So geschah es, dass am 29. Februar, bei beginnendem Tauwetter, dieser merkwürdige Mensch wie aus den Wolken nach Iping herabfiel. Am nächsten Tage traf sein Gepäck ein – und auch dieses war eigentümlich genug. Es waren allerdings zwei Koffer da, wie jeder vernünftige Mensch sie haben konnte, aber außerdem noch eine Bücherkiste – große, dicke Bücher, manche in unverständlicher Schrift – und über ein Dutzend Körbe, Kisten und Kasten, welche in Stroh verpackte Gegenstände enthielten, welch letztere Hall, der in gerechtfertigter Neugierde das Stroh untersuchte, für Glasflaschen hielt. Der Fremde, mit Hut, Stock, Handschuhen und Halstuch versehen, erschien voller Ungeduld, als Fearensides, des Fuhrmanns, Karren vor dem Hause hielt, während Hall mit Fearenside ein kurzes Gespräch anknüpfte, bevor er beim Abladen der Kisten behilflich war. Ohne des Fuhrmanns Hund, der freundlich Halls Beine beschnüffelte, zu beachten, trat der Fremde vor die Tür.
»Beeilt euch mit den Kisten!«, rief er. »Ich habe lange genug warten müssen!« Und er kam die Stufen herab auf den Karren zu, als ob er selbst mit Hand anlegen wollte.
Kaum hatte ihn Fearensides Hund jedoch erblickt, als er unruhig wurde und zu knurren begann; als der Fremde unten angelangt war, tat der Hund einen Satz und sprang dann gerade auf seine Hand los. »Wupp!«, schrie Hall zurückweichend, denn er war Hunden gegenüber gerade kein Held, und Fearenside brüllte: »Nieder!«, und langte rasch nach seiner Peitsche.
Sie sahen, wie die Zähne des Hundes die Hand fahren ließen, hörten einen Schlag, sahen den Hund zur Seite springen, sich in das Bein des Fremden verbeißen und hörten deutlich den Riss, der durch dessen Beinkleider ging. Dann fiel Fearensides Peitsche auf den Hund nieder, der sich unter wütendem Bellen unter die Räder des Karrens verkroch. All dies geschah in dem kurzen Zeitraum einer halben Minute. Niemand sprach, alle schrien. Der Fremde warf einen schnellen Blick auf seine zerrissenen Handschuhe und auf sein Bein, schien sich zu dem letzteren niederbeugen zu wollen, wendete sich dann aber um und eilte über die Stufen in den Gasthof zurück. Man hörte ihn den Gang durcheilen und die Holztreppen zu seinem Schlafzimmer emporsteigen.
»Du Vieh, du!«, schrie Fearenside, mit der Peitsche in der Hand vom Wagen steigend, während der Hund durch die Räder hindurch jede seiner Bewegungen beobachtete.
»Komm her! Wirst du wohl!«, fügte er hinzu.
Hall war atemlos dagestanden. »Er ist gebissen worden«, sagte er endlich, »ich will nach ihm sehen.« Und er folgte dem Fremden. Im Hausflur traf er seine Frau. »Des Fuhrmanns Hund hat ihn gebissen«, teilte er ihr beim Vorübergehen mit.
Er ging, ohne zu zaudern, die Stiegen hinauf, öffnete die angelehnte Tür zu des Fremden Schlafzimmer und trat ohne Umstände, nur von seinem Mitgefühl geleitet, ein.
Die Vorhänge waren zugezogen und das Zimmer dunkel. Sekundenlang hatte er eine merkwürdige Erscheinung: er glaubte zu sehen, dass ihm ein Arm ohne Hand zuwinke und erblickte ein Gesicht mit drei riesigen Flecken von unbestimmter Farbe auf weißem Grunde, einem hellfarbigen Stiefmütterchen nicht unähnlich. Dann erhielt er einen heftigen Schlag vor die Brust und wurde zurückgestoßen, worauf die Tür hinter ihm zugeschlagen und verriegelt wurde. All das geschah so schnell, dass es ihm an Zeit fehlte, weitere Beobachtungen anzustellen: ein Ineinanderfließen von rätselhaften Schatten, ein Schlag und ein Zusammenstoß. Da stand er auf dem dunklen kleinen Flur und dachte nach, was er da wohl gesehen haben könnte.
