So, nach einem wohlerwogenen Plan vorgehend, wie Menschen etwa ein Wespennest ausräuchern, versendeten die Marsleute diesen seltsamen erstickenden Qualm über das Land in der Richtung nach London zu. Die Enden der halbmondartigen Linie erweiterten sich langsam, bis sie endlich das Land von Hanwell bis Coombe und Malden umklammerten. Die ganze Nacht hindurch rückten die Marsleute mit ihren vernichtenden Rohren vor. Nicht ein einziges Mal, nachdem der Marsmann am St.-Georg’s-Hügel zu Fall gebracht worden war, gaben sie der Artillerie auch nur den Schatten einer Gelegenheit zu wirksamem Angriff. Wo immer eine Möglichkeit vorhanden war, dass, ihnen unsichtbar, Geschütze aufgestellt sein konnten, wurde eine frische Büchse jenes schwarzen Qualmes abgefeuert; und wo die Geschütze ungedeckt dastanden, wurde der Hitzestrahl in Anwendung gebracht.
Um Mitternacht warfen die glühenden Bäume an den Abhängen des Richmonder Parkes und der Feuerschein auf dem Hügel von Kingston ihr Licht auf ein Netzwerk schwarzen Rauches, der das ganze Themsetal einhüllte und verschwinden ließ, und sich, soweit das Auge reichte, erstreckte. Und durch alles dies hindurch wateten langsam zwei Marsleute, die ihre zischenden Dampfstrahlen hierhin und dorthin versendeten.
Die Marsleute wendeten in dieser Nacht den Hitzestrahl nur sehr selten an, sei es, dass sie nur einen beschränkten Vorrat an den Stoffen besaßen, mit denen sie ihn herstellten, sei es, dass es nicht in ihrer Absicht lag, das Land zu verwüsten, sondern nur den Widerstand, den sie gefunden hatten, zu brechen oder einzuschüchtern. Darin erreichten sie ohne Zweifel ihr Ziel. Sonntag nachts fand der organisierte Widerstand gegen ihre Bewegung sein Ende. Von da an konnte keine wie immer geartete Vereinigung von Menschen ihnen standhalten, so hoffnungslos war das Unternehmen gescheitert. Selbst die Mannschaft der Torpedoboote und der Torpedozerstörer, die ihre Schnellfeuergeschütze die Themse heraufgebracht hatte, weigerte sich, zu bleiben, meuterte und kehrte wieder um. Das einzige Angriffsunternehmen, an das sich die Leute nach jener Nacht noch heranwagten, war die Anlage von Minen und Fallgruben; aber selbst diese Arbeiten erfolgten unter einem teils unsinnigen, teils krampfhaft überhasteten Aufwand von Kräften.
Man muss sich nur das Schicksal jener Batterien gegen Esher zu vorstellen, die in fast übermenschlicher, gespannter Erwartung im Zwielicht der Ereignisse harrten. Überlebende gab es nicht. Man kann sich von allem nur ein Bild machen: alles in bester Ordnung und voller Erwartung, die Offiziere eifrig und wachsam, die Mannschaft bereit, der Schießvorrat aufgehäuft zur Hand, die Kanonen bei ihren Pferden und Wagen, die Menge bürgerlicher Zuschauer so nahe, wie es ihnen gestattet wurde, die milde Ruhe des Abends; die Ambulanzen und die Feldzelte mit den Verbrannten und Verwundeten von Weybridge; dann plötzlich der dumpfe Widerhall der Schüsse, welche die Marsleute abfeuerten, und die unförmigen Geschosse, die über Bäume und Häuser sausten und auf den benachbarten Feldern zerschellten.
