Und nun kommt das Seltsamste in meiner Geschichte, und doch ist es eigentlich gar nicht so seltsam. Klar und kühl und lebhaft erinnere ich mich an alles, was ich an jenem Tag tat, bis zu jener Zeit, da ich auf der Spitze von Primrose Hill stand.
Von den nächsten drei Tagen weiß ich nichts. Seither erfuhr ich, dass nicht ich der erste Entdecker des Zusammenbruchs der Marsleute war, sondern dass einige gleich mir in der Irre wandernde Überlebende in der vorigen Nacht ihn entdeckt hatten. Ein Mann — der erste — war nach St. Martins-le-Grand gegangen; und während ich in der Kutscherherberge Zuflucht gefunden hatte, war es ihm geglückt, nach Paris zu telegrafieren. Und von dort zuckte die freudige Botschaft über den ganzen Erdkreis; tausende von Städten, die von grauenvollen Vorstellungen erschüttert waren, gaben sich nun der wildesten Begeisterung hin; man wusste es schon in Dublin, Edinburgh, Manchester und Birmingham, zu jener Zeit, da ich noch zweifelnd am Rande der Grube stand. Schon rüsteten die Menschen, vor Freude weinend und jubelnd — die, wie ich hörte, ihre Arbeit unterbrachen, nur um sich die Hände zu schütteln und zu jubeln, Eisenbahnzüge aus — sogar schon in Crewe, um nach London zu kommen. Die Kirchenglocken, die vierzehn Tage lang verstummt waren, fingen die Nachricht auf, und ganz England war ein Glockengeläute. Heruntergekommene Männer mit eingefallenen Zügen sausten auf Rädern alle Wege entlang, um die unverhoffte Erlösungsbotschaft den hageren, wild dreinstarrenden Geschöpfen der Verzweiflung zuzurufen. Und die Lebensmittel! Über den Kanal, über die Irische See, über den Atlantischen Ozean brachte man Getreide, Brot und Fleisch, um unserer Not zu helfen. In jenen Tagen schien es, als steuerten die Schiffe der ganzen Welt London zu. Aber von alldem wusste ich nichts. Ich irrte umher — ein seines Verstandes beraubter Mann. In dem Haus gütiger Menschen, die mich aufgegriffen hatten, als ich weinend und rasend in den Gassen von St. Johns-Wood umherstreifte, kam ich wieder zu mir. Sie erzählten mir, dass ich unaufhörlich einen sinnlosen Gassenhauer sang, so ähnlich wie »Der letzte, der am Leben blieb, hurra! Der letzte, der am Leben blieb!« So sehr sie auch von ihren eigenen Angelegenheiten bekümmert waren, belasteten diese Menschen, deren Namen ich nicht nennen darf, so gerne ich ihnen auch meine Dankbarkeit zeigen möchte, sich dennoch auch mit mir, gaben mir Obdach, und beschützten mich vor mir selbst. Offenbar hatten sie während der Tage meines Irreseins manches von meinen Erlebnissen erfahren.
Als meine Vernunft wieder zurückgekehrt war, brachten sie mir sehr zart das Wenige bei, was sie vom Schicksal Leatherheads in Erfahrung gebracht hatten. Zwei Tage nach meiner Einkerkerung in Sheen war das Dorf, mit jeder lebenden Seele darin, von einem Marsmann zerstört worden. Er hatte es dem Erdboden gleichgemacht, ohne jeden Grund. Wie es schien, ganz so, wie etwa ein Knabe aus bloßer Lust, seine Macht fühlen zu lassen, einen Ameisenhaufen zerstampft.
Ich war ein einsamer Mann, und jene waren sehr gütig gegen mich. Ich war einsam und traurig, und doch duldeten mich jene bei sich. Nach meiner Erholung blieb ich noch vier Tage bei ihnen. Während dieser ganzen Zeit fühlte ich eine unbestimmte wachsende Sehnsucht, noch ein Mal, ein letztes Mal, einen Blick zu tun auf das Wenige, was von dem kleinen Leben übrig geblieben war, das so glücklich und hell in meiner Vergangenheit geleuchtet hatte Es war nur ein hoffnungsloses Sehnen, noch einmal in meinem Jammer zu schwelgen. Meine Wirtsleute rieten mir ab. Sie taten alles, was sie konnten, um mich von diesem krankhaften Verlangen abzubringen. Aber endlich konnte ich dieser Eingebung nicht länger widerstehen; ich gab ihnen das feste Versprechen, zu ihnen zurückzukehren, und verabschiedete mich, wie ich bekennen muss, mit Tränen von diesen Menschen, die in vier Tagen mir zu Freunden geworden waren, dann ging ich wieder in die Straßen hinaus, die jüngst noch so düster und seltsam und öde gewesen waren.
