Read the book: «H. G. Wells – Gesammelte Werke», page 9

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So, nach ei­nem wohl­er­wo­ge­nen Plan vor­ge­hend, wie Men­schen etwa ein We­s­pen­nest aus­räu­chern, ver­sen­de­ten die Mars­leu­te die­sen selt­sa­men er­sti­cken­den Qualm über das Land in der Rich­tung nach Lon­don zu. Die En­den der halb­mond­ar­ti­gen Li­nie er­wei­ter­ten sich lang­sam, bis sie end­lich das Land von Han­well bis Coom­be und Mal­den um­klam­mer­ten. Die gan­ze Nacht hin­durch rück­ten die Mars­leu­te mit ih­ren ver­nich­ten­den Roh­ren vor. Nicht ein ein­zi­ges Mal, nach­dem der Mars­mann am St.-Ge­or­g’s-Hü­gel zu Fall ge­bracht wor­den war, ga­ben sie der Ar­til­le­rie auch nur den Schat­ten ei­ner Ge­le­gen­heit zu wirk­sa­mem An­griff. Wo im­mer eine Mög­lich­keit vor­han­den war, dass, ih­nen un­sicht­bar, Ge­schüt­ze auf­ge­stellt sein konn­ten, wur­de eine fri­sche Büch­se je­nes schwar­zen Qual­mes ab­ge­feu­ert; und wo die Ge­schüt­ze un­ge­deckt da­stan­den, wur­de der Hit­ze­strahl in An­wen­dung ge­bracht.

Um Mit­ter­nacht war­fen die glü­hen­den Bäu­me an den Ab­hän­gen des Rich­mon­der Par­kes und der Feu­er­schein auf dem Hü­gel von King­ston ihr Licht auf ein Netz­werk schwar­zen Rau­ches, der das gan­ze Them­se­tal ein­hüll­te und ver­schwin­den ließ, und sich, so­weit das Auge reich­te, er­streck­te. Und durch al­les dies hin­durch wa­te­ten lang­sam zwei Mars­leu­te, die ihre zi­schen­den Dampf­strah­len hier­hin und dort­hin ver­sen­de­ten.

Die Mars­leu­te wen­de­ten in die­ser Nacht den Hit­ze­strahl nur sehr sel­ten an, sei es, dass sie nur einen be­schränk­ten Vor­rat an den Stof­fen be­sa­ßen, mit de­nen sie ihn her­stell­ten, sei es, dass es nicht in ih­rer Ab­sicht lag, das Land zu ver­wüs­ten, son­dern nur den Wi­der­stand, den sie ge­fun­den hat­ten, zu bre­chen oder ein­zu­schüch­tern. Da­rin er­reich­ten sie ohne Zwei­fel ihr Ziel. Sonn­tag nachts fand der or­ga­ni­sier­te Wi­der­stand ge­gen ihre Be­we­gung sein Ende. Von da an konn­te kei­ne wie im­mer ge­ar­te­te Ve­rei­ni­gung von Men­schen ih­nen stand­hal­ten, so hoff­nungs­los war das Un­ter­neh­men ge­schei­tert. Selbst die Mann­schaft der Tor­pe­do­boo­te und der Tor­pe­do­zer­stö­rer, die ihre Schnell­feu­er­ge­schüt­ze die Them­se her­auf­ge­bracht hat­te, wei­ger­te sich, zu blei­ben, meu­ter­te und kehr­te wie­der um. Das ein­zi­ge An­griffs­un­ter­neh­men, an das sich die Leu­te nach je­ner Nacht noch her­an­wag­ten, war die An­la­ge von Mi­nen und Fall­gru­ben; aber selbst die­se Ar­bei­ten er­folg­ten un­ter ei­nem teils un­sin­ni­gen, teils krampf­haft über­has­te­ten Auf­wand von Kräf­ten.

Man muss sich nur das Schick­sal je­ner Bat­te­ri­en ge­gen Es­her zu vor­stel­len, die in fast über­mensch­li­cher, ge­spann­ter Er­war­tung im Zwie­licht der Er­eig­nis­se harr­ten. Über­le­ben­de gab es nicht. Man kann sich von al­lem nur ein Bild ma­chen: al­les in bes­ter Ord­nung und vol­ler Er­war­tung, die Of­fi­zie­re eif­rig und wach­sam, die Mann­schaft be­reit, der Schieß­vor­rat auf­ge­häuft zur Hand, die Ka­no­nen bei ih­ren Pfer­den und Wa­gen, die Men­ge bür­ger­li­cher Zuschau­er so nahe, wie es ih­nen ge­stat­tet wur­de, die mil­de Ruhe des Abends; die Am­bu­lan­zen und die Feld­zel­te mit den Ver­brann­ten und Ver­wun­de­ten von Wey­bridge; dann plötz­lich der dump­fe Wi­der­hall der Schüs­se, wel­che die Mars­leu­te ab­feu­er­ten, und die un­för­mi­gen Ge­schos­se, die über Bäu­me und Häu­ser saus­ten und auf den be­nach­bar­ten Fel­dern zer­schell­ten.

