Die Europäer

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© 2017 Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH

Schweinfurthstraße 60, 14195 Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

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PERSONEN

wie Henry James sie sah.

Eugenia, Baronin Münster

war nicht hübsch, aber selbst wenn ihr Gesicht plötzliches Befremden zeigte, wirkte es interessant und angenehm. Sie war nicht mehr ganz jung, dabei schlank mit wohlgeformten Rundungen, trug sie ihre dreiunddreißig Jahre zugleich mit Reife und Geschmeidigkeit. Ihr Teint war, wie man in Frankreich sagt, müde, ihr Mund groß, ihre Lippen voll, ihre Zähne uneben. Wenn sie lächelte – und sie lächelte beinahe ständig – hoben sich zwei Falten bis zu den Augen. Diese Augen waren bezaubernd, leuchtend und intelligent. Ihr volles, dunkles Haar trug sie auf eine Weise, die ihr das Aussehen einer Frau aus Südost- oder Osteuropa gab. Diese orientalische und exotische Anmutung wurde durch Ohrringe verstärkt, von denen Eugenia eine bemerkenswert große Kollektion besaß.

Felix Young

verfügte ebenfalls über ein strahlendes Lächeln. Er war achtundzwanzig Jahre alt, hatte eine gute Figur, schlank, zart, schöne Haare, ein klares Gesicht, vergnügten Blick aus warmen blauen Augen mit einem zugleich weltgewandten und selten ernsten Ausdruck. Auf seiner Oberlippe kräuselte sich ein Schnurrbart. Felix wirkte abgeklärt und vertrauenerweckend.

Mr. William Wentworth

war ein hochgewachsener Mann. Er wirkte streng und ernst aber nicht hartherzig. Sein Auftreten hatte stets etwas Feierliches mit dem Ausdruck großer Gewissenhaftigkeit. Sein Gesicht war edel geschnitten. Seine ungewöhnliche Blässe gab Wentworth etwas Kränkliches.

Gertrude Wentworth

eine seiner Töchter, war groß, nicht ganz so blass wie ihr Vater, zwei- oder dreiundzwanzig Jahre alt. Mal schien sie etwas linkisch, mal bewegte sie sich mit großer Anmut. Ihr blondes Haar trug sie vollkommen glatt. Ihre Augen blickten ruhelos und entsprachen nicht der Vorstellung sogenannter schöner Augen. Sie wirkten auf Anhieb etwas matt; wenn Gertrude aber lächelte, leuchteten sie unerwartet frisch und eindringlich auf.

Charlotte Wentworth

war älter als ihre Schwester Gertrude, etwas kleiner, ebenfalls blass und dünn. Ihr dunkles Haar fiel weicher, der Ausdruck ihrer Augen war weniger ruhelos, ihr Blick aufmerksam und lebendig.

Clifford Wentworth

William Wentworths Sohn, jünger als seine Schwestern, war ein schmaler, schüchterner junger Mann mit fein geschnittenen Zügen, die denen seines Vaters ähnelten. Er lachte gern und hatte die Angewohnheit, sein Gewicht ständig von einem auf den anderen Fuß zu verlagern.

Robert Acton

William Wentworths Neffe, Ende dreißig, war ein Mann von geringer Körpergröße mit aufmerksamen, angenehmen dunklen Augen. Sein Haarwuchs war dünn, er trug einen kleinen Schnurrbart. Er war in China vermögend geworden, verfügte über einen natürlichen Scharfsinn und war bestrebt, die Dinge von ihrer humorvollen Seite zu nehmen.

Lizzi Acton

Roberts Schwester, hatte liebenswerte, ausdrucksvoll strahlend blaue Augen, dunkelbraunes, lockiges Haar; sie war ein auffallend hübsches junges Mädchen mit unübersehbarem Selbstbewusstsein.

Mr. Brand

Pfarrer, mochte Mitte dreißig sein, seine Stirn war sehr breit und glatt, das Haar voll aber recht glanzlos. Seine Nase war zu groß, Mund und Augen zu klein. Dennoch war er ein ansehnlicher, hochgewachsener Mann, der unwiderstehlich sanft und tugendhaft auf seine Mitmenschen blickte.

Zur Bühnenfassung:

Kein Bühnenbild. Die Ortswechsel werden mit wenigen Stühlen, einer Bank, einem Sessel, einem Sofa, ein oder zwei Tischen, einem Frisiertisch mit Spiegel, einer Staffelei, einem Weidengatter und Lichtwechseln deutlich gemacht.