Man mag sich ferner ausmalen, wie die allgemeine Aufmerksamkeit plötzlich erregt wurde, als diese schwarze Masse in blitzschnellen Windungen und Aufblähungen nach vorwärts schoss, sich himmelwärts türmte und das Zwielicht in völlige Finsternis verwandelte; wie ein seltsamer und schrecklicher Gegner in der Gestalt eines Dampfes sich auf seine Opfer stürzte, wie Menschen und Pferde immer mehr in der Dunkelheit verschwanden, wie alles durcheinander flüchtete, wilde Rufe ausstieß und kopfüber niederstürzte; man mag sich die Schreie des Entsetzens ausmalen, vorstellen, wie die Geschütze im Stich gelassen wurden, wie die Menschen sich röchelnd am Boden wanden, wie der dichte Rauchkegel sich nach allen Seiten hin ausbreitete. Und dann Nacht und Vernichtung — nichts als die schweigende Masse undurchdringlichen Qualmes, der seine Toten umhüllte.
Vor dem Morgengrauen ergoss sich der schwarze Rauch durch die Straßen Richmonds, und der in Auflösung begriffene Organismus der Regierung raffte sich vor seinem Ende noch zu einer letzten Pflicht auf: die Bevölkerung Londons zur Notwendigkeit augenblicklicher Flucht zu erwecken.
1 immer das hellste Gestirn außer dem Mond <<<
So begreift man wohl die brüllende Woge der Angst, die durch die größte Stadt der Welt jagte, gerade, als der Montag dämmerte — der Strom der Flucht, der mit reißender Schnelligkeit zu einem wilden Gewässer anschwoll, in schäumender Wut um die Bahnhöfe brandete, sich bei den Schiffswerften der Themse zu einem entsetzlichen Kampf aufbäumte und auf jedem möglichen Strombett, das nach Norden oder Osten führte, durchzubrechen suchte. Gegen zehn Uhr verlor die Organisation der Polizei, gegen Mittag selbst die Organisation der Eisenbahnbeamten jeden Zusammenhang, beide gaben ihre unterscheidenden und achtunggebietenden Formen auf, und verschmolzen erst zögernd, dann umso rascher mit der großen gleichartigen Masse des sozialen Körpers.
Alle Eisenbahnlinien nördlich der Themse und die südöstliche Bahngesellschaft in der Cannon Street waren schon Sonntag Mitternacht von der drohenden Gefahr verständigt worden; und schon um zwei Uhr waren die Züge überfüllt; die Leute kämpften wie Wilde um Stehplätze in den Wagen. Gegen drei Uhr wurden selbst in der Bishopsgatestreet Leute niedergetreten und erdrückt; etwa zweihundert oder noch mehr Yard vom Liverpoolstreet-Bahnhof entfernt wurden schon Revolverschüsse abgegeben und Leute erstochen; und die Schutzleute, die hingeschickt wurden, um die Ordnung aufrecht zu erhalten, zerschlugen, erschöpft und in Wut versetzt, den Leuten, die zu beschützen sie beauftragt waren, die Köpfe.
Als der Tag vorschritt und die Zugführer und die Heizer sich weigerten nach London zurückzukehren, da trieb der drückende Zwang der Flucht die Leute in immer mehr sich verdichtenden Massen von den Bahnhöfen weg auf die Straßen, die nach Norden führten. Um die Mittagsstunde war ein Marsmann in Barnes gesehen worden, und eine Wolke mächtig sinkenden schwarzen Qualmes trieb die Themse entlang über die Ebene von Lambeth und schnitt in ihrem trägen Herannahen jede Möglichkeit eines Entkommens über die Brücken ab. Eine zweite Wolkenschicht trieb über Ealing hinweg und umzingelte eine kleine Insel von Überlebenden auf Castle Hill, die wohl ihr Leben fristen, aber auf keinen Ausweg der Flucht hoffen konnten.
Nach fruchtlosem Kampf, bei Chalk Farm in einen nordwestlichen Zug zu gelangen — die Maschinen der Züge, welche am Güterbahnhof Reisende aufgenommen hatten, pflügten geradezu durch einen schreienden Menschenhaufen hindurch, und ein Dutzend handfester Männer kämpfte förmlich, um die Menge zu verhindern, den Zugführer gegen seinen Heizapparat zu schleudern — schlug sich mein Bruder auf die Chalk Farm Road durch, wand sich durch einen Schwarm dahineilender Fahrzeuge vorwärts und hatte das Glück, bei der Erstürmung eines Fahrräderladens als erster anzukommen.