Man mag sich fer­ner aus­ma­len, wie die all­ge­mei­ne Auf­merk­sam­keit plötz­lich er­regt wur­de, als die­se schwar­ze Mas­se in blitz­schnel­len Win­dun­gen und Auf­blä­hun­gen nach vor­wärts schoss, sich him­mel­wärts türm­te und das Zwie­licht in völ­li­ge Fins­ter­nis ver­wan­del­te; wie ein selt­sa­mer und schreck­li­cher Geg­ner in der Ge­stalt ei­nes Damp­fes sich auf sei­ne Op­fer stürz­te, wie Men­schen und Pfer­de im­mer mehr in der Dun­kel­heit ver­schwan­den, wie al­les durch­ein­an­der flüch­te­te, wil­de Rufe aus­stieß und kopf­über nie­der­stürz­te; man mag sich die Schreie des Ent­set­zens aus­ma­len, vor­stel­len, wie die Ge­schüt­ze im Stich ge­las­sen wur­den, wie die Men­schen sich rö­chelnd am Bo­den wan­den, wie der dich­te Rauch­ke­gel sich nach al­len Sei­ten hin aus­brei­te­te. Und dann Nacht und Ver­nich­tung — nichts als die schwei­gen­de Mas­se un­durch­dring­li­chen Qual­mes, der sei­ne To­ten um­hüll­te.

Vor dem Mor­gen­grau­en er­goss sich der schwar­ze Rauch durch die Stra­ßen Rich­monds, und der in Auf­lö­sung be­grif­fe­ne Or­ga­nis­mus der Re­gie­rung raff­te sich vor sei­nem Ende noch zu ei­ner letz­ten Pf­licht auf: die Be­völ­ke­rung Lon­d­ons zur Not­wen­dig­keit au­gen­blick­li­cher Flucht zu er­we­cken.

1 im­mer das hells­te Gestirn au­ßer dem Mond <<<

XVI. Die Flucht aus London

So be­greift man wohl die brül­len­de Woge der Angst, die durch die größ­te Stadt der Welt jag­te, ge­ra­de, als der Mon­tag däm­mer­te — der Strom der Flucht, der mit rei­ßen­der Schnel­lig­keit zu ei­nem wil­den Ge­wäs­ser an­schwoll, in schäu­men­der Wut um die Bahn­hö­fe bran­de­te, sich bei den Schiffs­werf­ten der Them­se zu ei­nem ent­setz­li­chen Kampf auf­bäum­te und auf je­dem mög­li­chen Strom­bett, das nach Nor­den oder Os­ten führ­te, durch­zu­bre­chen such­te. Ge­gen zehn Uhr ver­lor die Or­ga­ni­sa­ti­on der Po­li­zei, ge­gen Mit­tag selbst die Or­ga­ni­sa­ti­on der Ei­sen­bahn­be­am­ten je­den Zu­sam­men­hang, bei­de ga­ben ihre un­ter­schei­den­den und ach­tung­ge­bie­ten­den For­men auf, und ver­schmol­zen erst zö­gernd, dann umso ra­scher mit der großen gleich­ar­ti­gen Mas­se des so­zia­len Kör­pers.

Alle Ei­sen­bahn­li­ni­en nörd­lich der Them­se und die süd­öst­li­che Bahn­ge­sell­schaft in der Can­non Street wa­ren schon Sonn­tag Mit­ter­nacht von der dro­hen­den Ge­fahr ver­stän­digt wor­den; und schon um zwei Uhr wa­ren die Züge über­füllt; die Leu­te kämpf­ten wie Wil­de um Steh­plät­ze in den Wa­gen. Ge­gen drei Uhr wur­den selbst in der Bi­shops­ga­te­street Leu­te nie­der­ge­tre­ten und er­drückt; etwa zwei­hun­dert oder noch mehr Yard vom Li­ver­pool­street-Bahn­hof ent­fernt wur­den schon Re­vol­ver­schüs­se ab­ge­ge­ben und Leu­te er­sto­chen; und die Schutz­leu­te, die hin­ge­schickt wur­den, um die Ord­nung auf­recht zu er­hal­ten, zer­schlu­gen, er­schöpft und in Wut ver­setzt, den Leu­ten, die zu be­schüt­zen sie be­auf­tragt wa­ren, die Köp­fe.

Als der Tag vor­schritt und die Zug­füh­rer und die Hei­zer sich wei­ger­ten nach Lon­don zu­rück­zu­keh­ren, da trieb der drücken­de Zwang der Flucht die Leu­te in im­mer mehr sich ver­dich­ten­den Mas­sen von den Bahn­hö­fen weg auf die Stra­ßen, die nach Nor­den führ­ten. Um die Mit­tags­stun­de war ein Mars­mann in Bar­nes ge­se­hen wor­den, und eine Wol­ke mäch­tig sin­ken­den schwar­zen Qual­mes trieb die Them­se ent­lang über die Ebe­ne von Lam­beth und schnitt in ih­rem trä­gen Her­an­na­hen jede Mög­lich­keit ei­nes Ent­kom­mens über die Brücken ab. Eine zwei­te Wol­ken­schicht trieb über Ea­ling hin­weg und um­zin­gel­te eine klei­ne In­sel von Über­le­ben­den auf Cast­le Hill, die wohl ihr Le­ben fris­ten, aber auf kei­nen Aus­weg der Flucht hof­fen konn­ten.

Nach frucht­lo­sem Kampf, bei Chalk Farm in einen nord­west­li­chen Zug zu ge­lan­gen — die Ma­schi­nen der Züge, wel­che am Gü­ter­bahn­hof Rei­sen­de auf­ge­nom­men hat­ten, pflüg­ten ge­ra­de­zu durch einen schrei­en­den Men­schen­hau­fen hin­durch, und ein Dut­zend hand­fes­ter Män­ner kämpf­te förm­lich, um die Men­ge zu ver­hin­dern, den Zug­füh­rer ge­gen sei­nen Hei­z­ap­pa­rat zu schleu­dern — schlug sich mein Bru­der auf die Chalk Farm Road durch, wand sich durch einen Schwarm da­hin­ei­len­der Fahr­zeu­ge vor­wärts und hat­te das Glück, bei der Er­stür­mung ei­nes Fahr­rä­der­la­dens als ers­ter an­zu­kom­men.