Die Szenen folgen möglichst übergangslos aufeinander.

Die fettgedruckten verbindenden Romanpassagen zwischen den Szenen sind für eine männliche OFF- Stimme gedacht. Sie sollen während kleiner Pausen für den Umbau von Möbeln und die Ortswechsel bei eingezogenem Licht den Szenenfluss aufrecht erhalten.

Sie sind dem Original entsprechend im Präteritum wiedergegeben, können aber auch ins Präsens gesetzt werden.

Die Kostüme entsprechen der Mode der Zeit um 1850, in der Henry James die Geschichte ansiedelt, das heißt für Eugenia und Felix deutsches Biedermeier, für alle anderen die um diese Zeit im puritanischen Amerika der Ostküste übliche Kleidung.

Es war ein trüber Tag im Mai. Eine Dame stand am Fenster des besten Hotels der alten Stadt Boston. An einem Tisch saß ein junger Mann, eifrig mit Zeichnen beschäftigt. Schließlich wandte sich die Dame vom Fenster ab und legte die Hände über ihr Gesicht.

Hotelzimmer in Boston

EUGENIA Es ist einfach grauenhaft! Ich sollte zurückfahren. Ich fahre zurück!

Sie setzt sich mit einer theatralischen Bewegung.

FELIX Überstürze es nicht, Liebes.

EUGENIA Sogar das Kaminfeuer. Hast du je etwas so Scheußliches gesehen? Hast du je etwas so - affreux - gesehen wie das alles hier?

FELIX Ich finde das Feuer hübsch. Diese kleinen blauen Flammen über der Glut sind ausgesprochen malerisch. Wie in einem Alchimistenlabor.

EUGENIA Du bist zu bescheiden, zu gutartig, mein Lieber.

FELIX Gutartig, ja. Zu gutartig – nein.

EUGENIA Du machst mich nervös.

FELIX Du meinst, du bist nervös.

EUGENIA Im Grunde: Ja. Heute ist der dunkelste Tag meines Lebens – und du weißt, was das bedeutet.

FELIX Gedulde dich bis morgen.

EUGENIA Wir haben einen großen Fehler gemacht. Und wenn es heute einer ist, wird es morgen nicht anders sein. Ce sera clair au moins.

FELIX So etwas wie Fehler gibt es nicht.

EUGENIA Sehr richtig. Für Menschen die nicht klug genug sind, sie zu erkennen. Seine eigenen Fehler nicht zu sehen, wäre das Himmelreich auf Erden.

FELIX Ich bin also nicht klug. Das höre ich zum ersten Mal von dir.

EUGENIA Ich darf es nicht als Fehler bezeichnen?!

FELIX Das würde beweisen, dass wenigstens du klug bist, liebe Schwester.

EUGENIA Als ich das hier vorgeschlagen habe, war ich es nicht!

FELIX Hast du es denn vorgeschlagen?

EUGENIA Beanspruchst du es etwa als dein Verdienst?

FELIX Als meine Schuld, wenn dich das beruhigt.

EUGENIA nach einer Pause Du unterscheidest nicht zwischen mein und dein. Du hast keinen Sinn für Besitz.

FELIX Wenn du damit meinst, dass ich nichts besitze, hast du Recht.

EUGENIA Mach bitte keine Scherze über deine Armut. Das ist genau so vulgär, wie damit zu prahlen.

FELIX nimmt das Blatt von der Staffelei, betrachtet es. Was heißt Armut! Diese Zeichnung wird mir fünfzig Dollar einbringen.

EUGENIA steht auf, geht zu Felix. Lass sehen. Felix gibt ihr das Blatt. Während sie es betrachtet Wenn eine Frau dich fragen würde, ob du sie heiraten willst, würdest du sagen: Aber selbstverständlich, meine Liebe. Und nach drei Monaten würdest du sagen, erinnerst du dich noch an den glückseligen Augenblick, als ich dich bat, die Meine zu werden?

FELIX Das wäre die Beschreibung eines glücklichen Naturells.

EUGENIA Ein glückliches Naturell. Das hast du tatsächlich. Und ich betrachte es als unser Kapital. Wenn ich nicht davon überzeugt wäre, hätte ich dich nie in dieses trübe Land gelockt.

FELIX Dieses komische Land, dieses reizende Land.

EUGENIA Weil Frauen in Pferdebusse klettern, - was ist daran reizend?

FELIX Vielleicht sitzt ein gutaussehender Mann drin.