Der vordere Radreif der Maschine, die er an sich riss, wurde durchschnitten, als er sie durch das Fenster zerrte; gleichwohl saß er auf und fuhr mit keiner ernsteren Verletzung als einen Schnitt im Handgelenk ab. Der steile Anstieg des Haverstock Hills war einiger gestürzter Pferde wegen nicht passierbar, und mein Bruder lenkte in die Belsize Road ein.
So entkam mein Bruder dem Wüten der Panik; dem Saum der Edgware Road folgend, erreichte er, hungrig und erschöpft, doch der Menge weit voran, um sieben Uhr Edgware. Die ganze Straße entlang standen die Leute neugierig und staunend. Mein Bruder wurde von einer Anzahl Radfahrern, einigen Reitern und zwei Automobilen überholt. Eine Meile vor Edgware brachen die Radreifen, und die Maschine wurde unbrauchbar. Er ließ sie auf der Straße liegen und schleppte sich ins Dorf. In der Hauptstraße des Ortes waren die Laden halb geöffnet und auf den Bürgersteigen, in den Hausfluren, an den Fenster sammelten sich Leute an, die verwundert auf jenen außergewöhnlichen Zug von Flüchtlingen starrten, der jetzt heranzunahen begann. Meinem Bruder gelang es, in einem Wirtshaus etwas zu essen zu bekommen.
Er blieb einige Zeit in Edgware, ratlos, was er beginnen solle. Die Flüchtlinge nahmen an Zahl immer mehr zu. Viele von ihnen schienen wie mein Bruder geneigt zu sein, im Orte zu bleiben. Von den Eindringlingen vom Mars wusste niemand Neues zu berichten.
Die Straße war jetzt schon voll von Leuten, aber noch lange nicht überfüllt. Die meisten Flüchtlinge waren schon mit Fahrrädern ausgerüstet, bald aber tauchten auch Automobile, Hansoms1 und Kutschen auf, die rasch vorübereilten und in den dichten Staubwolken verschwanden, die auf der Straße nach St. Albans aufwirbelten.
Es war vielleicht nur ein ganz unklares Vorhaben, den Weg nach Chelmsford zu wählen, wo einige seiner Freunde wohnten, was meinen Bruder schließlich bewog, einen stillen Feldweg, der ostwärts führte, einzuschlagen. Nach kurzer Zeit gelangte er zu einer Zaunsteige, kletterte hinüber und folgte einem Fußweg in nordöstlicher Richtung. Er kam an einigen Bauernhäusern und mehreren kleinen Ortschaften vorbei, deren Namen er nicht kannte. Er sah nur wenige Flüchtlinge; erst auf einem Grasweg in der Nähe von High Barnet stieß er auf die zwei Frauen, die seine Reisegefährtinnen werden sollten. Er kam gerade zur rechten Zeit, um sie zu retten.
Er hörte ihre Schreie und um die Ecke eilend, sah er zwei Männer, die sie aus dem kleinen Ponywagen, den sie lenkten, mit Gewalt herauszuzerren suchten, während ein dritter sich damit abmühte, den Kopf des erschreckten Ponys zu halten. Die eine der Damen, eine kleine in Weiß gekleidete Frau, kreischte nur immerzu; die andere, eine dunkle schlanke Erscheinung, schlug nach dem Manne, der ihren Arm gepackt hatte, mit der Peitsche, die sie in ihrer freien Hand hielt.
Mein Bruder erfasste die Sachlage auf der Stelle, er rief laut und eilte auf den Kampfplatz. Einer der Männer ließ sofort von den Damen ab und wandte sich ihm zu. Mein Bruder, der aus dem Gesicht seines Gegners sofort erkannte, dass ein Kampf unvermeidlich sei, stürzte sich als der erfahrene Boxer, der er war, sofort auf ihn und schlug ihn, gegen das Wagenrad zu, nieder.