Der vor­de­re Radreif der Ma­schi­ne, die er an sich riss, wur­de durch­schnit­ten, als er sie durch das Fens­ter zerr­te; gleich­wohl saß er auf und fuhr mit kei­ner erns­te­ren Ver­let­zung als einen Schnitt im Hand­ge­lenk ab. Der stei­le An­stieg des Ha­ver­stock Hills war ei­ni­ger ge­stürz­ter Pfer­de we­gen nicht pas­sier­bar, und mein Bru­der lenk­te in die Bel­si­ze Road ein.

So ent­kam mein Bru­der dem Wü­ten der Pa­nik; dem Saum der Edg­wa­re Road fol­gend, er­reich­te er, hung­rig und er­schöpft, doch der Men­ge weit vor­an, um sie­ben Uhr Edg­wa­re. Die gan­ze Stra­ße ent­lang stan­den die Leu­te neu­gie­rig und stau­nend. Mein Bru­der wur­de von ei­ner An­zahl Rad­fah­rern, ei­ni­gen Rei­tern und zwei Au­to­mo­bi­len über­holt. Eine Mei­le vor Edg­wa­re bra­chen die Rad­rei­fen, und die Ma­schi­ne wur­de un­brauch­bar. Er ließ sie auf der Stra­ße lie­gen und schlepp­te sich ins Dorf. In der Haupt­stra­ße des Or­tes wa­ren die La­den halb ge­öff­net und auf den Bür­ger­stei­gen, in den Haus­flu­ren, an den Fens­ter sam­mel­ten sich Leu­te an, die ver­wun­dert auf je­nen au­ßer­ge­wöhn­li­chen Zug von Flücht­lin­gen starr­ten, der jetzt her­an­zu­na­hen be­gann. Mei­nem Bru­der ge­lang es, in ei­nem Wirts­haus et­was zu es­sen zu be­kom­men.

Er blieb ei­ni­ge Zeit in Edg­wa­re, rat­los, was er be­gin­nen sol­le. Die Flücht­lin­ge nah­men an Zahl im­mer mehr zu. Vie­le von ih­nen schie­nen wie mein Bru­der ge­neigt zu sein, im Orte zu blei­ben. Von den Ein­dring­lin­gen vom Mars wuss­te nie­mand Neu­es zu be­rich­ten.

Die Stra­ße war jetzt schon voll von Leu­ten, aber noch lan­ge nicht über­füllt. Die meis­ten Flücht­lin­ge wa­ren schon mit Fahr­rä­dern aus­ge­rüs­tet, bald aber tauch­ten auch Au­to­mo­bi­le, Han­soms1 und Kut­schen auf, die rasch vor­über­eil­ten und in den dich­ten Staub­wol­ken ver­schwan­den, die auf der Stra­ße nach St. Al­bans auf­wir­bel­ten.

Es war viel­leicht nur ein ganz un­kla­res Vor­ha­ben, den Weg nach Chelms­ford zu wäh­len, wo ei­ni­ge sei­ner Freun­de wohn­ten, was mei­nen Bru­der schließ­lich be­wog, einen stil­len Feld­weg, der ost­wärts führ­te, ein­zu­schla­gen. Nach kur­z­er Zeit ge­lang­te er zu ei­ner Zaun­stei­ge, klet­ter­te hin­über und folg­te ei­nem Fuß­weg in nord­öst­li­cher Rich­tung. Er kam an ei­ni­gen Bau­ern­häu­sern und meh­re­ren klei­nen Ort­schaf­ten vor­bei, de­ren Na­men er nicht kann­te. Er sah nur we­ni­ge Flücht­lin­ge; erst auf ei­nem Gras­weg in der Nähe von High Bar­net stieß er auf die zwei Frau­en, die sei­ne Rei­se­ge­fähr­tin­nen wer­den soll­ten. Er kam ge­ra­de zur rech­ten Zeit, um sie zu ret­ten.

Er hör­te ihre Schreie und um die Ecke ei­lend, sah er zwei Män­ner, die sie aus dem klei­nen Pony­wa­gen, den sie lenk­ten, mit Ge­walt her­aus­zu­zer­ren such­ten, wäh­rend ein drit­ter sich da­mit ab­müh­te, den Kopf des er­schreck­ten Po­nys zu hal­ten. Die eine der Da­men, eine klei­ne in Weiß ge­klei­de­te Frau, kreisch­te nur im­mer­zu; die an­de­re, eine dunkle schlan­ke Er­schei­nung, schlug nach dem Man­ne, der ih­ren Arm ge­packt hat­te, mit der Peit­sche, die sie in ih­rer frei­en Hand hielt.

Mein Bru­der er­fass­te die Sach­la­ge auf der Stel­le, er rief laut und eil­te auf den Kampf­platz. Ei­ner der Män­ner ließ so­fort von den Da­men ab und wand­te sich ihm zu. Mein Bru­der, der aus dem Ge­sicht sei­nes Geg­ners so­fort er­kann­te, dass ein Kampf un­ver­meid­lich sei, stürz­te sich als der er­fah­re­ne Bo­xer, der er war, so­fort auf ihn und schlug ihn, ge­gen das Wa­gen­rad zu, nie­der.