Schon nach wenigen Minuten schloss er sich wieder der kleinen Gruppe an, die sich vor dem »Fuhrmann« angesammelt hatte. Dort stand Fearenside, der die ganze Geschichte schon zum zweiten Male erzählte; Mrs. Hall, die fortwährend erklärte, sein Hund habe kein Recht ihre Gäste zu beißen; Huxter, der Krämer von jenseits der Straße, welcher unverdrossen Fragen stellte, und Sandy Wadgers, der Schmied, der für alles Antworten bereit hatte. Außerdem Frauen und Kinder, die alle gleichzeitig sprachen: »Mir sollte er nur kommen!« – »Solche Hunde sollte man nicht halten dürfen!« – »Warum hat er ihn denn eigentlich gebissen?«, und so fort.
Mr. Hall, der auf den Stufen stand und zuhörte, hielt es bereits für unmöglich, dass er die merkwürdigen Dinge im oberen Stockwerke wirklich erlebt habe. Übrigens war auch sein Wortschatz zu klein, um seinen Empfindungen Ausdruck zu verleihen.
»Er braucht keine Hilfe«, erwiderte er auf die Frage seiner Frau. »Wir schaffen am besten gleich das Gepäck hinein.«
»Man sollte die Wunde gleich ausbrennen«, sagte Mr. Huxter, »besonders wenn sie entzündet ist.«
»Ich würde den Hund einfach niederschießen, er verdient es«, meinte eine Frau in der Gruppe.
Plötzlich begann der Hund von neuem zu knurren.
»Nun! wird’s?«, rief eine ärgerliche Stimme im Hausflur und dort stand der vermummte Fremde, wie immer den Rockkragen in die Höhe geschlagen und den Rand seines Hutes nach abwärts gebogen. »Je früher Sie meine Sachen hineintragen, desto lieber ist es mir.« Von einem unbekannten Zuschauer wurde bei dieser Gelegenheit konstatiert, dass der Fremde Beinkleider und Handschuhe gewechselt hatte.
»Sind Sie gebissen worden, Herr?«, fragte Fearenside. »Es tut mir wirklich leid, dass der Hund – –«
»Durchaus nicht«, versetzte der Fremde. »Beeilen Sie sich mit dem Abladen.«
Dann fluchte er vor sich hin, wie Mr. Hall behauptet. Kaum war der erste Korb nach seinen Angaben in das Gastzimmer geschafft, als er sich mit außerordentlichem Eifer daraufstürzte und auszupacken anfing. Ohne die geringste Rücksicht auf Mrs. Halls Teppich zu nehmen, warf er das Stroh heraus und begann Flaschen ans Tageslicht zu fördern. Kleinere, dicke Flaschen mit Pulvern, kleine, schlanke Flaschen mit gefärbten und farblosen Flüssigkeiten, langhalsige, blaue Flaschen mit der Aufschrift: »Gift«, dickbauchige grüne Glasflaschen, breite weiße Flaschen, Flaschen mit Glaspfropfen und geätzter Etikette, fein verkorkte Flaschen, Flaschen mit Holzdeckeln, Wein- und Ölflaschen, die er auf dem Wäscheschrank, dem Kaminsims, auf dem Tisch vor dem Fenster, auf dem Fußboden, dem Bücherbrett, kurz überall, reihenweise aufstellte. Der Apothekerladen in Bramblehurst konnte sich nicht halb so vieler Flaschen rühmen. Es war geradezu eine Sehenswürdigkeit. Korb auf Korb gab seinen Inhalt heraus, bis alle sechs leer waren und das Stroh hoch auf dem Tische aufgehäuft lag. Das einzige, was außer den Flaschen aus den Körben hervorkam, war eine Anzahl Probiergläser und eine sorgfältig verpackte Wage.