Es war nicht die Zeit, um die Ritterlichkeit von Boxern zu üben, und mein Bruder machte ihn durch einen Fußtritt kampfunfähig. Dann packte er den Mann, der die schlanke Dame am Arm gefasst hatte, beim Rockkragen. Er hörte das Klappern von Hufen, die Peitsche schlug ihm ins Gesicht, ein dritter Gegner versetzte ihm einen wuchtigen Schlag zwischen die Augen, und der Mann, den er festhielt, riss sich los und rannte den Feldweg hinab in der Richtung, aus der er gekommen war.
Halb betäubt sah mein Bruder sich jetzt dem Manne gegenüber, der den Kopf des Pferdes gehalten hatte. Er bemerkte dann, wie der Wagen mit den stets zurückblickenden Frauen, heftig nach beiden Seiten schwankend, den Feldweg entlang davonfuhr. Der Mann vor ihm, ein plumper Lümmel, machte Miene, sich auf ihn zu stürzen, aber mein Bruder schleuderte ihn mit einem Faustschlag ins Gesicht zurück. Als er sich so endlich frei sah, warf er sich herum und lief so schnell er konnte den Feldweg entlang dem Wagen nach; der Plumpe war dicht an seinen Fersen und der Flüchtige, der sich jetzt umgewandt hatte, folgte in einiger Entfernung.
Plötzlich taumelte mein Bruder und fiel zu Boden; sein nächster Verfolger stürzte auf ihn los, und als er sich wieder aufgerichtet hatte, sah er sich neuerdings zwei Angreifern gegenüber. Wenig fehlte und es wäre um ihn geschehen gewesen, hätte nicht die schlanke Dame mutig den Wagen angehalten. Sie stieg aus und kam ihm zu Hilfe. Sie hatte von Anfang an einen Revolver mit sich geführt, aber er war unter den Sitzen verborgen, als sie und ihre Gefährtin angegriffen wurden. Sie feuerte ihn nun auf eine Entfernung von sechs Yard ab und hätte um ein Haar meinen Bruder getroffen. Der weniger mutige Räuber machte sich davon und sein Spießgeselle folgte ihm, seine Feigheit verwünschend. Sie machten beide noch in Sicht Halt und blieben auf dem Feldweg, dort, wo der dritte Mann besinnungslos lag, stehen.
»Nehmen Sie ihn!«, rief die schlanke Dame und reichte meinem Bruder den Revolver.
»Gehen Sie zum Wagen zurück«, bat mein Bruder, indem er sich das Blut aus seiner gespaltenen Lippe mischte.
Sie wandte sich wortlos ab — beide keuchten heftig — und dann gingen sie beide zum Wagen, in dem die Dame in Weiß mit krampfhafter Anstrengung das erschreckte Pony zu halten bemüht war.
Die Räuber halten offenbar genug. Als mein Bruder sich wieder nach ihnen umblickte, zogen sie sich zurück.
»Ich setze mich hierher«, sagte mein Bruder, »wenn ich darf;« und er stieg ein und ließ sich auf den leeren Vordersitz nieder. Die Dame blickte über ihre Schulter.
»Geben Sie mir die Zügel«, sagte sie und strich mit der Peitsche über die Flanke des Ponys. Im nächsten Augenblick verbarg eine Krümmung des Weges die drei Männer den Blicken meines Bruders.
So kam es, dass mein Bruder keuchend, mit zerschnittenem Mund, verletztem Kiefer und blutbefleckten Fingerknöcheln ganz unvermutet auf einer unbekannten Straße mit zwei unbekannten Frauen dahinfuhr.