Es war nicht die Zeit, um die Rit­ter­lich­keit von Bo­xern zu üben, und mein Bru­der mach­te ihn durch einen Fuß­tritt kampf­un­fä­hig. Dann pack­te er den Mann, der die schlan­ke Dame am Arm ge­fasst hat­te, beim Rock­kra­gen. Er hör­te das Klap­pern von Hu­fen, die Peit­sche schlug ihm ins Ge­sicht, ein drit­ter Geg­ner ver­setz­te ihm einen wuch­ti­gen Schlag zwi­schen die Au­gen, und der Mann, den er fest­hielt, riss sich los und rann­te den Feld­weg hin­ab in der Rich­tung, aus der er ge­kom­men war.

Halb be­täubt sah mein Bru­der sich jetzt dem Man­ne ge­gen­über, der den Kopf des Pfer­des ge­hal­ten hat­te. Er be­merk­te dann, wie der Wa­gen mit den stets zu­rück­bli­cken­den Frau­en, hef­tig nach bei­den Sei­ten schwan­kend, den Feld­weg ent­lang da­von­fuhr. Der Mann vor ihm, ein plum­per Lüm­mel, mach­te Mie­ne, sich auf ihn zu stür­zen, aber mein Bru­der schleu­der­te ihn mit ei­nem Faust­schlag ins Ge­sicht zu­rück. Als er sich so end­lich frei sah, warf er sich her­um und lief so schnell er konn­te den Feld­weg ent­lang dem Wa­gen nach; der Plum­pe war dicht an sei­nen Fer­sen und der Flüch­ti­ge, der sich jetzt um­ge­wandt hat­te, folg­te in ei­ni­ger Ent­fer­nung.

Plötz­lich tau­mel­te mein Bru­der und fiel zu Bo­den; sein nächs­ter Ver­fol­ger stürz­te auf ihn los, und als er sich wie­der auf­ge­rich­tet hat­te, sah er sich neu­er­dings zwei An­grei­fern ge­gen­über. We­nig fehl­te und es wäre um ihn ge­sche­hen ge­we­sen, hät­te nicht die schlan­ke Dame mu­tig den Wa­gen an­ge­hal­ten. Sie stieg aus und kam ihm zu Hil­fe. Sie hat­te von An­fang an einen Re­vol­ver mit sich ge­führt, aber er war un­ter den Sit­zen ver­bor­gen, als sie und ihre Ge­fähr­tin an­ge­grif­fen wur­den. Sie feu­er­te ihn nun auf eine Ent­fer­nung von sechs Yard ab und hät­te um ein Haar mei­nen Bru­der ge­trof­fen. Der we­ni­ger mu­ti­ge Räu­ber mach­te sich da­von und sein Spieß­ge­sel­le folg­te ihm, sei­ne Feig­heit ver­wün­schend. Sie mach­ten bei­de noch in Sicht Halt und blie­ben auf dem Feld­weg, dort, wo der drit­te Mann be­sin­nungs­los lag, ste­hen.

»Neh­men Sie ihn!«, rief die schlan­ke Dame und reich­te mei­nem Bru­der den Re­vol­ver.

»Ge­hen Sie zum Wa­gen zu­rück«, bat mein Bru­der, in­dem er sich das Blut aus sei­ner ge­spal­te­nen Lip­pe misch­te.

Sie wand­te sich wort­los ab — bei­de keuch­ten hef­tig — und dann gin­gen sie bei­de zum Wa­gen, in dem die Dame in Weiß mit krampf­haf­ter An­stren­gung das er­schreck­te Pony zu hal­ten be­müht war.

Die Räu­ber hal­ten of­fen­bar ge­nug. Als mein Bru­der sich wie­der nach ih­nen um­blick­te, zo­gen sie sich zu­rück.

»Ich set­ze mich hier­her«, sag­te mein Bru­der, »wenn ich darf;« und er stieg ein und ließ sich auf den lee­ren Vor­der­sitz nie­der. Die Dame blick­te über ihre Schul­ter.

»Ge­ben Sie mir die Zü­gel«, sag­te sie und strich mit der Peit­sche über die Flan­ke des Po­nys. Im nächs­ten Au­gen­blick ver­barg eine Krüm­mung des We­ges die drei Män­ner den Bli­cken mei­nes Bru­ders.

So kam es, dass mein Bru­der keu­chend, mit zer­schnit­te­nem Mund, ver­letz­tem Kie­fer und blut­be­fleck­ten Fin­ger­knö­cheln ganz un­ver­mu­tet auf ei­ner un­be­kann­ten Stra­ße mit zwei un­be­kann­ten Frau­en da­hin­fuhr.