Und sowie die Körbe leer waren, ging der Fremde ans Fenster, begann zu arbeiten, ohne sich im geringsten um die Strohhaufen, das erloschene Feuer, die Bücherkiste draußen oder um die Koffer und das andere Gepäck zu kümmern, das inzwischen in sein Schlafzimmer hinaufgeschafft worden war.
Als Mrs. Hall ihm das Mittagessen brachte, war er schon so eifrig damit beschäftigt, kleine Mengen der Flüssigkeit aus den Flaschen in die Probiergläser zu schütten, dass er ihre Gegenwart nicht eher wahrnahm, als bis sie den größten Teil des Strohs weggeschafft und das Servierbrett auf den Tisch gestellt hatte, was sie, angesichts des Zustandes, in dem sich der Fußboden befand, etwas geräuschvoll getan haben mochte. Nun wandte er halbwegs den Kopf, um sich sofort wieder abzuwenden. Aber sie bemerkte, dass er die Brille abgenommen hatte, die neben ihm auf dem Tische lag, und es schien ihr, als ob er außerordentlich tiefe Augenhöhlen hätte. Er setzte das Augenglas wieder auf, wandte sich dann ganz um und blickte ihr ins Gesicht. Sie war eben im Begriff, sich über das Stroh auf den Dielen zu beklagen, als er ihr zuvorkam.
»Ich wünschte, Sie kämen nicht herein, ohne anzuklopfen«, sprach er in jenem Tone großer Gereiztheit, der so charakteristisch für ihn war.
»Ich klopfte an, wahrscheinlich haben Sie – –«
»Das mag sein; bei meinen Untersuchungen – meinen wirklich sehr dringenden und wichtigen Untersuchungen – kann jedoch die leiseste Störung, das Knarren einer Tür – Ich muss Sie bitten – – –«
»Natürlich, mein Herr. In diesem Falle können Sie ja den Schlüssel umdrehen, so oft es ihnen beliebt.«
»Ein ausgezeichneter Gedanke«, meinte der Fremde.
»Aber das Stroh, Herr! Wenn ich mir die Freiheit nehmen dürfte, zu bemerken –«
»Lieber nicht. Wenn das Stroh Sie stört, setzen Sie’s auf die Rechnung.« Und er brummte etwas vor sich hin, was einem Fluche verzweifelt ähnlich klang.
Er sah so seltsam aus, als er so kampfbereit und zornig, eine Flasche in der einen, das Probierglas in der anderen Hand, dastand, dass Mrs. Hall es mit der Angst kriegte. Aber sie war eine entschlossene Frau. »In diesem Falle, mein Herr, würde ich gerne wissen, wie hoch –«
»Ein Schilling – rechnen Sie mir einen Schilling an. Das wird doch genügen?«
»Gut«, entgegnete Mrs. Hall, indem sie das Tischtuch ergriff und über den Tisch breitete. »Wenn Sie damit einverstanden sind, natürlich –«
Er wendete sich ab und nahm, ihr den Rücken kehrend, den Rockkragen aufwärts gestellt, seinen früheren Platz ein.
Den ganzen Nachmittag arbeitete er bei verschlossener Tür und, wie Mrs. Hall bezeugt, meist stillschweigend. Nur einmal vernahm man eine heftige Erschütterung, das Klirren aneinanderstoßender Flaschen, als ob jemand auf den Tisch geschlagen hätte, das Zersplittern eines heftig zu Boden geschmetterten Glases und dann einen schnellen Schritt, der das Zimmer durchmaß. Etwas Außerordentliches befürchtend, ging sie zu seiner Tür und horchte. Zu klopfen nahm sie sich nicht erst die Mühe.