Er erfuhr, dass sie die Gattin und die jüngere Schwester eines in Stanmore lebenden Chirurgen waren, der in den frühen Morgenstunden von einem gefährlichen Fall in Pinner zurückgekehrt war und auf einer Eisenbahnstation, an der ihn sein Weg vorübergeführt, von dem Heranrücken der Marsleute gehört hatte. Er war nach Hause geeilt, hatte die Frauen geweckt — das Dienstmädchen hatte sie schon vor zwei Tagen verlassen — hatte etwas Mundvorrat zusammengerafft, zum Glück für meinen Bruder einen Revolver unter die Sitze gelegt und ihnen aufgetragen, nach Edgware zu fahren, wo es ihnen gelingen würde, in einen Zug zu kommen. Er blieb zurück, um die Nachbarn zu verständigen. Er hatte ihnen versprochen, sie etwa um halb fünf Uhr morgens einzuholen, und jetzt war es beinahe neun Uhr und sie hatten seither nichts von ihm gesehen. Sie konnten wegen des fast beängstigend wachsenden Gedränges nicht in Edgware bleiben, und so waren sie auf diesen Seitenweg gekommen.
Das war die Geschichte, die sie in abgebrochenen Sätzen meinem Bruder erzählten. Dann machten sie in der Nähe von Neu-Barnet wieder Halt. Mein Bruder aber versprach, so lange wenigstens bei ihnen zu bleiben, bis sie einen endgültigen Beschluss über ihre nächsten Schritte gefasst hätten oder bis der vermisste Arzt sie getroffen hätte. Er versicherte ihnen, ein erfahrener Revolverschütze zu sein — er war alles eher, als vertraut mit dieser Waffe — um ihnen Vertrauen einzuflößen.
Neben der Straße schlugen sie eine Art Lager auf, und das Pony tat sich bei der Hecke gütlich. Mein Bruder erzählte ihnen die Einzelheiten seiner Flucht aus London und überdies alles, was er von den Marsleuten und ihrem Treiben wusste. Die Sonne stieg höher am Himmel, und nach einiger Zeit stockte das Gespräch und wich einem unbehaglichen Zustand banger Erwartung. Einige Fußgänger kamen des Weges entlang, und aus ihnen brachte mein Bruder heraus, soviel er konnte. Jede gebrochene Antwort, die er erhielt, vertiefte seinen Eindruck von der schweren Heimsuchung, die über die Menschheit gekommen war, vertiefte auch seine Überzeugung von der zwingenden Notwendigkeit, die Flucht fortzusetzen. In dringenden Worten machte er das den Damen begreiflich.
»Wir haben Geld bei uns«, sagte das Mädchen, und dann zögerte sie, fortzufahren.
Ihre Augen begegneten denen meines Bruders, und ihr Vertrauen kehrte wieder.
»Auch ich habe Geld mit«, sagte mein Bruder.
Sie erklärte nun, außer einer Fünf-Pfundnote ungefähr dreißig Pfund in Gold bei sich zu führen, und schlug vor, damit zu einem Zug bei St. Albans oder Neu-Barnet zu gehen. Mein Bruder, der die Wut der Londoner, als sie die Züge stürmten, mit angesehen hatte, hielt dieses Vorhaben für hoffnungslos und setzte nun seinen Plan auseineinander, Essex zu durchqueren und so nach Harwich zu gelangen, um von dort das Land überhaupt zu verlassen.
Frau Elphinstone — so hieß die Dame in Weiß — wollte auf keine Ratschläge hören und rief unaufhörlich nach ihrem »George«; ihre Schwägerin aber war erstaunlich ruhig und vernünftig und war schließlich bereit, dem Vorschlag meines Bruders zu folgen.
So schlugen sie also die Richtung nach Barnet ein, in der Absicht, die große, nach Norden führende Straße zu kreuzen; mein Bruder lenkte das Pony, um es so viel wie möglich zu schonen.
Als die Sonne höher stieg, wurde es unbeschreiblich heiß und unter den Füßen brannte ein dichter weißlicher Sand, sodass sie nur sehr langsam vorwärtskamen. Die Hecken waren grau vor Staub. Und als sie in die Nähe von Barnet kamen, vernahmen sie ein immer lauter anschwellendes Gemurmel.
Sie begegneten immer mehr Leuten. Die meisten starrten vor sich hin, murmelten unbestimmte Fragen und sahen erschöpft, abgemagert und schmutzig aus. Ein Mann im Frack ging zu Fuß an ihnen vorüber, seine Augen auf den Boden geheftet. Sie hörten seine Stimme und als sie nach ihm blickten, sahen sie, wie er mit der einen Hand sein Haar raufte und mit der anderen nach unsichtbaren Dingen schlug. Als sein Wutaufall vorüber war, ging er seine Straße weiter, ohne sich nur einmal umzublicken.