Schon aber waren sie wieder erfüllt von zurückkehrenden Menschen; hie und da waren schon wieder Geschäfte offen, und ein Springbrunnen spendete wieder frisches Wasser.
Ich erinnere mich noch des fast höhnend schönen Tages, an dem ich meine traurige Pilgerfahrt nach dem kleinen Haus in Woking antrat, wie geschäftig die Straßen waren, wie frisch sich das Leben wieder rings um mich regte. Es war eine solche Unzahl von Menschen, die sich in tausend Beschäftigungen in den Straßen ergingen, dass es fast unglaublich schien, dass ein nennenswerter Bruchteil der Bevölkerung getötet worden sein konnte. Aber dann bemerkte ich, wie gelb die Haut der Leute war, denen ich begegnete, wie zerrauft ihr Haar war, wie fieberhaft glänzend ihre Augen; jeder zweite Mensch trug noch seine beschmutzten Lappen. Alle Gesichter schienen nur zwei Mienen auszudrücken — entweder überschäumenden Jubel und feste Tat- kraft, oder grimmige Entschlossenheit. Von diesem Ausdruck der Gesichter abgesehen, schien London eine Stadt von Landstreichern zu sein. Die Bezirksämter verteilten wahllos das Brot, das die französische Regierung gesendet hatte. Den wenigen Pferden, die man sah, traten die Rippen unheimlich heraus. Abgemagerte Schutzleute mit weißen Abzeichen standen an jeder Straßenecke. Von dem Schaden, den die Marsleute gestiftet hatten, sah ich nur wenig, bis ich zur Wellingtonstraße kam; dort erblickte ich wieder das rote Gewächs, das sich an die Strebebogen der Waterloobrücke anklammerte.
An der Ecke der Brücke fiel mir auch ein Bild in die Augen, dass in jener an krausen Gegensätzen überreichen Zeit zu den Alltäglichkeiten gehörte. Gegen ein Dickicht des roten Gewächses flatterte ein Blatt Papier, das ein Stab, der es durchlöcherte, festhielt. Es war der Anzeigebogen der ersten Zeitung, die ihren Betrieb wieder aufgenommen hatte, der »Daily Mail«. Für einen geschwärzten Shilling, den ich in meiner Tasche fand, kaufte ich mir ein Blatt. Der größte Teil des Papiers war leer; aber der einsame Verfasser, der es veröffentlichte, hatte sich damit vergnügt, das stereotype Schema eines »Kleinen Anzeigers« auf die Rückseite zu drucken. Der eigentliche Inhalt erschöpfte sich in Empfindungen; der Nachrichtendienst hatte noch nicht seinen Weg zurückgefunden. Ich erfuhr nichts Neues, außer dass schon binnen einer Woche die Prüfung der Werkzeuge der Marsleute zu erstaunlichen Ergebnissen geführt hatte. Unter anderem versicherte die Zeitung, was ich damals noch nicht glaubte, dass das Fluggeheimnis entdeckt worden sei. Im Bahnhof Waterloo fand ich schon die Gratiszüge bereit, welche die Leute in ihre Heimatsorte befördern sollten. Der erste Ansturm war schon vorüber. Es waren nur wenige Leute im Zug, und ich war nicht in der Stimmung, gelegentliche Gespräche anzuknüpfen. Ich erhielt eine Wagenabteilung für mich allein und saß mit verschränkten Armen da und blickte trüb auf die vom Sonnenlicht erhellten Bilder der Verwüstung, die an den Fenstern vorbeijagten. Gerade außerhalb des Bahnhofes polterte der Zug über provisorisch gelegte Schienen, und auf jeder Seite des Bahndammes lagen die Häuser in rauchgeschwärzten Trümmern. Bis zum Knotenpunkt von Clapham war das Antlitz Londons vom schwarzen Rauch verdunkelt, trotz zweier Tage heftigen Gewitterregens; und in Clapham war die Bahn wieder zerstört. Ich sah hunderte von arbeitslosen Schreibern und Ladenburschen, die Seite an Seite mit den gewöhnlichen Arbeitern sich mit der Ausbesserung der beschädigten Stellen beschäftigten; wir polterten lange Zeit auf hastig angelegten Dämmen.