Er er­fuhr, dass sie die Gat­tin und die jün­ge­re Schwes­ter ei­nes in Stan­mo­re le­ben­den Chir­ur­gen wa­ren, der in den frü­hen Mor­gen­stun­den von ei­nem ge­fähr­li­chen Fall in Pin­ner zu­rück­ge­kehrt war und auf ei­ner Ei­sen­bahn­sta­ti­on, an der ihn sein Weg vor­über­ge­führt, von dem Her­an­rücken der Mars­leu­te ge­hört hat­te. Er war nach Hau­se ge­eilt, hat­te die Frau­en ge­weckt — das Dienst­mäd­chen hat­te sie schon vor zwei Ta­gen ver­las­sen — hat­te et­was Mund­vor­rat zu­sam­men­ge­rafft, zum Glück für mei­nen Bru­der einen Re­vol­ver un­ter die Sit­ze ge­legt und ih­nen auf­ge­tra­gen, nach Edg­wa­re zu fah­ren, wo es ih­nen ge­lin­gen wür­de, in einen Zug zu kom­men. Er blieb zu­rück, um die Nach­barn zu ver­stän­di­gen. Er hat­te ih­nen ver­spro­chen, sie etwa um halb fünf Uhr mor­gens ein­zu­ho­len, und jetzt war es bei­na­he neun Uhr und sie hat­ten seit­her nichts von ihm ge­se­hen. Sie konn­ten we­gen des fast be­ängs­ti­gend wach­sen­den Ge­drän­ges nicht in Edg­wa­re blei­ben, und so wa­ren sie auf die­sen Sei­ten­weg ge­kom­men.

Das war die Ge­schich­te, die sie in ab­ge­bro­che­nen Sät­zen mei­nem Bru­der er­zähl­ten. Dann mach­ten sie in der Nähe von Neu-Bar­net wie­der Halt. Mein Bru­der aber ver­sprach, so lan­ge we­nigs­tens bei ih­nen zu blei­ben, bis sie einen end­gül­ti­gen Be­schluss über ihre nächs­ten Schrit­te ge­fasst hät­ten oder bis der ver­miss­te Arzt sie ge­trof­fen hät­te. Er ver­si­cher­te ih­nen, ein er­fah­re­ner Re­vol­ver­schüt­ze zu sein — er war al­les eher, als ver­traut mit die­ser Waf­fe — um ih­nen Ver­trau­en ein­zu­flö­ßen.

Ne­ben der Stra­ße schlu­gen sie eine Art La­ger auf, und das Pony tat sich bei der He­cke güt­lich. Mein Bru­der er­zähl­te ih­nen die Ein­zel­hei­ten sei­ner Flucht aus Lon­don und über­dies al­les, was er von den Mars­leu­ten und ih­rem Trei­ben wuss­te. Die Son­ne stieg hö­her am Him­mel, und nach ei­ni­ger Zeit stock­te das Ge­spräch und wich ei­nem un­be­hag­li­chen Zu­stand ban­ger Er­war­tung. Ei­ni­ge Fuß­gän­ger ka­men des We­ges ent­lang, und aus ih­nen brach­te mein Bru­der her­aus, so­viel er konn­te. Jede ge­bro­che­ne Ant­wort, die er er­hielt, ver­tief­te sei­nen Ein­druck von der schwe­ren Heim­su­chung, die über die Mensch­heit ge­kom­men war, ver­tief­te auch sei­ne Über­zeu­gung von der zwin­gen­den Not­wen­dig­keit, die Flucht fort­zu­set­zen. In drin­gen­den Wor­ten mach­te er das den Da­men be­greif­lich.

»Wir ha­ben Geld bei uns«, sag­te das Mäd­chen, und dann zö­ger­te sie, fort­zu­fah­ren.

Ihre Au­gen be­geg­ne­ten de­nen mei­nes Bru­ders, und ihr Ver­trau­en kehr­te wie­der.

»Auch ich habe Geld mit«, sag­te mein Bru­der.

Sie er­klär­te nun, au­ßer ei­ner Fünf-Pfund­no­te un­ge­fähr drei­ßig Pfund in Gold bei sich zu füh­ren, und schlug vor, da­mit zu ei­nem Zug bei St. Al­bans oder Neu-Bar­net zu ge­hen. Mein Bru­der, der die Wut der Lon­do­ner, als sie die Züge stürm­ten, mit an­ge­se­hen hat­te, hielt die­ses Vor­ha­ben für hoff­nungs­los und setz­te nun sei­nen Plan aus­ei­nein­an­der, Es­sex zu durch­que­ren und so nach Har­wich zu ge­lan­gen, um von dort das Land über­haupt zu ver­las­sen.

Frau El­phin­sto­ne — so hieß die Dame in Weiß — woll­te auf kei­ne Ratschlä­ge hö­ren und rief un­auf­hör­lich nach ih­rem »Ge­or­ge«; ihre Schwä­ge­rin aber war er­staun­lich ru­hig und ver­nünf­tig und war schließ­lich be­reit, dem Vor­schlag mei­nes Bru­ders zu fol­gen.

So schlu­gen sie also die Rich­tung nach Bar­net ein, in der Ab­sicht, die große, nach Nor­den füh­ren­de Stra­ße zu kreu­zen; mein Bru­der lenk­te das Pony, um es so viel wie mög­lich zu scho­nen.

Als die Son­ne hö­her stieg, wur­de es un­be­schreib­lich heiß und un­ter den Fü­ßen brann­te ein dich­ter weiß­li­cher Sand, so­dass sie nur sehr lang­sam vor­wärts­ka­men. Die He­cken wa­ren grau vor Staub. Und als sie in die Nähe von Bar­net ka­men, ver­nah­men sie ein im­mer lau­ter an­schwel­len­des Ge­mur­mel.