EUGENIA In jedem? Die Dinger fahren zu Hunderten. Und die Männer hier sehen keineswegs gut aus. Die Frauen auch nicht. Seit meiner Zeit im Kloster habe ich noch nie so viele auf einmal gesehen.

FELIX Die Frauen sind hübsch. Überhaupt ist alles sehr unterhaltsam.

Er legt ein neues Blatt auf die Staffelei. Ich muss es festhalten.

EUGENIA Vergiss den Schnee nicht. Bonté divine! Schnee im Mai! Was für ein Klima!

FELIX Ich werde das Blatt weiß lassen und kleine schwarze Gestalten hineinsetzen.

EUGENIA setzt sich wieder Ich kann mich nicht erinnern, dass Mama so etwas Unerfreuliches je erwähnt hätte.

FELIX Mama hat nie etwas Unerfreuliches erwähnt. Und du wirst sehen: Morgen haben wir einen strahlenden Tag.

 

EUGENIA Qu’en savez vous? Morgen bin ich nicht mehr hier.

FELIX Sondern wo?

EUGENIA Irgendwo, nur weg von hier. Zurück nach Silberstadt. Ich werde dem Fürsten schreiben.

FELIX Meine liebe Eugenia, zurück auf See - warst du da so glücklich? Er reicht ihr eine Zeichnung, die er von einem Beistelltisch nimmt. Sieh sie dir noch mal genau an diese bedauernswerten, lächerlichen Gestalten, wie sie sich im Sturm an die Reling klammern.

EUGENIA hält die Zeichnung in der Hand Wie kannst du etwas so Abscheuliches auch noch zeichnen. Das gehört verbrannt. Sie wirft das Blatt auf den Boden. Felix beobachtet, wo es hin flattert.

Warum machst du mir keine Vorwürfe, tadelst mich. Warum sagst du nicht, dass du mich hasst, weil ich dich hierher geschleppt habe.

FELIX Weil du es nicht glauben würdest. Ich bete dich an, liebe Schwester. Ich bin sehr gern hier und voller Erwartung.

EUGENIA Ich weiß nicht, was mich da geritten hat. Ich muss den Kopf verloren haben.

FELIX Es ist ein seltsames und interessantes Land. Da wir nun mal hier sind, habe ich beschlossen, dass es mir gefällt.

EUGENIA Gute Laune ist eine feine Sache. Aber du überschätzt sie. Bisher hat sie dir wenig eingebracht.

FELIX Sie macht mich glücklich.

EUGENIA Das ist wohl das Mindeste. Mehr ist es aber auch nicht. Du gehst durchs Leben und dankst deiner guten Laune für die kleinste Wohltat. Deshalb hat sie sich noch nie in Unkosten für dich gestürzt.

FELIX mit übertriebener Emphase Hat sie mir nicht eine wunderbare Schwester geschenkt?!

EUGENIA Ich meine es ernst: Außerdem bin ich die Ältere.

FELIX Also gut: eine ältliche Schwester. Ich habe gehofft, wir hätten die Ernsthaftigkeit in Europa gelassen.

EUGENIA Und ich hoffe, du wirst sie hier finden. Du bist fast dreißig und nur ein unbekannter Bohemien. Mitteloser Korrespondent einer illustrierten Zeitschrift.

FELIX Unbekannt meinetwegen. Aber viel weniger Bohemien als du denkst. Und schon gar nicht mittellos. Ich habe hundert Pfund in der Tasche. Ich habe einen Auftrag für fünfzig Zeichnungen, und ich werde alle unsere Verwandten und deren Verwandte porträtieren. Zu hundert Dollar pro Kopf.

EUGENIA Du hast keinen Ehrgeiz.

FELIX Aber du, liebe Baronin.

EUGENIA Allerdings. Und mein Ehrgeiz hat mich an diesen grässlichen Ort geführt. Sieh dir dieses Zimmer an: Diese unanständige Leere. Nicht mal Vorhänge. Soweit hat er mich gebracht, mein armseliger Ehrgeiz.

Sie verbirgt ihr Gesicht in den Händen. Felix geht zu ihr, zeigt ihr seine Skizze.

FELIX Was hältst du davon? Das ist verdammt gut für einen unbekannten Bohemien, findest du nicht? Schon wieder fünfzig Franken aus dem Ärmel geschüttelt. Hast du je so gut gezeichnete Pferdebahnen gesehen?

EUGENIA Ja, das ist sehr gekonnt. Glaubst du, unsere Verwandten machen das?

FELIX Machen was?

EUGENIA Mit diesen Dingern fahren und dabei so aussehen?

