’langt scho auf bayerisch!“

Er lachte herzhaft auf, dann setzte er das Glas an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck. Die anderen taten es ihm nach und die Kinder tranken von ihrer Cola.

„Und? Schmeckt’s eich?“

Der Vater nickte wohlwollend, während seine Frau ein wenig das Gesicht verzog. Hans lachte noch einmal.

„Jo, des is hoit a ganz anders Bier als mia in Bayern hom!“

Damit setzte er gleich zu einem weiteren tiefen Zug an. Als er das Glas abgestellt hatte, meinte Kai, es sei der richtige Augenblick, nach dem Billardtisch zu fragen. Hans deutete auf die zweite Tür des Raumes:

„Glei dahinta find’st den Billardtisch. Vui Spaß!“

„Ist das okay, Mama?“

Michael hatte sich schon erhoben.

„Ist schon in Ordnung. Geht nur.“

Sophie trank nur rasch ihre Cola aus, dann folgte sie den beiden Jungen.

„Wartet auf mich!“

Die Kinder traten in einen großen, karg eingerichteten Raum, der von Neonröhren unangenehm grell beleuchtet wurde. Abgesehen von einer alten, mit Leder bezogenen Bank stand in dem Raum einzig ein großer Billardtisch. Michael und Kai, die in München schon einige Male Billard gespielt hatten, griffen gleich nach den Kugeln, um die Startstellung aufzubauen. Sophie hingegen ließ ihren Blick schweifen und entdeckte dabei eine weitere Tür.

„Ich muss mal...“, raunte sie ihrem Bruder zu, der sich herzlich wenig für seine Schwester interessierte. Dann verschwand sie.

Sophie fand sich in einem engen Gang wieder. Zwei Türen führten eindeutig zu den Toiletten, während eine dritte Tür – so vermutete Sophie – ins Freie führen müsste. Aufgeregt legte sie ihre Hand auf die Klinke.

Hoffentlich ist nicht abgesperrt!

Sie hatte Glück. Die Tür ließ sich ohne Probleme öffnen. Tatsächlich führte sie ins Freie. Wie Sophie sogleich erkannte, befand sie sich nun auf der Rückseite des Gebäudes. Vor ihr versperrten Bäume und Büsche den Weg zum Nachbargrundstück. Doch man konnte entlang des Hauses bis zur Schmalseite gehen. So kam Sophie schließlich zur Vorderseite.

Ihr Herz raste, während sie langsam an der Wand entlang ging. Kaum hatte sie den Vorplatz erreicht, da stürmte ihr auch schon Hank entgegen. Sophie blieb stehen und begrüßte den freudig erregten Hund.

„Ist das deine Familie?“

Sophie zuckte zusammen. Ian stand direkt neben ihr. Sie nickte.

„Nicht viel los bei Gunnings. Du langweilst dich wohl?“

Sophie nickte wieder, brachte aber kein Wort heraus.

„Willst du ein bisschen Spazieren gehen?“

Ihr Herzschlag verdoppelte sich. Sie wagte nicht aufzusehen, sondern kümmerte sich noch intensiver um Hank.

„Nicht weit, keine Angst. Ich kann dir von Irland erzählen, wenn du möchtest...“

Sophie nahm ihren ganzen Mut zusammen, erhob sich und sagte:

„Okay, gehen wir.“

Sie schlenderten die Landstraße entlang. Hank rannte voraus und schnüffelte mal diesseits, mal jenseits der Straße in den Gebüschen. Dann kehrte er wieder zurück, umrundete sein Herrchen, ließ sich von Sophie kraulen und spurtete wieder davon.

Ian begann derweil von seinem Leben zu erzählen. Er erwähnte zwar nicht den Begriff Tinker. Aber Sophie hörte aus seinen Worten heraus, dass er wohl zu diesen Leuten gehörte. Er berichtete von vielen schönen Orten, von den steil zum Meer abfallenden Felsen im Westen, den wilden unzugänglichen Gebieten im Norden, der großen und pulsierenden Hauptstadt im Osten, sowie den Burgen und Ruinen im Süden. Dabei berichtete Ian nicht nur von seinen eigenen Erlebnissen. Er verstand es gleichzeitig, diese in einen mythischen Zusammenhang zu weben. So erzählte er von den Königen, die in alter Zeit über Irland geherrscht hatten, über ihre Kriege und ihren Glauben.

„Und die Druiden konnten wirklich zaubern?“, fragte Sophie ungläubig, nachdem Ian von dem mächtigen Einfluss der Druiden gesprochen hatte.

„Die Druiden verstanden sich als die Mittler zwischen den Göttern und den Menschen. Sie hatten Zugang sowohl zu der einen wie zu der anderen Welt. Wir sprechen heute sehr abfällig von Zauberkunst. Doch was die Druiden konnten, war mehr als das. Ein über Jahrhunderte angesammeltes und entwickeltes Wissen, weitergegeben von einer Generation zur nächsten. Und dabei stets gemehrt und verfeinert. Bis dieses Wissen schließlich in Vergessenheit geriet.“

„Wie kam es dazu?“

„Als der christliche Glaube nach Irland kam, duldete er das Wissen der Druiden nicht. Es widersprach seinem Absolutheitsanspruch. Es begannen die Jahrhunderte, aus denen unsere bekanntesten Sagen und Überlieferungen stammen. Am Ende siegte das Christentum und das alte Wissen verschwand...“

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Sophie sah im Himmel über sich den hell scheinenden Mond.

Der Mond über dem Steinkreis! Alte Sagen... Burgen, Ritter, Magier...

Sie befanden sich bereits wieder auf dem Rückweg. Sophie merkte es erst daran, dass ihr eine schneidende Stimme entgegen schlug:

„Sophia Maria!“

So nannte ihre Mutter sie nur, wenn sie ernsthaft böse war.

„Tut mir leid“, sagte Sophie noch schnell zu Ian, dann rannte sie auf ihre Eltern zu, die auf der Freifläche vor Gunnings auf sie warteten.

„Ich habe dir doch gesagt, dass du dich nicht mit diesen Leuten abgeben sollst! Und dann noch mitten in der Nacht. Was da alles hätte passieren können? Er ist dir doch nicht zu nahe gekommen?“

Sophie zog den Kopf ein und ließ es über sich ergehen. Als sie endlich ins Auto einstiegen und die Mutter ihren endlosen Redeschwall einstellte, war Sophie heilfroh.

***

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