Als die Gesellschaft meines Bruders sich dem Kreuzweg im Süden von Barnet näherte, sahen sie eine Frau über ein Feld zur Linken gegen die Straße zu kommen. Ein Kind trug sie auf dem Arm und zwei andere führte sie; dann ging ein Mann in einem schmutzigen schwarzen Anzug vorbei, einen dicken Rock in der einen Hand, eine kleine Reisetasche in der anderen. Als sie um die Ecke des Feldweges fuhren, dort, wo bei der Einmündung in die Landstraße einige Landhäuser stehen, kam ein kleines Gefährt, von einem schweißbedeckten schwarzen Pony gezogen, angefahren; ein blasser Bursche mit einem Sporthut lenkte es. Drei Mädchen, die wie Fabrikmädchen des Londoner East Ends aussahen, und zwei kleine Kinder saßen zusammengekauert in dem kleinen Wagen.
»Hier kommen wir doch nach Edgware?«, fragte der mit wilden Augen dreinblickende, totenblasse Lenker des Gefährtes in unverkennbarer Londoner Mundart. Und als mein Bruder ihm bedeutete, die Richtung zu seiner Linken einzuschlagen, hieb er auf das Pony ein, ohne sich lange mit der Förmlichkeit des Dankens aufzuhalten.
Jetzt bemerkte mein Bruder, wie aus den Häusern vor ihnen ein dünner grauer Rauch oder Nebel ausstieg, der die weiße Vorderseite einer Terrasse jenseits der Straße, die zwischen den Landhäusern zum Vorschein kam, verschleierte. Frau Elphinstone schrie beim Anblick einiger züngelnder rauchiger Feuerflammen, die aus den Häusern vor ihnen gegen den blauen Himmel aufschossen, plötzlich auf. Der wilde Lärm löste sich jetzt in ein wirres Gemenge vieler Stimmen, das Knirschen vieler Räder, das Ächzen von Wagen und das Geklapper von Hufen auf. Keine fünfzig Yard vom Kreuzweg entfernt, machte der Feldweg eine scharfe Biegung.
»Gott im Himmel!«, rief Frau Elphinstone. »Wohin führen Sie uns denn?«
Mein Bruder hielt an.
Denn die Hauptstraße war ein kochender Strom von Leuten, ein reißender Wildbach menschlicher Wesen, die nach Norden eilten, einer hinter dem anderen drängend. Ein langer Wolkenzug von Staub, weiß und leuchtend im Sonnenglanz, ließ alles innerhalb von zwanzig Fuß über dem Boden grau und undeutlich erscheinen. Er bildete sich immer von Neuem durch die dahineilenden Füße einer dichten Menge von Pferden und Männern und Frauen zu Fuß, und durch die Räder von Gefährten aller erdenklichen Art.
»Platz da!«, hörte mein Bruder Stimmen schreien. »Macht Platz!«
Zum Kreuzungspunkt des Feldweges und der Straße zu gelangen, hieß so viel wie in den Rauch eines Feuers hineinfahren; die Menge brüllte wie ein Feuer, und der Staub war heiß und prickelnd. Und in der Tat stand etwas weiter oben an der Straße ein Landhaus in Flammen und wälzte dichte Mengen schwarzen Rauches über die Straße, um die Verwirrung zu erhöhen.
Zwei Männer kamen dem Wagen nach. Dann ein schmutziges Weib, das ein schweres Bündel trug und heftig schluchzte. Ein verlaufener Jagdhund, heruntergekommen und bedeckt mit Schrammen, lief schnüffelnd um sie herum und floh, als mein Bruder ihm drohte.