FELIX Kann ich nicht sagen. Wir werden es herausfinden.

EUGENIA Nein. Reiche Leute tun so etwas nicht.

FELIX Bist du sicher, dass sie reich sind?

EUGENIA Herr im Himmel! Du sagst vielleicht Sachen!

FELIX Es wäre natürlich günstiger, wenn sie reich sind.

EUGENIA Glaubst du ich wäre hergekommen, wenn ich das nicht wüsste?

FELIX Es wäre tatsächlich angenehmer.

EUGENIA Das ist das Mindeste was ich von ihnen erwarte. Ich erwarte nicht, dass sie klug sind oder freundlich – jedenfalls am Anfang – oder elegant oder interessant. Aber ich bestehe darauf, dass sie reich sind.

FELIX Ich zähle drauf, dass sie reich sind. Und mächtig, und freundlich und klug und elegant und interessant und überhaupt wunderbar. Tu vas voir. Und kaum hab’ ich es gesagt, hat sich der Himmel in Gold verwandelt. Komm her! Es wird noch ein strahlender Tag.

EUGENIA geht zu ihm Bonté divine! Was für ein Wetter!

FELIX Sieh dir an, wie jetzt plötzlich alles in den schönsten Farben leuchtet!

Die roten Backsteine! Das junge Grün der Bäume! Es ist Frühling!

EUGENIA Ja. Es leuchtet. Zu grell für meinen Geschmack. Es schmerzt in den Augen.

FELIX Man könnte meinen, wir sind nicht nach Westen sondern nach Osten gereist. Wie die Giebel sich vom Himmel abgrenzen – das ist Kairo! Die roten und blauen Firmenschilder überall, - es wirkt ausgesprochen mohammedanisch.

EUGENIA Die jungen Frauen wirken allerdings gar nicht mohammedanisch. Man kann nicht behaupten, dass sie ihre Gesichter verhüllen. Ich habe noch nie etwas so Dreistes gesehen.

FELIX Gott sei Dank verhüllen sie ihre Gesichter nicht. Sie sind außergewöhnlich hübsch.

EUGENIA Manche haben hübsche Gesichter, das muss man zugeben.

FELIX Und ich bin ziemlich sicher: Unsere Cousinen werden auch so hübsch sein.

EUGENIA mit intensivem Blick aus dem Fenster Ich sehe nur junge Mädchen! Wo sind die Frauen? Die Dreißigjährigen?

FELIX murmelt Die Dreiunddreißigjährigen.

EUGENIA Was sagst du?

FELIX Nichts.

EUGENIA Du hast doch eben was gesagt!

FELIX Sieh dir den wunderschönen Sonnenuntergang an.

EUGENIA seufzt Ja, es ist stimmungsvoll. Es fällt schwer, das zu bestreiten.

FELIX Du reist nicht zurück nach Silberstadt, oder?

EUGENIA Jedenfalls noch nicht morgen.

FELIX Und du schreibst dem Fürsten keinen Brief.

EUGENIA Ich werde ihm schreiben, dass er hier völlig unbekannt ist.

FELIX Das wird er nicht glauben. Ich empfehle, ihn nicht zu reizen. Ich werde übrigens morgen unsere Verwandten besuchen.

EUGENIA Warum so eilig?

FELIX Nun ja: Bei all den hübschen Mädchen, die hier rumlaufen. Wenn die Cousinen von derselben Sorte sind, kann man sie nicht früh genug kennenlernen.

EUGENIA Vielleicht sind sie es aber nicht. Wir hätten uns Empfehlungsschreiben besorgen sollen. Auch für andere Leute.

FELIX Andere Leute wären nicht unsere Familie.

EUGENIA Deshalb müssen sie ja nicht schlechter sein.

FELIX Das hast du allerdings nicht gesagt, als du mir vorgeschlagen hast, hier herzukommen: Es ging dir um verwandtschaftliche Bindung. Meine leisen Zweifel hast du mit la voix du sang, mit der Stimme des Bluts weggewischt; die würde alles richten.

EUGENIA Daran erinnerst du dich so genau?

FELIX Sehr lebendig. Und ich war gerührt.

EUGENIA Du bleibst eben immer ein Kind, lieber Bruder.

FELIX Man könnte meinen, Sie seien tausend Jahre alt, Madame.

EUGENIA Bin ich. – Manchmal.

FELIX Dann werde ich unseren Verwandten eine außergewöhnliche Frau beschreiben. Sie werden umgehend herkommen und dir ihre Aufwartung machen.

