Steppenlauf

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Helmut Lauschke

Steppenlauf

Aus der menschlichen Verlassenheit

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Karl Ferdinand Baródin als junger Arzt im syrischen Flüchtlingslager

Gespräch mit dem jungen Krankenpfleger Adil

Inspektionen im Lager

Besuch des Vaters Björn Baródin, des emeritierten Professors für Psychiatrie

Stammesfehde im Lager

Ein Mädchen, das ihr Baby verliert

Die Nacht der Apokalypse

Granaten schlugen ein

Impressum neobooks

Karl Ferdinand Baródin als junger Arzt im syrischen Flüchtlingslager

Aus der menschlichen Verlassenheit

Karl Ferdinand Baródin arbeitet im Rahmen der “Ärzte ohne Grenzen” seit mehr als einem Jahr in einem großen syrischen Flüchtlingslager im Libanon. Es ist seine erste ärztliche Tätigkeit im Ausland. Er tut es deshalb, weil er den Menschen in Armut und Not, die ihre Heimat mit ihren Familien verlassen mussten, in ihrem Elend mit der großen Portion Hoffnungslosigkeit zumindest medizinisch helfen will. Die Arbeit ist nicht nur durch den wenigen Schlaf und die fehlende Abwechselung über die Maßen anstrengend, sondern sie bringt ihn durch die menschlichen Erschütterungen und kritischen Zustände der Flüchtlinge in punkto Gesundheit und Willen zum Überleben bei der allgemeinen Magerkeit mehr als kräftemäßig zumutbar zur Verzweiflung und an den Rand der Depression.

Es sind vor allem die Kinder, die stark abgemagert mit Erbrechen und Durchfallerkrankungen zum Klinikzelt im späten Krankheitsstadium gebracht werden, dass sie trotz Infusionsbehandlung und Antibiotika den Erkrankungen erliegen, was die Eltern und besonders die Mütter mit zusätzlicher Trauer beschwert. Was die Anflüge der Depression betrifft, fragt sich Karl Ferdinand, was der Unterschied zwischen seiner Arbeit im Flüchtlingslager und der ärztlichen Arbeit in einer psychiatrischen Klinik ist, in der auch Menschen in ihrer Hoffnungslosigkeit mit den reaktiven Psychosen und anderen geistigen Ausfallserscheinungen und Erkrankungen behandelt werden. Dabei denkt er an seinen Vater Björn Baródin, den emeritierten Professor für Neurologie und Psychiatrie, der sich nun malerisch mit den großen Menschheitsproblemen auseinandersetzt, wenn er es nicht musikalisch reflektierend beim Spielen der Russischen Sonate seines Vaters Boris Baródin tut.

In einem Brief an seine Eltern, in dem er über die immer schwerer werdenden Probleme der Flüchtlinge in der ärztlichen Behandlung berichtet, führt er den Punkt mit der Depression wie folgt an: “Lieber Vater, ich verstehe nun besser das Ausmaß in ihren Weiten und Tiefen, wenn Du von den Menschen sprachst, die mit hohen menschlichen Gaben als Patienten in der Klinik behandelt wurden. Doch Du warst ein Experte auf dem Gebiet der Psychiatrie, während ich nur ein Allgemeinarzt in seinen ersten Berufsjahren bin. Meine theoretischen Kenntnisse bezüglich der geistig-seelischen Erkrankungen sind minimal, obwohl die praktische Konfrontation dieser Erkrankungen im Lager geradezu erdrückend ist. Wie oft hätte ich dich um deine diagnostische Hilfe und deinen therapeutischen Rat gefragt. Es ist eine unvorhergesehene Herausforderung, hier zwischen Ödland und Steppe in der menschlichen Verlassenheit die vielen Erkrankungen und Krankheiten zu erkennen und zu behandeln. Dass der Wille des Helfenwollens dabei im Zentrum des ärztlichen Handelns steht, ist unzweifelhaft, aber es wird dann schwer, wenn es am erforderlichen Wissen und der noch größeren Erfahrung fehlt. Ich kann dir versichern, dass ich mich anstrenge, den armen Menschen in der Not zu helfen, so gut ich es kann.”

Der emeritierte Professor schrieb dem Sohn zurück, dass er den Mut und die Sichtweise nicht verlieren dürfe, wenn er den Menschen helfen wolle, die ihre Heimat und oft ihre Familien verloren haben. Diese Problematik geht über den normalen menschlichen Verstand hinaus, wenn an den Folgen und ihren Erkrankungen gearbeitet werden muss.