Sie be­geg­ne­ten im­mer mehr Leu­ten. Die meis­ten starr­ten vor sich hin, mur­mel­ten un­be­stimm­te Fra­gen und sa­hen er­schöpft, ab­ge­ma­gert und schmut­zig aus. Ein Mann im Frack ging zu Fuß an ih­nen vor­über, sei­ne Au­gen auf den Bo­den ge­hef­tet. Sie hör­ten sei­ne Stim­me und als sie nach ihm blick­ten, sa­hen sie, wie er mit der einen Hand sein Haar rauf­te und mit der an­de­ren nach un­sicht­ba­ren Din­gen schlug. Als sein Wut­au­fall vor­über war, ging er sei­ne Stra­ße wei­ter, ohne sich nur ein­mal um­zu­bli­cken.

Als die Ge­sell­schaft mei­nes Bru­ders sich dem Kreuz­weg im Sü­den von Bar­net nä­her­te, sa­hen sie eine Frau über ein Feld zur Lin­ken ge­gen die Stra­ße zu kom­men. Ein Kind trug sie auf dem Arm und zwei an­de­re führ­te sie; dann ging ein Mann in ei­nem schmut­zi­gen schwar­zen An­zug vor­bei, einen di­cken Rock in der einen Hand, eine klei­ne Rei­se­ta­sche in der an­de­ren. Als sie um die Ecke des Feld­we­ges fuh­ren, dort, wo bei der Ein­mün­dung in die Land­stra­ße ei­ni­ge Land­häu­ser ste­hen, kam ein klei­nes Ge­fährt, von ei­nem schweiß­be­deck­ten schwar­zen Pony ge­zo­gen, an­ge­fah­ren; ein blas­ser Bur­sche mit ei­nem Spor­thut lenk­te es. Drei Mäd­chen, die wie Fa­brik­mäd­chen des Lon­do­ner East Ends aus­sa­hen, und zwei klei­ne Kin­der sa­ßen zu­sam­men­ge­kau­ert in dem klei­nen Wa­gen.

»Hier kom­men wir doch nach Edg­wa­re?«, frag­te der mit wil­den Au­gen drein­bli­cken­de, to­ten­blas­se Len­ker des Ge­fähr­tes in un­ver­kenn­ba­rer Lon­do­ner Mund­art. Und als mein Bru­der ihm be­deu­te­te, die Rich­tung zu sei­ner Lin­ken ein­zu­schla­gen, hieb er auf das Pony ein, ohne sich lan­ge mit der Förm­lich­keit des Dan­kens auf­zu­hal­ten.

Jetzt be­merk­te mein Bru­der, wie aus den Häu­sern vor ih­nen ein dün­ner grau­er Rauch oder Ne­bel aus­stieg, der die wei­ße Vor­der­sei­te ei­ner Ter­ras­se jen­seits der Stra­ße, die zwi­schen den Land­häu­sern zum Vor­schein kam, ver­schlei­er­te. Frau El­phin­sto­ne schrie beim An­blick ei­ni­ger zün­geln­der rau­chi­ger Feu­er­flam­men, die aus den Häu­sern vor ih­nen ge­gen den blau­en Him­mel auf­schos­sen, plötz­lich auf. Der wil­de Lärm lös­te sich jetzt in ein wir­res Ge­men­ge vie­ler Stim­men, das Knir­schen vie­ler Rä­der, das Äch­zen von Wa­gen und das Ge­klap­per von Hu­fen auf. Kei­ne fünf­zig Yard vom Kreuz­weg ent­fernt, mach­te der Feld­weg eine schar­fe Bie­gung.

»Gott im Him­mel!«, rief Frau El­phin­sto­ne. »Wo­hin füh­ren Sie uns denn?«

Mein Bru­der hielt an.

Denn die Haupt­stra­ße war ein ko­chen­der Strom von Leu­ten, ein rei­ßen­der Wild­bach mensch­li­cher We­sen, die nach Nor­den eil­ten, ei­ner hin­ter dem an­de­ren drän­gend. Ein lan­ger Wol­ken­zug von Staub, weiß und leuch­tend im Son­nenglanz, ließ al­les in­ner­halb von zwan­zig Fuß über dem Bo­den grau und un­deut­lich er­schei­nen. Er bil­de­te sich im­mer von Neu­em durch die da­hin­ei­len­den Füße ei­ner dich­ten Men­ge von Pfer­den und Män­nern und Frau­en zu Fuß, und durch die Rä­der von Ge­fähr­ten al­ler er­denk­li­chen Art.

»Platz da!«, hör­te mein Bru­der Stim­men schrei­en. »Macht Platz!«

Zum Kreu­zungs­punkt des Feld­we­ges und der Stra­ße zu ge­lan­gen, hieß so viel wie in den Rauch ei­nes Feu­ers hin­ein­fah­ren; die Men­ge brüll­te wie ein Feu­er, und der Staub war heiß und pri­ckelnd. Und in der Tat stand et­was wei­ter oben an der Stra­ße ein Land­haus in Flam­men und wälz­te dich­te Men­gen schwar­zen Rau­ches über die Stra­ße, um die Ver­wir­rung zu er­hö­hen.

Zwei Män­ner ka­men dem Wa­gen nach. Dann ein schmut­zi­ges Weib, das ein schwe­res Bün­del trug und hef­tig schluchz­te. Ein ver­lau­fe­ner Jagd­hund, her­un­ter­ge­kom­men und be­deckt mit Schram­men, lief schnüf­felnd um sie her­um und floh, als mein Bru­der ihm droh­te.