»Ich komme nicht weiter«, raste er. »Ich komme nicht weiter! Dreimalhunderttausend, viermalhunderttausend! Solche Zahlen! Ich bin betrogen! Mein ganzes Leben kann ich damit verbringen! – Geduld! nur Geduld! – Oh, ich Narr!«
Das Klappern von nägelbeschlagenen Schuhen auf den Ziegeln der Schankstube, das jetzt laut wurde, brachte Mrs. Hall sehr zu ihrem Verdruss um die Fortsetzung seines Selbstgesprächs. Als sie zurückkehrte, war es wieder still im Zimmer, mit Ausnahme des leisen Krachens des Stuhles und des gelegentlichen Klirrens einer Flasche. Alles war vorüber; der Fremde hatte seine Arbeit wieder aufgenommen.
Als sie ihm den Tee brachte, sah sie unterhalb des Spiegels in der Zimmerecke Glasscherben und einen nachlässig weggewischten, goldgelben Fleck. Sie machte ihn darauf aufmerksam.
»Schreiben Sie’s auf die Rechnung«, knurrte er sie an. »Um Gottes willen, quälen Sie mich nicht! Wenn ich Schaden anrichte, schreiben Sie’s auf die Rechnung«, und er fuhr mit den Eintragungen in sein Notizbuch fort. – – –
»Ich will dir etwas sagen«, begann Fearenside geheimnisvoll. Es war spät am Nachmittag und die beiden saßen in der kleinen Bierstube von Iping beisammen.
»Nun?«, fragte Teddy Henfrey.
»Der Mensch, von dem du sprichst, den mein Hund gebissen hat – ich sage dir – er ist schwarz! Seine Beine wenigstens. Ich sah durch den Riss in seinen Hosen und in seinen Handschuhen. Du hättest doch auch etwas Rotes zu sehen erwartet, nicht wahr? Fehlgeraten! Alles war schwarz. Schwarz wie mein Hut da.«
»Meiner Treu«, meinte Henfrey, »das ist eine seltsame Geschichte. Aber seine Nase ist doch scharlachrot!«
»Das ist richtig«, erwiderte Fearenside, »ich weiß es und will dir sagen, wie ich es mir erkläre. Der Mensch ist ein Schecke, Teddy, schwarz und weiß gefleckt. Und er schämt sich, es zu zeigen. Er ist eine Art Mischblut; anstatt sich zu vermischen, sind die Farben in Flecken herausgekommen. Ich habe schon von derartigen Fällen gehört. Und bei Pferden ist es das Gewöhnliche, wie jedermann weiß.«
Ich habe die Umstände, welche die Ankunft des Fremden in Iping begleiteten, mit besonderer Ausführlichkeit erzählt, damit der Leser den merkwürdigen Eindruck, den er hervorrief, verstehen soll. Aber bis auf zwei eigentümliche Zwischenfälle kann ich über die Umstände seines Aufenthaltes im »Fuhrmann« bis zu dem denkwürdigen Tag des Vereinsfestes rasch hinweggehen. Es gab der Hausordnung wegen zahlreiche Scharmützel mit Mrs. Hall, aber bis spät in den April hinein, da sich die ersten Anzeichen von Geldmangel zu zeigen begannen, war sie durch irgendeine kleine Extrabezahlung leicht zu beschwichtigen. Hall liebte ihn nicht, und so oft er konnte, sprach er davon, dass es ratsam wäre, sich seiner zu entledigen. Aber er zeigte diese Abneigung hauptsächlich dadurch, dass er sie sorgfältig verbarg und seinen Gast soviel als möglich mied.