Die ganze Bahnlinie entlang bot das Land einen trostlosen, fremdartigen Anblick. Besonders Wimbledon hatte schwer gelitten. Dank dem Widerstand seiner Fichtenwälder schien von allen Ortschaften an der Bahn Walton am Wenigsten von der Verwüstung getroffen worden zu sein. Der Wandle,1 der Mole, jeder kleine Bach war nichts als eine aufgetürmte Menge roten Gewächses, dessen Farbe die Mitte hielt zwischen frisch geschlachtetem Fleisch und Rotkraut. Die Nadelwälder von Surrey aber waren zu trocken für die Gehänge des roten Schlinggewächses. Hinter Wimbledon sah man mitten in einem Blumengarten die großen Erdhaufen, die der sechste Zylinder aufgeworfen hatte. Eine Anzahl von Leuten standen um die Grube herum, und einige Pioniere waren in voller Tätigkeit. Dicht dabei hatte man die britische Fahne aufgepflanzt, die lustig im Morgenwind hin- und herflatterte. Die Handelsgärten waren rot gefärbt vom roten Gewächs, eine weitgedehnte Fläche schreienden Rotes, von purpurnen Schatten unterbrochen; diese Farbenmischungen taten den Augen geradezu weh. Meine Blicke wandten sich mit unendlicher Erleichterung von dem versengten Grau und dem düsteren Rot des Vordergrundes nach dem sanften Blau-Grün der östlichen Hügel zu.
Der Fahrdamm der gegen London zu gerichteten Seite von Woking Station war noch nicht völlig hergestellt; so musste ich in Byfleet aussteigen. Ich schlug den Weg nach Maybury ein, an der Stelle vorbei, an der ich und der Artillerist mit den Husaren gesprochen hatten, und weiter zu den Weg, auf dem ich mitten im Gewitter dem Marsmann begegnet war. Von Neugierde bewegt, ging ich zur Seite und fand in einem Gewirr roten Geästes einen verbogenen und zerbrochenen Wagen und die weißen zernagten Knochen des Pferdes, die verstreut umherlagen. Eine Zeit lang blieb ich stehen, in den Anblick dieser Spuren versunken.
Dann kehrte ich, oft halstief im roten Gewächs watend, durch den Fichtenwald zurück, und sah, dass dem Wirt vom »Gefleckten Hund« schon ein Begräbnis zuteilgeworden war. Und so kam ich am »Collegiums-Wappen« vorbei zu meinem Haus. Ein Mann, der an der offenen Tür seines Häuschens stand, grüßte mich mit Namen, als ich vorüberging.
Ich sah auf mein Haus, von einem jähen Hoffnungsstrahl durchzuckt, der sofort wieder schwand. Das Tor war aufgesprengt worden; es war nur angelehnt und ging langsam auf, als ich näher kam.
Das Tor fiel wieder zu. Die Vorhänge des Arbeitszimmers flatterten durch das offene Fenster, von dem ich und der Artillerist den Anbruch des Tages erwartet hatten. Niemand hatte seither das Fenster geschlossen. Das zertretene Gebüsch war noch genau so, wie ich es vor fast vier Wochen verlassen hatte. Ich stolperte in den Flur und die Leere des Hauses bedrückte mich. Der Treppenläufer war überall verschoben und verfärbt, wo ich in jener Nacht des Schreckens, bis auf die Haut durchnässt, vor dem Gewitter flüchtend, gekauert hatte. Ich verfolgte die lehmigen Fußtritte die ganze Stiege hinauf.
Ich folgte ihnen bis zu meinem Arbeitszimmer und fand auf meinem Schreibtisch, von dem Briefbeschwerer aus Marienglas2 niedergehalten, noch einen Bogen der Arbeit, die ich an dem Nachmittag, da die Öffnung des ersten Zylinders vor sich gegangen war, liegengelassen hatte.