So­viel man von der Stra­ße, die nach Lon­don führ­te, zwi­schen den Häu­sern zur Rech­ten se­hen konn­te, war sie ein wild ein­her­flie­ßen­der Strom schmut­zi­ger, flie­hen­der Leu­te, die zwi­schen die Land­häu­ser zu bei­den Sei­ten des We­ges ein­ge­klemmt wa­ren; die schwar­zen Köp­fe, die dicht an­ein­an­der­ge­dräng­ten Ge­stal­ten tra­ten deut­li­cher her­vor, als sie ge­gen die Stra­ßen­e­cke zu­stürz­ten und vor­über­eil­ten, dann tauch­te ihre Ei­gen­art wie­der in der flie­hen­den Men­ge un­ter, die end­lich von ei­ner Staub­wol­ke in der Feme ver­schlun­gen wur­de.

»Vor­wärts! Vor­wärts!«, rie­fen die Stim­men, »Platz da, macht Platz!«

Die Hän­de je­des Ein­zel­nen dräng­ten den Rücken sei­nes Vor­der­man­nes. Mein Bru­der stand bei dem Kopf des Po­nys. Un­wi­der­steh­lich an­ge­zo­gen ging er Schritt für Schritt vor­wärts den Feld­weg hin­ab.

Edg­wa­re war ein Schau­platz der Ver­wir­rung, Chalk Farm ein auf­rüh­re­ri­scher Tu­mult ge­we­sen, hier aber war eine gan­ze Be­völ­ke­rung in Be­we­gung. Man kann sich die­se Scha­ren schwer vor­stel­len. Sie hat­ten kei­ne per­sön­li­che Ei­gen­art mehr. Die Ge­stal­ten er­gos­sen sich nur so aus der Stra­ßen­e­cke und schon wa­ren nur ihre Rücken mehr in der Men­ge am Feld­weg zu se­hen. Zu bei­den Sei­ten der Stra­ße ka­men die Flücht­lin­ge, die, von den Rä­dern be­droht, über die Erd­lö­cher stol­pernd, ei­ner über den an­de­ren tau­melnd, zu Fuß ge­hen muss­ten.

Die Kar­ren und die Wa­gen dräng­ten sich dicht ei­ner hin­ter dem an­de­ren und lie­ßen nur we­nig Platz für jene ra­sche­ren und un­ge­dul­di­ge­ren Fahr­zeu­ge, die je­den Au­gen­blick vor­wärts schos­sen, so oft sich eine Ge­le­gen­heit dazu bot, da­bei schleu­der­ten sie die Leu­te rück­sichts­los ge­gen die Zäu­ne und die Git­ter der Land­häu­ser.

»Nur drauf los!«, war der all­ge­mei­ne Schrei. »Nur drauf los! Sie kom­men!«

Auf ei­nem Kar­ren stand ein blin­der Mann in der Uni­form der Heils­ar­mee. Er schlen­ker­te mit sei­nen ge­krümm­ten Fin­gern her­um und brüll­te un­auf­hör­lich: »O Ewig­keit! O Ewig­keit!« Sei­ne Stim­me war hei­ser und über­aus laut, so­dass mein Bru­der ihn noch lan­ge hö­ren konn­te, als er im süd­west­li­chen Staub schon den Bli­cken ent­schwun­den war. Ei­ni­ge Kar­ren wa­ren voll­ge­stopft von Leu­ten, die blöd­sin­nig auf ihre Pfer­de ein­hie­ben und mit an­de­ren Kut­schern zank­ten; ei­ni­ge Leu­te wie­der sa­ßen re­gungs­los da, mit trost­lo­sen Au­gen ins Lee­re star­rend; an­de­re nag­ten vor Durst an ih­ren Hän­den oder la­gen auf dem Bo­den ih­res Fuhr­werks lang aus­ge­streckt. Die Zäu­me der Pfer­de wa­ren mit Schaum be­deckt, ihre Au­gen blut­un­ter­lau­fen.

Mau sah Miet­wa­gen, Kut­schen, Ge­schäfts­wa­gen, Fuhr­wer­ke ohne Zahl, eine Post­kut­sche, einen Stra­ßen­säu­be­rungs­wa­gen mit der Auf­schrift »Ge­mein­de­be­zirk St. Pan­cras«, einen rie­si­gen Bau­holzwa­gen mit roh aus­se­hen­den Ge­sel­len be­la­den. Der Ge­schäfts­kar­ren ei­ner Braue­rei ras­sel­te vor­über; sei­ne bei­den Rä­der wa­ren mit fri­schem Blut be­spritzt.

»Aus dem Weg!«, rie­fen die Stim­men. »Aus dem Weg!«

»Ewig—keit! Ewig—keit!«, hall­te es von der Stra­ße wie­der.

Trau­ri­ge, ab­ge­ma­ger­te Frau­en schlepp­ten sich wei­ter, gut ge­klei­det, mit Kin­dern, die wein­ten und im­mer stol­per­ten; ihre zar­ten Klei­der er­stick­ten in Staub und ihre mü­den Ge­sich­ter wa­ren von Trä­nen ent­stellt. Vie­le von ih­nen wa­ren von teils hilf­rei­chen, teils mür­ri­schen und ro­hen Män­nern be­glei­tet. Sei­te an Sei­te mit ih­nen dräng­te sich mit ro­her Ge­walt ein Hau­fen Lon­do­ner Stra­ßen­aus­wurfs vor­wärts, in schwar­ze Lum­pen ge­klei­det, mit lau­ter Stim­me un­flä­ti­ge Re­den im Mun­de füh­rend. Dann sah man stäm­mi­ge Ar­bei­ter, die kraft­voll vor­wärts­dräng­ten, elend aus­se­hen­de, un­ge­kämm­te Bur­schen, of­fen­bar La­den­schwen­gel oder Tag­schrei­ber, nach ih­rer Klei­dung zu schlie­ßen, die ge­le­gent­li­che Rau­fe­rei­en ver­an­stal­te­ten; mein Bru­der be­merk­te noch einen ver­wun­de­ten Sol­da­ten, fer­ner Leu­te, die wie die Ge­päck­trä­ger der Bahn­hö­fe ge­klei­det wa­ren, und ein trost­los aus­se­hen­des Ge­schöpf in ei­nem Nacht­hemd, über das ein Rock ge­wor­fen war.