EUGENIA Auf keinen Fall! Sie dürfen mich hier nicht sehen. Das darfst du nicht zulassen. Dies hier darf nicht ihr erster Eindruck von mir sein! Du wirst sie also besuchen, beobachten und berichten. Du kommst zurück und erzählst, wie sie sind; ihre Anzahl, ihr Geschlecht, ihr jeweiliges Alter – alles was du über sie in Erfahrung bringen kannst. Sieh zu, dass du alles gezeigt bekommst. Und dann musst du es mir beschreiben: Die Örtlichkeiten, die Umgebung – wie soll ich es ausdrücken – die ganze Szenerie. Dann werde ich sie besuchen; wenn es mir passt, zum Zeitpunkt und unter Umständen, die ich bestimme. Ich werde mich vorstellen – in Erscheinung treten.

FELIX Und was für eine Botschaft soll ich ihnen überbringen?

EUGENIA Das überlasse ich dir. Erzähl meine Geschichte als etwas - ganz Natürliches. Sie küsst Felix auf die Stirn.

Am nächsten Tag war, wie Felix es prophezeit hatte, strahlendes Wetter. Der Winter hatte sich in Frühling verwandelt, der Frühling in Sommer. In der Fülle von Licht und Wärme stand ein schlichtes großes Haus mit einer offenen Veranda, umgeben von blühenden Sträuchern und dem durchlässigen Schatten großer Ulmen.

Haus und Garten in der Nähe von Boston auf dem Land

CHARLOTTE zu Gertrude, die auf einer Bank sitzt Bist du wirklich sicher, dass du nicht zur Kirche gehen willst, Gertrude?

GERTRUDE Ich bin mir über nichts wirklich sicher.

CHARLOTTE Hier ist der Schlüssel vom Esszimmerschrank; falls jemand etwas möchte.

GERTRUDE Wer sollte etwas möchten? Ich bin allein im Haus.

CHARLOTTE Für den Fall, dass aber doch jemand kommt.

GERTRUDE Meinst du Mr. Brand?

CHARLOTTE Ja. Ich meine Mr. Brand. Vielleicht hat er Lust auf ein Stück Kuchen.

GERTRUDE steht auf, geht auf und ab Ich mag keine Männer, die ständig Kuchen essen.

CHARLOTTE Vater erwartet dich vermutlich in der Kirche. Was soll ich ihm sagen?

GERTRUDE Dass ich starke Kopfschmerzen habe.

CHARLOTTE Stimmt das?

GERTRUDE Nein, Charlotte.

CHARLOTTE Fühlst du dich – unruhig?

GERTRUDE Ich fühle mich, wie ich mich immer fühle.

Charlotte wendet sich ab, geht ein paar Schritte.

CHARLOTTE Mein Umhang ist ein bisschen zu lang, findest du nicht?

GERTRUDE Du trägst ihn nicht richtig.

CHARLOTTE Wie soll ich ihn tragen?

GERTRUDE Ich weiß nicht. Anders. Mehr über die Schultern gezogen. Um die Ellenbogen. Von hinten müsste es anders aussehen.

CHARLOTTE Wie anders?

GERTRUDE Kann ich nicht sagen. Sie zupft hinten etwas am Umhang herum. Ich müsste ihn selbst umlegen. Ich kann es nicht erklären.

CHARLOTTE Na schön. Zeig es mir ein anderes Mal. Jetzt ist es egal. Außerdem finde ich es unwichtig, wie man von hinten aussieht.

GERTRUDE Man weiß nie, wer einen hinter dem Rücken beobachtet. Also muss man gerade von hinten hübsch aussehen.

CHARLOTTE Ich finde, man muss überhaupt nicht hübsch aussehen.

GERTRUDE Vielleicht ist es tatsächlich unwichtig.

CHARLOTTE sieht Gertrude einen Augenblick nachdenklich an, gibt ihr einen kleinen Kuss Ich hoffe, du fühlst dich besser, wenn wir zurückkommen.

GERTRUDE Liebe Schwester, ich fühle mich bestens.

Charlotte tritt ein paar Schritte zur Seite, sieht Mr. Brand kommen, geht ihm entgegen, während Gertrude sich von beiden entfernt.

CHARLOTTE Mr. Brand!

MR. BRAND Ich wollte nach Ihrer Schwester sehen. Ob sie nicht vielleicht mitkommt zur Kirche.

CHARLOTTE Sie sagt, sie geht nicht. Aber schön, dass Sie gekommen sind. Vielleicht können Sie ein bisschen mit ihr plaudern. leise Sie wirkt unruhig.