»Warte bis zum Sommer, bis die Maler kommen«, meinte Mrs. Hall verständig. »Dann werden wir weitersehen. Er mag ein wenig anspruchsvoll sein, aber pünktlich bezahlte Rechnungen sind pünktlich bezahlte Rechnungen, dagegen lässt sich nichts sagen.«
Der Fremde ging nie in die Kirche und machte keinen Unterschied zwischen Sonn- und Wochentagen. Auch nicht in seiner Kleidung. Mrs. Hall fand, er arbeite sehr unregelmäßig. Zuweilen kam er früh herunter und arbeitete eifrig. Dann kam es wieder vor, dass er spät aufstand, stundenlang aufgeregt im Zimmer auf und ab ging, rauchte oder im Lehnstuhl am Feuer schlief. Er hatte keinerlei Verbindung mit der Welt außerhalb des Dorfes. Seine Gemütsstimmung war sehr veränderlich; meist aber benahm er sich wie ein Mensch, der fast Unerträgliches zu erdulden hat, und hie und da hatte er plötzliche Anfälle von Wildheit, in welchen er etwas zerriss, zerbrach oder zertrat. Von Tag zu Tag verstärkte sich seine Gewohnheit, leise mit sich selbst zu sprechen; aber obgleich Mrs. Hall sich Mühe gab, etwas zu erhorchen, konnte sie in seine abgerissenen Worte keinen Sinn bringen.
Tagsüber ging er selten aus, aber im Halbdunkel pflegte er bei jedem Wetter, bis zur Unsichtbarkeit vermummt, spazierenzugehen, und selbst dann wählte er die einsamsten und dunkelsten Wege. Die riesige Schutzbrille, das geisterhaft verhüllte Gesicht unter dem breitrandigen Hut, trat er oft spät heimkehrenden Arbeitern unheimlich plötzlich entgegen. Und Teddy Henfrey, der eines Abends um halb zehn Uhr aus dem Gasthause »Zum roten Frack« heraustaumelte, wurde durch des Fremden ungeheuerlichen Kopf, den ein Lichtstrahl aus der geöffneten Wirtsstubentür plötzlich beleuchtete, tödlich erschreckt. Kinder, die ihn bei Anbruch der Nacht sahen, träumten von Gespenstern, und es war eine offene Frage, ob er die Kinder mehr hasste oder sie ihn. Auf jeden Fall aber bestand eine lebhafte Abneigung auf beiden Seiten.
Es war unvermeidlich, dass ein Mensch von so ungewöhnlichem Äußern und solchem Benehmen in einem Dorfe wie Iping den häufigen Gesprächsstoff bildete. Über seine Beschäftigung waren die Meinungen sehr geteilt. Mrs. Hall war in diesem Punkte sehr empfindlich. Wurde sie gefragt, so erklärte sie wohlgefällig, dass er ein »Experimentalforscher« sei, und sprach jede Silbe so sorgfältig aus, als ob sie fürchtete, darüber zu stolpern. Fragte man sie, was ein Experimentalforscher eigentlich sei, pflegte sie mit einer gewissen Überlegenheit zu erwidern, dass gebildete Leute solche Sachen gewöhnlich wüssten, und fügte als Erklärung bei, dass er »Entdeckungen mache«. Ihr Gast habe einen Unfall erlitten, sagte sie, durch welchen sein Gesicht und seine Hände entstellt worden wären, und da er zur Empfindlichkeit neige, weiche er natürlich allen Menschen aus. Eine weit verbreitete Ansicht, von der aber Mrs. Hall nichts zu hören bekam, ging dahin, der Fremde sei ein Verbrecher, der sich vor den Augen der Polizei verberge, um sich der Gerechtigkeit zu entziehen. Dieser Gedanke war dem Gehirne Mr. Teddy Henfreys entsprungen und hatte leider die Tatsache gegen sich, dass seit Mitte oder Ende Februar kein Verbrechen von irgendwelcher Bedeutung begangen worden war. In der Fantasie Mr. Goulds, des Probelehrers an der Volksschule, nahm der Verdacht eine andere Form an: er hielt den Fremden für einen verkleideten Anarchisten, der Sprengstoffe vorbereite, und er beschloss, dem ganz in der Weise eines Detektivs nachzuspüren, so gut es seine Zeit erlaubte. Seine diesbezügliche Tätigkeit bestand hauptsächlich darin, den Fremden, wo immer er ihn traf, scharf anzusehen oder Leute, welche den Fremden nie gesehen hatten, zu Mitteilungen über denselben zu veranlassen. Aber er entdeckte nichts.