Eine Zeit lang stand ich da und las in dieser im Stich gelassenen Arbeit. Sie bestand in einer Abhandlung über die wahrscheinliche Übereinstimmung der Entwicklung sittlicher Vorstellungen mit der Entwicklung der Zivilisation; der letzte Satz war der Anfang einer Prophezeiung: »In zweihundert Jahren etwa«, hatte ich geschrieben, »dürfen wir erwarten …« Der Satz brach plötzlich ab. Ich erinnerte mich meiner Unfähigkeit, an jenem Morgen, seit dem kaum ein Monat verstrichen war, meine Gedanken zusammenzuhalten; erinnerte mich, wie ich plötzlich abgebrochen hatte, um mir meinen »Daily Chronicle« von dem Zeitungsjungen zu holen. Ich erinnerte mich, wie ich zur Gartentür hinabging, als der Junge herankam, und wie ich seinen sonderbaren Bericht von den »Männern vom Mars« anhörte.
Ich ging wieder hinab und trat ins Speisezimmer. Dort lagen der Hammelbraten und das Brot, beides nun längst verdorben, und eine umgeworfene Bierflasche, gerade so, wie ich und der Artillerist das alles verlassen hatten. Mein Heim war verödet. Ich begriff nun, wie unsinnig die leise Hoffnung war, die ich so lange gehegt hatte. Und jetzt geschah etwas Seltsames. »Es ist umsonst«, hörte ich eine Stimme sagen. »Das Haus ist verlassen. In den letzten zehn Tagen ist niemand hier gewesen. Du sollst nicht länger hier bleiben und Dich quälen. Niemand ist entkommen als Du.«
Ich fuhr zurück. Hatte ich meine Gedanken laut gesprochen? Ich kehrte mich um und sah, dass die Glastür offenstand. Ich trat einen Schritt vor und blickte hinaus.
Und da standen, erstaunt und erschreckt, so wie ich erstaunt und erschreckt dastand, mein Vetter und meine Frau — meine Frau, bleich und tränenlos. Sie stieß einen schwachen Schrei aus.
»Ich kam«, sagte sie. »Ich wusste es — ich wusste –«
Sie griff mit der Hand nach ihrem Hals und schwankte. Ich trat einen Schritt vor und fing sie in meinen Armen auf.
1 Nebenfluss der Themse im Stadtgebiet von London <<<
2 sehr klares Mineral, das bereits im Alten Rom als Glasersatz genutzt wurde <<<
Nun, da ich meinen Bericht abschließe, kann ich es nur bedauern, dass ich so wenig befähigt bin, zur Erörterung so vieler strittiger Fragen, die heute noch ungelöst sind, beizutragen. In einer Beziehung werde ich ohne Zweifel Widerspruch hervorrufen. Mein eigentliches Wissensgebiet ist spekulative Philosophie. Meine Kenntnisse in vergleichender Physiologie beschränken sich nur auf ein paar Bücher; aber ich glaube, dass die Vermutungen Carvers in Bezug auf die Ursache des jähen Todes der Marsleute so wahrscheinlich sind, dass sie beinahe den Wert erwiesener Schlussfolgerungen besitzen. Ich habe von ihnen bereits im Lauf meines Berichtes gesprochen.
Das eine wenigstens steht fest, dass in keinem einzigen Körper der Marsleute, die nach dem Krieg untersucht wurden, andere Bakterien gefunden wurden, als diejenigen, deren irdische Herkunft zweifellos war. Die Tatsache, dass sie nicht einen ihrer Toten beerdigten, und die rücksichtslosen Schlächtereien, die sie veranstalteten, deuten gleichfalls darauf hin, dass der Vorgang der Fäulnis ihnen vollständig unbekannt war. Aber so wahrscheinlich sie sind, erwiesene Tatsachen sind diese Annahmen noch nicht.
Ebenso wenig ist die Zusammensetzung des schwarzen Rauches bekannt, dessen sich die Marsleute mit so furchtbarer Wirkung bedienten, und der Erzeuger des Hitzestrahls bleibt ein Rätsel. Die entsetzlichen Unglücksfälle in den Laboratorien von Ealing und South Kensington haben die Chemiker vor genaueren Untersuchungen des Hitzestrahls abgeschreckt. Die Spektralanalyse des schwarzen Pulvers deutet unverkennbar auf das Vorhandensein eines unbekannten Elements mit einer leuchtenden Gruppe dreier Linien in Grün hin; und es ist möglich, dass es sich mit Argon verbindet, um ein Gemenge zu bilden, das auf irgendeinen Bestandteil des Blutes eine unbedingt tödliche Wirkung ausübt. Aber diese unbewiesenen Mutmaßungen werden für den großen Leserkreis, an den dieser Bericht sich wendet, kaum von Interesse sein. Keine jener braunen Schlammmengen, die nach der Zerstörung Sheppertons die Themse hinabtrieben, wurden damals untersucht; und heute werden sie nicht mehr gefunden.