Aber so ver­schie­den auch ihre Zu­sam­men­set­zung war, ge­wis­se Züge hat­te die­se Men­ge ge­mein. Angst und Schmerz brü­te­ten auf den Ge­sich­tern, und Angst hin­ter ih­nen. Ein Lärm auf der Stra­ße, ein Streit um einen Wa­gen­platz, wa­ren ge­nü­gend, um die­se gan­ze Schar zur Be­schleu­ni­gung ih­rer Schrit­te an­zu­spor­nen; selbst ein Mann, der so elend und ge­bro­chen war, dass sei­ne Knie un­ter ihm wank­ten, wur­de für einen Au­gen­blick zu er­neu­ter Tä­tig­keit auf­ge­sta­chelt. Hit­ze und Durst hat­ten bei die­ser Men­ge schon ihr Werk ge­tan. Die Haut war tro­cken, die Lip­pen wa­ren schwarz und auf­ge­sprun­gen. Alle wa­ren sie durs­tig und er­mat­tet; ihre Füße wund. Und un­ter den ver­schie­den­ar­ti­gen Schrei­en hör­te man Ge­zänk, Vor­wür­fe und Ge­stöh­ne aus Er­mat­tung und Schwä­che. Die Stim­men der meis­ten wa­ren schon hei­ser und schwach. Es war im­mer das alte Lied mit dem al­ten Kehr­reim:

»Platz! Platz! Die Mars­leu­te kom­men!«

Nur we­ni­ge ras­te­ten aus oder trenn­ten sich von der Flut. Der Feld­weg mün­de­te ziem­lich ab­schüs­sig in ei­ner en­gen Öff­nung in die Haupt­stra­ße und mach­te den trü­ge­ri­schen Ein­druck, als käme er aus Rich­tung Lon­don. Den­noch dräng­te ein ge­rin­ger Bruch­teil der Leu­te in die Mün­dung hin­ein; Schwäch­lin­ge puff­ten sich mit den Ell­bo­gen aus dem Stro­me her­aus; doch ruh­ten sie zum größ­ten Teil nur einen Au­gen­blick aus, um wie­der in ihn ein­zut­au­chen. Ein we­nig ab­seits vom Feld­weg lag von zwei Freun­den be­traut ein Mann; ei­nes sei­ner Bei­ne war bloß, mit ein paar blu­ti­gen Lum­pen um­wi­ckelt. Er war glück­lich ge­nug, Freun­de zu be­sit­zen.

Ein al­tes Männ­chen mit ei­nem krie­ge­risch aus­se­hen­den Schnurr­bart, mit ei­nem fa­den­schei­ni­gen, schwar­zen Geh­rock be­klei­det, hin­k­te aus dem Hau­fen, zog sei­ne Stie­fel aus — sei­ne So­cken wa­ren mit Blut be­fleckt — schüt­tel­te einen Kie­sel­stein her­aus und hum­pel­te wei­ter. Ein klei­nes Mäd­chen von acht oder neun Jah­ren, ganz al­lein, warf sich ne­ben die He­cke dicht ne­ben mei­nen Bru­der und wein­te bit­ter­lich.

»Ich kann nicht wei­ter! Ich kann nicht wei­ter!«

Mein Bru­der er­wach­te aus der Er­star­rung sei­nes Stau­nens; er hob sie auf, sprach ein paar freund­li­che Wor­te zu ihr und trug sie zu Fräu­lein El­phin­sto­ne. So­bald mein Bru­der sie be­rühr­te, wur­de sie ganz still, wie er­schreckt.

»El­len!«, schrie eine Frau im Hau­fen, mit Trä­nen in der Stim­me. »El­len!« Und das Kind mach­te sich von mei­nem Bru­der los und schoss, nach ih­rer Mut­ter ru­fend, da­von.

»Sie kom­men«, sag­te ein Mann zu Pferd, der den Feld­weg ent­lang ritt.

»Aus dem Weg da!«, brüll­te ein Kut­scher und rich­te­te sich hoch auf; und mein Bru­der sah einen ge­schlos­se­nen Wa­gen in den Feld­weg her­ein­fah­ren.

Die Leu­te dräng­ten, ei­ner den an­de­ren pres­send, zu­rück, um dem Pferd aus­zu­wei­chen. Mein Bru­der schob das Pony und den Wa­gen an die He­cke zu­rück, und der Mann fuhr vor­bei, um an der Weg­bie­gung zu hal­ten. Es war eine Kut­sche, mit ei­ner Deich­sel für zwei Pfer­de, aber nur ei­nes war in den Strän­gen.

Mein Bru­der sah un­deut­lich durch den Staub hin­durch, wie zwei Män­ner einen Ge­gen­stand auf ei­ner wei­ßen Trag­bah­re her­aus­ho­ben und ihn be­hut­sam auf das Gras zwi­schen die Li­gus­ter­he­cken leg­ten.