Die Anhänger wieder einer anderen Schule, deren Haupt Fearenside war, huldigten entweder der Scheckentheorie oder einer Abart derselben. So zum Beispiel meinte Silas Durgan, der Fremde könnte sein Glück machen, wenn er sich entschlösse, »sich auf Jahrmärkten« zu zeigen, und als Bibelkenner verglich er den Fremden mit dem Mann mit dem einen Pfund. Wieder andere stellten ihn als einen harmlosen Irrsinnigen hin, eine Annahme, die den unleugbaren Vorzug hatte, alle Sonderbarkeiten des Fremden erklären zu können. Zwischen diesen Hauptgruppen standen Leute, die sich noch keine feste Meinung gebildet hatten und solche, die jedem recht gaben. Das Volk in Sussex ist nicht abergläubisch, und erst nach den Ereignissen der ersten Apriltage tauchte im Dorfe der Gedanke an etwas Übernatürliches auf; selbst dann aber glaubten nur Frauen daran.
Aber wofür sie ihn auch halten mochten, in der Abneigung gegen den Fremden waren die Bewohner von Iping so ziemlich einig. Seine Reizbarkeit, die für einen Städter, der sich geistig beschäftigt, nichts Merkwürdiges gehabt hätte, war für die ruhigen Landleute eine erstaunliche Sache. Die wilden Gebärden, bei denen sie ihn hie und da überraschten, die Hast, mit der er nach Einbruch der Dunkelheit auf abgelegenen Wegen mehr lief als ging, die unnatürliche Zurückweisung aller ihrer neugierigen Annäherungsversuche, seine Vorliebe für das Dämmerlicht, die ihn die Türen schließen, die Vorhänge herunterlassen, Lichter und Lampen auslöschen ließ – wer konnte sich mit solchen Dingen befreunden? Man wich ihm aus, wenn er durchs Dorf ging, und sobald er vorbei war, pflegten humoristisch veranlagte Jünglinge mit aufgeschlagenem Rockkragen und abwärts gebogener Hutkrempe den nervösen Schritt und das geheimnisvolle Gebaren des Gastes nachzuahmen. Es war gerade damals das »Lied von der Vogelscheuche« sehr populär. Miss Satchell hatte es im Schulvereinskonzert – zugunsten der Anschaffung neuer Kirchenleuchter – gesungen. Und so oft nachher mehrere Ipinger beisammen standen und der Fremde zufällig vorüberging, pfiff einer oder der andere, bald laut, bald leise, einige Takte des Liedes vor sich hin. Selbst kleine Kinder, die zufällig des Abends noch auf der Straße waren, riefen ihm »Vogelscheuche!«, nach und liefen dann, stolz über ihren Mut, davon.
Cuss, der Wundarzt, wurde von Neugierde verzehrt; die Verbände erregten sein wissenschaftliches Interesse, das Gerücht von der ungeheuren Menge von Flaschen seine Eifersucht. Den ganzen April und Mai suchte er krampfhaft nach einer Gelegenheit, mit dem Fremden in Berührung zu kommen. Endlich, gegen Pfingsten, hielt er es nicht länger aus und nahm die Sammelliste für einen Pflegerinnenfonds zum Vorwand, um den geheimnisvollen Gast im »Fuhrmann« aufzusuchen. Er war erstaunt zu hören, dass Mr. Hall den Namen seines Mieters nicht kannte.
»Er nannte seinen Namen«, erklärte Mrs. Hall – eine gänzlich ungerechtfertigte Behauptung – »aber ich verstand ihn nicht recht.« Sie dachte, es sähe so dumm aus, den Namen des Mannes nicht zu wissen.
Cuss pochte an die Tür und trat ein. Eine ziemlich deutliche Verwünschung drang aus dem Zimmer heraus.
»Entschuldigen Sie mein Eindringen«, begann Cuss, dann schloss er die Tür und Mrs. Hall musste wohl oder übel auf den Rest des Gespräches verzichten.