Die Ergebnisse einer anatomischen Prüfung der Marsleute, soweit die herumstreichenden Hunde eine solche Prüfung möglich machten, habe ich bereits mitgeteilt. Aber jedermann ist mit dem wunderbaren und fast unversehrten Exemplar vertraut, welches das naturhistorische Museum in Spiritus aufbewahrt hat, und mit den zahllosen Zeichnungen, die nach ihm angefertigt worden sind. Darüber hinaus aber gehört das Interesse an der Physiologie und dem Körperbau der Marsleute auf ein rein wissenschaftliches Gebiet.
Eine Frage von ernsterem und allgemeinerem Interesse aber ist die Möglichkeit eines zweiten Angriffs der Marsleute. Ich glaube nicht, dass dieser Seite der Frage nur halbwegs genügende Beachtung geschenkt wird. Gegenwärtig befindet sich der Planet Mars in der Konjunktion; aber mit jeder Rückkehr in die Opposition sehe ich für meinen Teil eine Wiederholung des Abenteuers voraus. Auf alle Fälle sollten wir vorbereitet sein. Es scheint mir doch sehr leicht möglich, die Lage des Geschützes, aus dem die Geschosse abgefeuert wurden, genau zu bestimmen, und eine ständige Bewachung dieses Teils des Planeten einzurichten und so die Möglichkeit eines zweiten Angriffs ins Auge zu fassen.
In diesem Fall könnte der Zylinder durch Dynamit oder mittels Artillerie zerstört werden, ehe er genügend abgekühlt wäre, um den Marsleuten das Verlassen des Zylinders zu ermöglichen; oder sie könnten mittels Geschützen sofort niedergemacht werden, sobald die Schraube zu Boden fiele. In meinen Augen haben die Marsleute dadurch, dass ihre erste Unternehmung fehlschlug, einen ungeheuren Vorteil eingebüßt. Vielleicht sehen sie es in demselben Lichte.
Lessing hat einige ausgezeichnete Gründe für die Annahme vorgebracht, dass es den Marsleuten tatsächlich gelungen sei, auf dem Planeten Venus eine Landung zu bewerkstelligen. Es sind jetzt sieben Monate her, dass Venus und Mars in einer Linie mit der Sonne sich befanden. Das will sagen: vom Standpunkt eines Beobachters auf der Venus befand sich der Mars in Opposition. In der Folge tauchte ein sonderbares leuchtendes und wellenförmiges Zeichen auf der unbeschienenen Hälfte des mittleren Planeten auf, und fast gleichzeitig wurde ein schwaches, dunkles Zeichen einer ähnlichen wellenförmigen Art auf einem Lichtbild der Marsscheibe wahrgenommen. Man muss die Zeichnungen dieser Erscheinungen sehen, um die bemerkenswerte Ähnlichkeit in der Beschaffenheit beider völlig zu würdigen.
Auf alle Fälle aber, ob wir nun einen zweiten Einfall erwarten können oder nicht, mussten unsere Begriffe von der Zukunft der Menschheit durch diese Ereignisse eine gewaltige Änderung erfahren. Wir sehen heute ein, dass wir unsern Stern durchaus nicht als einen gewissermaßen eingezäunten und sicheren Wohnort für die Menschheit betrachten können; wir können das ungesehene Heil oder Unheil, das unvermutet aus dem Weltenraum auf uns hereinbrechen kann, nie vorhersehen. Es mag sein, dass nach den gewaltigeren Plänen des Weltalls dieser Einfall vom Mars nicht ohne einen schließlichen Segen für die Menschheit stattgefunden hat. Er hat uns jener heiteren Vertrauensseligkeit in die Zukunft, welche die furchtbarste Quelle des Verfalles ist, beraubt; die Bereicherungen, die er der menschlichen Wissenschaft gebracht hat, sind unermesslich; und er hat viel dazu beigetragen, das Gefühl des Gemeinwohles der Menschheit zu befördern. Es mag sein, dass die Marsbewohner über die Unendlichkeit des Weltraumes hinüber das Schicksal ihrer ersten Boten beobachtet und sich daran eine Lehre genommen hatten, und dass ihnen der Planet Venus als eine sicherere Ansiedlung erschienen ist. Doch wie es auch immer sei, das eine steht fest, dass auf viele Jahre hinaus in dem Eifer, mit dem die Marsscheibe beobachtet wird, keine Erschlaffung eintreten wird. Und jene feurigen Geschosse des Himmels, die Sternschnuppen, werden in ihrem Niedergang für alle Erdenkinder stets und unausbleibliche ernste Mahnzeichen bedeuten.