Soviel man von der Straße, die nach London führte, zwischen den Häusern zur Rechten sehen konnte, war sie ein wild einherfließender Strom schmutziger, fliehender Leute, die zwischen die Landhäuser zu beiden Seiten des Weges eingeklemmt waren; die schwarzen Köpfe, die dicht aneinandergedrängten Gestalten traten deutlicher hervor, als sie gegen die Straßenecke zustürzten und vorübereilten, dann tauchte ihre Eigenart wieder in der fliehenden Menge unter, die endlich von einer Staubwolke in der Feme verschlungen wurde.
»Vorwärts! Vorwärts!«, riefen die Stimmen, »Platz da, macht Platz!«
Die Hände jedes Einzelnen drängten den Rücken seines Vordermannes. Mein Bruder stand bei dem Kopf des Ponys. Unwiderstehlich angezogen ging er Schritt für Schritt vorwärts den Feldweg hinab.
Edgware war ein Schauplatz der Verwirrung, Chalk Farm ein aufrührerischer Tumult gewesen, hier aber war eine ganze Bevölkerung in Bewegung. Man kann sich diese Scharen schwer vorstellen. Sie hatten keine persönliche Eigenart mehr. Die Gestalten ergossen sich nur so aus der Straßenecke und schon waren nur ihre Rücken mehr in der Menge am Feldweg zu sehen. Zu beiden Seiten der Straße kamen die Flüchtlinge, die, von den Rädern bedroht, über die Erdlöcher stolpernd, einer über den anderen taumelnd, zu Fuß gehen mussten.
Die Karren und die Wagen drängten sich dicht einer hinter dem anderen und ließen nur wenig Platz für jene rascheren und ungeduldigeren Fahrzeuge, die jeden Augenblick vorwärts schossen, so oft sich eine Gelegenheit dazu bot, dabei schleuderten sie die Leute rücksichtslos gegen die Zäune und die Gitter der Landhäuser.
»Nur drauf los!«, war der allgemeine Schrei. »Nur drauf los! Sie kommen!«
Auf einem Karren stand ein blinder Mann in der Uniform der Heilsarmee. Er schlenkerte mit seinen gekrümmten Fingern herum und brüllte unaufhörlich: »O Ewigkeit! O Ewigkeit!« Seine Stimme war heiser und überaus laut, sodass mein Bruder ihn noch lange hören konnte, als er im südwestlichen Staub schon den Blicken entschwunden war. Einige Karren waren vollgestopft von Leuten, die blödsinnig auf ihre Pferde einhieben und mit anderen Kutschern zankten; einige Leute wieder saßen regungslos da, mit trostlosen Augen ins Leere starrend; andere nagten vor Durst an ihren Händen oder lagen auf dem Boden ihres Fuhrwerks lang ausgestreckt. Die Zäume der Pferde waren mit Schaum bedeckt, ihre Augen blutunterlaufen.
Mau sah Mietwagen, Kutschen, Geschäftswagen, Fuhrwerke ohne Zahl, eine Postkutsche, einen Straßensäuberungswagen mit der Aufschrift »Gemeindebezirk St. Pancras«, einen riesigen Bauholzwagen mit roh aussehenden Gesellen beladen. Der Geschäftskarren einer Brauerei rasselte vorüber; seine beiden Räder waren mit frischem Blut bespritzt.
»Aus dem Weg!«, riefen die Stimmen. »Aus dem Weg!«
»Ewig—keit! Ewig—keit!«, hallte es von der Straße wieder.
Traurige, abgemagerte Frauen schleppten sich weiter, gut gekleidet, mit Kindern, die weinten und immer stolperten; ihre zarten Kleider erstickten in Staub und ihre müden Gesichter waren von Tränen entstellt. Viele von ihnen waren von teils hilfreichen, teils mürrischen und rohen Männern begleitet. Seite an Seite mit ihnen drängte sich mit roher Gewalt ein Haufen Londoner Straßenauswurfs vorwärts, in schwarze Lumpen gekleidet, mit lauter Stimme unflätige Reden im Munde führend. Dann sah man stämmige Arbeiter, die kraftvoll vorwärtsdrängten, elend aussehende, ungekämmte Burschen, offenbar Ladenschwengel oder Tagschreiber, nach ihrer Kleidung zu schließen, die gelegentliche Raufereien veranstalteten; mein Bruder bemerkte noch einen verwundeten Soldaten, ferner Leute, die wie die Gepäckträger der Bahnhöfe gekleidet waren, und ein trostlos aussehendes Geschöpf in einem Nachthemd, über das ein Rock geworfen war.