Zehn Minuten lang hörte sie murmelnde Stimmen, dann folgte ein Ausruf der Überraschung, das Scharren von Füßen, der dumpfe Fall eines beiseite geschleuderten Stuhles, ein heiseres Lachen – schnelle Schritte näherten sich der Tür und Cuss erschien mit kreidebleichem Gesicht und starr nach rückwärts gewendetem Kopf. Er ließ die Tür hinter sich offen, ging, ohne sich umzusehen, durch den Gang und die Treppe hinab; dann hörte Mrs. Hall, wie sich seine Schritte eiligst auf der Straße entfernten. Den Hut trug er in der Hand. Sie stand hinter dem Schanktisch und blickte auf die offene Wohnzimmertür. Sie hörte den Fremden leise lachen und durch das Zimmer gehen, konnte aber von ihrem Platze aus sein Gesicht nicht sehen. Dann wurde die Tür zugeschlagen und alles war wieder ruhig.
Cuss ging geradeswegs durch das Dorf zu Bunting, dem Pfarrer.
»Bin ich verrückt?«, begann Cuss ohne jede Einleitung, als er in das einfache, kleine Studierzimmer trat. »Sehe ich aus wie ein Irrsinniger?«
»Was ist Ihnen denn geschehen?«, fragte der Pfarrer, auf die losen Blätter seiner dieswöchigen Predigt ein Zeichen legend.
»Der Mensch im Wirtshause –«
»Ja?«
»Geben Sie mir etwas zu trinken«, bat Cuss und setzte sich nieder.
Als er seine Nerven durch ein Glas billigen Sherrys – das einzige Getränk, welches der gute Pfarrer besaß – gestärkt hatte, begann er ihm von der eben stattgefundenen Unterredung zu erzählen.
»Ich ging hinein«, keuchte er, »und bat um einen Beitrag für den Pflegerinnenfonds. Er hatte die Hände in den Taschen, als ich eintrat, und ließ sich breit auf seinen Sessel nieder. Dann nieste er. Ich erzählte ihm, ich hätte gehört, er interessiere sich für wissenschaftliche Fragen. Er bejahte es, nieste wieder und kam aus dem Niesen nicht heraus. Hatte sich augenscheinlich vor kurzem einen höllischen Schnupfen geholt. Kein Wunder bei der dichten Vermummung. Ich entwickelte ihm die Idee bezüglich der Pflegerinnen und hielt die ganze Zeit die Augen offen. Flaschen – Chemikalien überall, Wage, Probiergläser auf Regalen und ein penetranter Geruch im Zimmer. Würde er einen Beitrag geben? Sagte, er würde sich’s überlegen. Fragte ihn geradezu, ob er experimentiere. Er bejahte. Eine langwierige Untersuchung? Er wurde ganz grob: ›Eine verdammt langwierige Untersuchung‹, sagte er, und nun kam die ganze Sache heraus. Der Mann war gerade am Siedepunkt und meine Frage ließ ihn überschäumen. Man hatte ihm ein Rezept gegeben – ein sehr wertvolles Rezept – wofür, wollte er nicht sagen. Ein ärztliches? ›Zum Teufel! Was wollen Sie denn aus mir herausbringen?‹ Ich bat um Entschuldigung. Wiederholtes Niesen und Husten. Er fuhr fort: Er hatte eben das Rezept lesen wollen. Es bestand aus fünf Ingredienzien. Er hatte es hingelegt und den Kopf weggewendet. Ein Windstoß vom Fenster ließ das Papier aufflattern. Er hörte es rascheln. Er arbeitete damals in einem Zimmer mit offenem Feuer, sagte er. Er sah ein Aufflackern, das Rezept brannte und hob sich im Kamin in die Höhe. Er stürzte sich darauf, gerade als es in den Kamin flog. So! In diesem Augenblick, wie um seine Erzählung lebendiger zu gestalten, hob er den Arm in die Höhe.«