MR. BRAND Ich würde mich sehr gerne mit ihr unterhalten. Dafür würde ich jeden Gottesdienstbesuch opfern, möge er noch so vielversprechend sein.

CHARLOTTE leise Sie wissen was zu tun ist. – Und ich möchte nicht zu spät kommen.

MR. BRAND Ich hoffe, es wird eine erbauliche Predigt.

CHARLOTTE Mr. Gilmans Predigten sind immer erbaulich.

Sie entfernt sich. Mr. Brand nimmt seinen Hut ab und geht auf Gertrude zu, starrt auf seine Handschuhe.

MR. BRAND Ich hatte gehofft, ich könnte Sie zu Kirche begleiten.

GERTRUDE Das ist sehr aufmerksam, aber ich gehe nicht zur Kirche.

Sie reicht Mr. Brand die Hand.

MR. BRAND Gibt es dafür einen besonderen Grund?

GERTRUDE Ja, Mr. Brand.

MR. BRAND Darf man ihn erfahren? Warum - ?

 

GERTRUDE unterbricht freundlich Weil der Himmel so blau ist.

MR. BRAND Ich habe gehört, dass junge Damen zuweilen wegen schlechtem Wetter zu Hause bleiben, aber noch nie, weil es gut ist. Ihre Schwester meint, Sie seien niedergeschlagen.

GERTRUDE Niedergeschlagen? Ich bin nie niedergeschlagen.

MR. BRAND Nicht doch hin und wieder?

GERTRUDE Ich bin nie niedergeschlagen. Aber ich bin manchmal böse. Wenn ich böse bin, habe ich gute Laune. Gerade eben war ich böse zu meiner Schwester.

MR. BRAND Was haben Sie ihr denn angetan?

GERTRUDE Dinge zu ihr gesagt, die sie verwirrt haben. Absichtlich.

MR. BRAND Und warum haben Sie das getan, Gertrude?

GERTRUDE lächelt Weil der Himmel so blau ist.

MR. BRAND Nun verwirren Sie auch mich.

GERTRUDE Mir ist immer bewusst, wenn ich das tue. Aber es gibt Menschen, die verwirren mich noch viel mehr. Und die scheinen sich dessen nicht bewusst zu sein.

MR. BRAND Das ist sehr interessant.

GERTRUDE Sie sagten, ich soll Ihnen von meinen – inneren Kämpfen erzählen.

MR. BRAND Sprechen wir darüber. Ich habe sehr viel dazu zu sagen.

GERTRUDE Gehen Sie lieber zur Kirche.

MR. BRAND Sie wissen, dass ich immer Eines besonders sagen möchte.

GERTRUDE Sagen Sie es jetzt bitte nicht.

MR. BRAND Wir sind allein. Ganz allein in dieser wunderbaren Sonntagsstille.

Gertrude wendet sich ab, betrachtet Umgebung und Himmel.

Kirchenglocken läuten.

GERTRUDE Eben deshalb bitte ich Sie, jetzt nichts zu sagen. Tun Sie mir den Gefallen: Gehen Sie zur Kirche.

MR. BRAND Darf ich, wenn ich zurückkomme, mit Ihnen reden?

GERTRUDE Wenn Ihnen dann immer noch danach ist.

MR. BRAND Ich weiß nicht, ob Sie böse sind. Gertrude hält sich die Ohren zu. Aber verwirrend sind Sie tatsächlich.

Er entfernt sich.

Gertrude geht langsam, gedankenverloren hin und her, setzt sich schließlich wieder auf die Bank, greift zu einem dort liegenden Buch, beginnt zu lesen.

Die Kirchenglocken klingen aus.

Von der Seite erscheint Felix, sieht sich interessiert und neugierig um. Gertrude blickt überrascht von ihrem Buch auf. Felix betrachtet sie lächelnd.

FELIX Habe ich die Ehre mit Miss Wentworth?

GERTRUDE murmelt Ich heiße Gertrude Wentworth.

FELIX Dann habe ich die Ehre – das Vergnügen Ihr Cousin zu sein.

GERTRUDE Was für ein Cousin? Wer sind Sie?

FELIX Es muss Ihnen sehr seltsam erscheinen. Er sieht sich erneut um, lächelt – nun etwas verkrampft. Es ist sehr still hier. – Sind Sie allein?

GERTRUDE Alle anderen sind in der Kirche.

FELIX Das habe ich befürchtet. Aber ich hoffe, Sie fürchten sich nicht vor mir.