Die Erweiterung des menschlichen Gesichtskreises, welche der Marseinfall zur Folge gehabt hat, kann kaum überschätzt werden. Ehe die Zylinder niederfielen, herrschte allgemein die Überzeugung, dass es in den ungeheuren Tiefen des Weltraumes außerhalb der winzigen Oberfläche unseres kleinen Sternes kein Leben gebe. Heute aber sehen wir weiter. Wenn die Marsleute aus die Venus gelangen können, so ist jeder Grund für die Annahme, dass das den Menschen unmöglich sei, hinfällig. Und wenn die langsame Abkühlung der Sonne unsere Erde unbewohnbar gemacht haben wird, wie es schließlich nicht ausbleiben wird, dann mag es kommen, dass der Faden des Lebens, der hier seinen Ausgang nahm, sich ausdehnen und unseren Schwesterplaneten in sein Netz ziehen wird. Würden wir siegen? Schattenhaft und wunderbar ist das Traumgesicht, dass ich im Geist heraufbeschworen habe: wie das Leben sich allmählich über unser kleines Samenbeet des Sonnensystems hinausdehnen wird, hinaus in die unbelebte Unermesslichkeit des gestirnten Raumes. Aber das ist ein ferner Traum. Und, wer kann wissen, ob die Vernichtung der Marsleute nicht nur einen kurzen Aufschub unseres endlichen Untergangs bedeutet? Vielleicht gehört ihnen, und nicht uns die Zukunft.
Ich muss gestehen, dass die Aufregung und die Not der Zeit in meiner Seele ein bleibendes Gefühl des Zweifels und der Unsicherheit zurückgelassen haben. Ich sitze in meinem Arbeitszimmer, und schreibe beim Schein der Lampe. Und plötzlich sehe ich das wieder auflebende Tal, unten wieder von züngelnden Flammen erfüllt, und fühle das Haus hinter mir, und um mich leer und verödet. Ich gehe hinaus auf die Byfleet Road, Fahrzeuge eilen an mir vorüber, ein Fleischerjunge in seinem Karren, ein Wagen voll Besucher, ein Arbeiter auf seinem Zweirad, Kinder, die zur Schule gehen – und plötzlich wird alles verschwommen und unwirklich, und wieder keuche ich mit dem Artilleristen durch die heiße, brütende Stille. Und nachts sehe ich das schwarze Pulver, wie es die schweigenden Straßen verdunkelt, und sehe die verzerrten Leichen im Staube liegen; sie steigen vor mir auf, zerlumpt und von Hunden zerfleischt. Sie lallen und drohen mir, werden blässer, abscheulicher, endlich wahnwitzige Spottgeburten menschlicher Gebilde — und ich erwache, in kaltem Schweiß gebadet, und elend, in der Dunkelheit der Nacht.
Ich gehe nach London und sehe die geschäftigen Volksmengen in der Fleetstreet und am Strand, und nun lastet es mir auf der Seele, dass sie alle nur Gespenster der Vergangenheit seien, die in den Straßen spuken, die ich schweigend und jammervoll gesehen habe. Dass sie hin- und hergehen, Scheingebilde einer toten Stadt, in einem künstlich belebten Körper, ein Hohn auf das Leben. Und seltsam ist es, auf Primrose Hill zu stehen, wie ich es erst gestern tat, diese riesige Menge von Häusern trüb und blau durch den Schleier von Rauch und Nebel zu erblicken, der endlich in weite Fernen verschwindet; alle die Leute zu sehen, die zwischen den Blumenbeeten des Hügels auf- und niederwandeln; die Menschen zu sehen, die gekommen sind, sich die Marsmaschine anzuschauen, die noch immer hier steht; den Lärm der spielenden Kinder zu hören — und dann sich die Zeit wieder ins Gedächtnis zu rufen, da ich das alles hell und scharfgeschnitten, grausam und still in der Dämmerung jenes letzten, großen Tages gesehen habe.
Und seltsamer als das alles, ist es mir, wieder die Hand meines Weibes zu halten und zu denken, dass ich sie, und sie mich, schon zu den Toten gerechnet habe.
ENDE