»Nun?«
»Ohne Hand. Nichts als ein leerer Ärmel. Gott! dachte ich, welche Verunstaltung! Wahrscheinlich hat er einen künstlichen Arm, den er abgenommen hat. Dann dachte ich: Da steckt doch etwas dahinter. Was zum Teufel hält diesen Ärmel offen und in die Höhe, wenn nichts darin ist? Es war nichts drin, sage ich Ihnen, bis ganz tief hinein, bis zum Schultergelenk nichts. Ich konnte bis zum Ellbogen hineinsehen und ein Lichtschimmer drang durch einen Riss im Stoff. ›Großer Gott!‹ rief ich aus. Da hielt er ein und starrte mit seinen großen Schutzgläsern erst mich, dann seinen Ärmel an.«
»Nun?«
»Weiter nichts. Er sagte kein Wort, blickte nur wild um sich und steckte den Ärmel schnell wieder in die Tasche. ›Ich habe gesagt‹, fuhr er fort, ›dass das Rezept brannte, nicht wahr?‹ Fragendes Husten. ›Wie zum Teufel können Sie einen leeren Ärmel so bewegen?‹ sagte ich. ›Leeren Ärmel?‹ ›Ja‹, erwiderte ich, ›einen leeren Ärmel.‹
›Es ist also ein leerer Ärmel. Sie sahen den leeren Ärmel?‹ Er erhob sich schnell und auch ich stand auf. Mit drei sehr langsamen Schritten kam er auf mich zu, bis er unmittelbar neben mir stand. Nieste gewaltig. Ich wankte nicht, obgleich ich mich hängen lassen will, wenn dieser verbundene Kopf und die Glotzaugen nicht jeden gruseln machen, auf den sie so langsam zukommen.
›Ein leerer Ärmel, sagten Sie‹, wiederholte er. ›Gewiss‹, entgegnete ich. Es ist wirklich schwer, seinen Mann zu stellen, wenn man stillschweigend angestarrt wird von einem Menschen mit verhülltem Gesicht und funkelnden Augengläsern. Er zog den Ärmel sehr langsam aus der Tasche heraus und erhob ihn dann gegen mich, als ob er ihn mir nochmals zeigen wollte. Das tat er sehr, sehr langsam. Ich blickte ihn an – eine Ewigkeit schien es mir. ›Nun?‹ sagte ich mit unsicherer Stimme; ›der Ärmel ist leer?‹
Ich musste etwas sagen, denn ich begann mich zu fürchten. Ich konnte tief hineinsehen. Er streckte ihn gerade gegen mich aus, langsam, ganz langsam – ungefähr so – bis der Ärmelaufschlag nur noch sechs Zoll von meinem Gesicht entfernt war. Unheimliches Gefühl, einen leeren Ärmel so auf sich zukommen zu sehen! Und dann – –«
»Nun, dann?«
»Etwas – es fühlte sich genau so an, wie ein Finger und ein Daumen – packte meine Nase.«
Bunting lachte hell auf.
»Und es war doch nichts da«, fuhr Cuss fort, und seine Stimme klang immer schriller. »Sie haben gut lachen, aber ich sage Ihnen, ich war so erschrocken, dass ich ihm einen Schlag auf den Ärmel gab, mich umdrehte und aus dem Zimmer lief – – Ich verließ ihn – –«
Cuss brach ab. Dass seine Aufregung echt war, war nicht zu bezweifeln. Hilflos drehte er sich nach allen Seiten und nahm ein zweites Glas von dem sehr mittelmäßigen Sherry des guten Geistlichen. »Ich sage Ihnen«, fuhr er fort, »als ich auf seinen Ärmel schlug, hatte ich das Gefühl, einen Arm getroffen zu haben.
Und doch war kein Arm da! Nicht der Schatten eines Armes!«
Mr. Bunting dachte nach. Argwöhnisch blickte er Cuss an. »Es ist eine sehr sonderbare Geschichte«, bemerkte er und sah sehr weise und ernsthaft dabei aus. »Wirklich«, wiederholte er dann mit großem Nachdruck, »eine höchst sonderbare Geschichte.«