GERTRUDE Wie wär’s, wenn Sie mir sagen, wer Sie sind?

FELIX Ich fürchte mich nämlich vor Ihnen. Ich hatte es mir anders vorgestellt. Ich hatte einen Diener erwartet, dem ich meine Karte übergebe, und dass man die Köpfe darüber zusammensteckt bevor man mich vorlässt, um meine Identität zu prüfen.

GERTRUDE Jetzt weiß ich’s – jetzt fällt es mir ein: Sie kommen aus Europa.

FELIX Vor zwei Tagen. Sie haben von uns gehört?

GERTRUDE Wir wussten von irgendwelchen Verwandten in Frankreich.

FELIX Und hatten Sie je den Wunsch uns kennenzulernen?

GERTRUDE Ich hatte den Wunsch Sie kennenzulernen.

FELIX Dann bin ich froh, Ihnen als erster begegnet zu sein. Wir hatten auch den Wunsch, Sie kennenzulernen – und nun sind wir hier.

GERTRUDE Mit dieser Absicht?

FELIX Ja. Mit dieser Absicht. Klingt das so, als ob wir Ihnen zur Last fallen werden? Das werden wir bestimmt nicht. Wir ziehen nur gerne durch die Welt. Dafür sind Sie ein willkommener Vorwand.

GERTRUDE Und Sie sind gerade erst angekommen?

FELIX In Boston, vor zwei Tagen. In unserer Pension habe ich nach Mr. Wentworth gefragt. Er muss Ihr Vater sein. Dort hatte man von ihm gehört und seinen Wohnort für mich herausgefunden. Ich wollte ohne große Umstände herkommen. Es ist ein wunderschöner Morgen. Man hat meinen Kopf in die richtige Richtung gedreht und gesagt, ich soll immer der Nase nach geradeaus gehen, raus aus der Stadt. Ich bin zu Fuß, weil ich mir die Gegend ansehen wollte, und nun bin ich hier. Es sind ziemlich viele Meilen.

GERTRUDE sanft, mitleidvoll Siebeneinhalb. wieder förmlicher Wir sind sehr, sehr glücklich über Ihren Besuch. Wollen Sie nicht ins Haus kommen?

FELIX Sie fürchten sich also wirklich nicht vor mir?

GERTRUDE nach einem kurzen Nachdenken Hier fürchtet sich niemand.

FELIX Ah, comme vous devez avoir raison.

Die großen, beinahe leeren Zimmer des Hauses waren weiß und pastellfarben getäfelt. Es gab dünnbeinige Mahagonimöbel und hoch hängende Gemälde mit biblischen Motiven.

Haus innen

Felix sieht sich um, Gertrude beobachtet ihn.

FELIX Was für ein angenehmes Haus. Drinnen ist es heller als draußen. Vermutlich wissen Sie nicht, wie ich heiße. Mein Name ist Felix Young. Ihr Vater ist mein Onkel. Meine Mutter war seine Halbschwester und älter als er.

GERTRUDE Und sie ist zum katholischen Glauben übergetreten und hat in Europa geheiratet.

FELIX Das wissen Sie also. Ihre Familie mochte meinen Vater nicht. Sie nannten ihn Ausländer. Aber das stimmt nicht. Er wurde zwar auf Sizilien geboren, aber seine Eltern waren Amerikaner.

GERTRUDE Auf Sizilien –

FELIX Sie haben in Europa gelebt, aber sie waren sehr patriotisch. Und wir sind es auch.

GERTRUDE Dann sind Sie also Sizilianer?

FELIX Nein, nein. Ich bin in einem hübschen, kleinen Ort in Frankreich geboren. Meine Schwester in Wien.

GERTRUDE Dann sind Sie also Franzose.

FELIX Gottbehüte! Aber ich bin auch gerne Franzose, wenn Ihnen das gefällt.

GERTRUDE Sie sind aber doch in gewisser Weise Ausländer.

FELIX In gewisser Weise. Ja, ich denke schon. Aber ich könnte nicht sagen in welcher Weise. Ich glaube, wir konnten diese Frage nie wirklich klären. Menschen wie uns gibt es eben. Sie können keine rechte Auskunft geben über ihr Heimatland, ihre Religion, ihren Beruf –

GERTRUDE Wo leben Sie denn?

FELIX Auch das kann ich nicht befriedigend beantworten. Ich fürchte, Sie denken jetzt‚ die sind ja nicht viel besser als Vagabunden. Ich habe überall und nirgends gelebt. Ich glaube, ich kenne jede Stadt in Europa. – Wenn es Ihnen nicht allzu viel ausmacht: Hätten Sie vielleicht ein kleines Glas Wein für mich?