Aber so verschieden auch ihre Zusammensetzung war, gewisse Züge hatte diese Menge gemein. Angst und Schmerz brüteten auf den Gesichtern, und Angst hinter ihnen. Ein Lärm auf der Straße, ein Streit um einen Wagenplatz, waren genügend, um diese ganze Schar zur Beschleunigung ihrer Schritte anzuspornen; selbst ein Mann, der so elend und gebrochen war, dass seine Knie unter ihm wankten, wurde für einen Augenblick zu erneuter Tätigkeit aufgestachelt. Hitze und Durst hatten bei dieser Menge schon ihr Werk getan. Die Haut war trocken, die Lippen waren schwarz und aufgesprungen. Alle waren sie durstig und ermattet; ihre Füße wund. Und unter den verschiedenartigen Schreien hörte man Gezänk, Vorwürfe und Gestöhne aus Ermattung und Schwäche. Die Stimmen der meisten waren schon heiser und schwach. Es war immer das alte Lied mit dem alten Kehrreim:
»Platz! Platz! Die Marsleute kommen!«
Nur wenige rasteten aus oder trennten sich von der Flut. Der Feldweg mündete ziemlich abschüssig in einer engen Öffnung in die Hauptstraße und machte den trügerischen Eindruck, als käme er aus Richtung London. Dennoch drängte ein geringer Bruchteil der Leute in die Mündung hinein; Schwächlinge pufften sich mit den Ellbogen aus dem Strome heraus; doch ruhten sie zum größten Teil nur einen Augenblick aus, um wieder in ihn einzutauchen. Ein wenig abseits vom Feldweg lag von zwei Freunden betraut ein Mann; eines seiner Beine war bloß, mit ein paar blutigen Lumpen umwickelt. Er war glücklich genug, Freunde zu besitzen.
Ein altes Männchen mit einem kriegerisch aussehenden Schnurrbart, mit einem fadenscheinigen, schwarzen Gehrock bekleidet, hinkte aus dem Haufen, zog seine Stiefel aus — seine Socken waren mit Blut befleckt — schüttelte einen Kieselstein heraus und humpelte weiter. Ein kleines Mädchen von acht oder neun Jahren, ganz allein, warf sich neben die Hecke dicht neben meinen Bruder und weinte bitterlich.
»Ich kann nicht weiter! Ich kann nicht weiter!«
Mein Bruder erwachte aus der Erstarrung seines Staunens; er hob sie auf, sprach ein paar freundliche Worte zu ihr und trug sie zu Fräulein Elphinstone. Sobald mein Bruder sie berührte, wurde sie ganz still, wie erschreckt.
»Ellen!«, schrie eine Frau im Haufen, mit Tränen in der Stimme. »Ellen!« Und das Kind machte sich von meinem Bruder los und schoss, nach ihrer Mutter rufend, davon.
»Sie kommen«, sagte ein Mann zu Pferd, der den Feldweg entlang ritt.
»Aus dem Weg da!«, brüllte ein Kutscher und richtete sich hoch auf; und mein Bruder sah einen geschlossenen Wagen in den Feldweg hereinfahren.
Die Leute drängten, einer den anderen pressend, zurück, um dem Pferd auszuweichen. Mein Bruder schob das Pony und den Wagen an die Hecke zurück, und der Mann fuhr vorbei, um an der Wegbiegung zu halten. Es war eine Kutsche, mit einer Deichsel für zwei Pferde, aber nur eines war in den Strängen.
Mein Bruder sah undeutlich durch den Staub hindurch, wie zwei Männer einen Gegenstand auf einer weißen Tragbahre heraushoben und ihn behutsam auf das Gras zwischen die Ligusterhecken legten.