Gertrude lächelt, entfernt sich. Felix sieht sich um. Gertrude kommt mit einem großen Glas Wein und einem Napfkuchen zurück.

FELIX Sie bedienen mich persönlich! Ich fühle mich göttlich bewirtet.

GERTRUDE Vaters Madeira.

FELIX Köstlich! Und da behaupten manche Leute, in Amerika gäbe es keinen Wein.

Gertrude schneidet ein gewaltiges Stück aus dem Kuchen, legt es auf einen Teller, stellt es vor Felix auf einen Tisch. Felix greift sofort zu.

FELIX Ich bin sehr hungrig. Kein bisschen müde, aber sehr hungrig.

GERTRUDE Dann müssen Sie zum Dinner bleiben. Um zwei. Dann kommen die anderen von der Kirche zurück und Sie können sie kennenlernen.

FELIX Wer sind die anderen? Beschreiben Sie sie mir doch bitte ein wenig.

GERTRUDE Das werden Sie dann selbst sehen. Aber erzählen Sie bitte von Ihrer Schwester.

FELIX Meine Schwester ist die Baronin Münster.

GERTRUDE Baronin – . Und warum ist sie nicht mitgekommen?

FELIX Sie ist in Boston im Hotel. Sie sendet Ihnen ihre herzlichen Grüße, und sie sendet mich, um sie anzukündigen. Sie möchte Ihrem Vater die Ehre erweisen.

GERTRUDE Wann wird sie uns besuchen?

FELIX So bald wie möglich. Sobald sie willkommen ist. Vielleicht morgen?

GERTRUDE Morgen, ja sehr gerne. Ist sie – ist sie - verheiratet?

FELIX Sie ist mit einem deutschen Prinzen verheiratet. Prinz Adolf von Silberstadt-Schreckenstein. Er ist ein jüngerer Bruder des regierenden Fürsten.

GERTRUDE Dann ist sie eine – Prinzessin?!

FELIX Oh, nein, nein. Es handelt sich um eine morganatische Ehe.

GERTRUDE Morganatisch –

FELIX So nennt man eine Ehe zwischen einem Adligen und einer gewöhnlichen Sterblichen. Sie haben die arme Eugenia zur Baronin gemacht. Mehr ging nicht. Nun wollen sie die Ehe aber auflösen. Prinz Adolf ist, unter uns gesagt, ein Trottel. Aber sein Bruder, der Fürst, ein kluger Mann, hat wohl große Pläne mit ihm. Eugenia weigert sich natürlich. Nicht dass ihr viel an ihm läge, aber sie ist eine sehr kluge Frau. Ich bin sicher, Sie werden sie mögen – sie möchte es denen nicht zu leicht machen. Deshalb hängt jetzt alles ein bisschen in der Luft ‚en l’air’.

GERTRUDE Man will die Ehe auflösen?

FELIX Es sieht ganz so aus.

GERTRUDE Gegen ihren Willen?

FELIX Gegen ihre Rechte.

GERTRUDE Sie muss sehr unglücklich sein.

FELIX Das sagt sie jedenfalls. Das ist ihre Geschichte. Sie bat mich, sie Ihnen zu erzählen.

GERTRUDE Erzählen Sie mehr.

FELIX Nein, das möchte ich ihr überlassen. Sie kann es besser.

GERTRUDE Wenn sie unglücklich ist, bin ich froh, dass sie zu uns kommt. Sie horcht. Da sind sie. Sie kommen aus der Kirche.

Es erscheint Mr. Brand mit Charlotte, kurz darauf Mr. Wentworth, Wentworth’ Sohn Clifford, Robert Acton und seine Schwester Lizzi. Sie mustern Felix.

MR. BRAND Ist der Herr ein Verwandter?

GERTRUDE verwirrt durch die zahlreichen Informationen der letzten Minuten Das ist der Prinz. Der Prinz von Silberstadt-Schreckenstein.

Alle betrachten Felix beeindruckt.

FELIX bricht in Lachen aus Nein, nein!

Felix war in bester Laune heimgekehrt, was sich nicht sofort auf die Baronin übertrug. Sie hatte nur begrenztes Vertrauen in die Urteilsfähigkeit ihres Bruders. Seine Fähigkeit alles in rosarotem Licht zu sehen, machte seine farbigen Beschreibungen fragwürdig.

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