Es ist Sonntagmorgen gegen sechs Uhr. Zwei abgemagerte Kinder mit Durchfallerkrankungen werden gebracht. Karl Ferdinand hängt den Kindern, dem 7-jährigen Mädchen und dem 4-jährigen Jungen, die von ihren Müttern begleitet werden, Infusionen an, in die er das Antibiotikum hinzugibt. Die Nacht war ohne Schlaf, weil zwei Männer gebracht wurden. Beim einen war der rechte Unterschenkel und beim andern der linke Unterarm gebrochen. Die Knochenfragmente wurden gerichtet und in gepolsterten Gipsverbänden ruhiggestellt. Nachdem die Kinder nach eingelaufenen Infusionen und mit Antibiotika-Tabletten aus dem Klinikzelt entlassen worden waren, ging Karl Ferdinand in sein Zelt, das neben dem Klinikzelt stand, um sich zu entspannen und in seinem Buch über die großen Philosophen zu lesen.

“Die Großen (der Philosophen) dürfen nicht zerstückelt werden in Probleme, nicht absinken zu Lehrsystemen, nicht in die Ferne rücken als Bilder, nicht ein Reiz bleiben durch ihre Mannigfaltigkeit. Sie wollen, statt unsere Existenz zu verwirren, sie begründen helfen. Wir sollen durch die Sprache ihrer Existenz wach werden und zu vernünftiger Einsicht gelangen. Die Philosophen kommen in der Weltgeschichte der Philosophie überall zur Sprache. So werden sie in der historischen Auffassung zu charakteristischen Erscheinungen ihrer Zeitalter. Sie stehen durch Probleme, Fragen und Antworten im Zusammenhang sachlicher Entwicklungsmöglichkeiten. Sie haben ihre Beziehung zu Mythus, Religion, Dichtung und Sprache. Sie zeigen eine Verwirklichung des Philosophierens in ihrer eigenen Praxis oder in den historischen Folgen ihrer Gedanken. Sie bedeuten gleichsam Inkarnationen von Mächten menschlicher Möglichkeiten, stoßen sich ab, verbinden sich, gehen gleichgültig aneinander vorüber oder beziehen sich aufeinander.” (Karl Jaspers: Die großen Philosophen, S. 9)

Karl Ferdinand legte das Buch zur Seite und reflektierte über die gelesenen Sätze: Sein gedanklicher Aufhänger an diesem Morgen waren die Inkarnationen der Mächte menschlicher Möglichkeiten. Es war der Nagel in der Wand, um den die menschlichen Möglichkeiten in Schlaufen angehängt waren. Von diesen Möglichkeiten war die Medizin, die er im syrischen Flüchtlingslager unter den kritischen Umständen eines völkischen Verzehrungskampfes ausübte, eine um den Nagel geschlaufte Möglichkeit. Es war eine gewichtige Möglichkeit in einer Zeit des Durcheinanders, dessen Ursachen im Kern eines historischen Prozesses der evolutiven Umformung eines Volkes liegen. Er selbst war Teil des Prozesses in dem Sinn, dass er den Menschen in ihrer Hilflosigkeit, Magerkeit, Pathologie und Not half, um sie am Leben zu halten. Die Probleme waren in ihrer Häufigkeit und Tiefe gigantisch, die das normale Fassungsvermögen überstiegen. Wissen und Erfahrung eines jungen Arztes waren überfordert. Es war die Willenskraft, die bei Karl Ferdinand herausragte und ihn bei der humanitären Notsituation in ihrer unübersehbaren Weite und Schwere bei der Arbeit hielt.

Es waren die Aspekte historischer, praktischer und kämpferischer Gesichtspunkte, die den Prozess, ein junger Arzt in einem großen syrischen Flüchtlingslager zu sein, inhaltlich begründeten und seinen aufopfernden Beitrag aus der Normbreite der Medizin im Arztsein hervorhob. Die genetische Grundlage hatten die Eltern gelegt, war doch Björn Baródin hoch motiviert und gebildet als Professor für Neurologie und Psychiatrie und dazu ein tief veranlagter Humanist. Die Objektivität kommt in der klärenden Subjektivität ans Tageslicht. So ist es bei dem jungen Arzt Karl Ferdinand, der die Merkmale eines guten Arztes und engagierten Humanisten in einer Welt der Zerworfenheit in sich trägt mit dem Wunsch, den Weg zum Frieden mitzubauen und Vertrauen in eine seelisch gestörte Menschheit zu bringen.

Karl Ferdinand machte sich eine Tasse Kaffee und verfasste folgendes Gesicht:

Schwellensprung Zwischen den Sternen ruhen sich Nächte hin, die das Tageslicht verjagt. Ob leer, ob voll, im Zwischendrin ist das Kommen und Gehen von der Sprache bis zum Sprachlosen hin.

Was sich krümmt und kerkert, sich verkürzt bis auf den Punkt, es ist die ungeahnte Weite, sind Dinge von der Saat bis zur Ernte, wo der Mensch der Sämann ist, der aus der Hand wirft, was das Auge später nicht begreift.

Im Zwischendrin ist Leben zwischendurch, das sich denkend nach den Sternen streckt. Dazwischen sind Markierungslichter, die zeitlos zeitlich blinken und nicht zu löschen sind.

Die Suche nach dem Licht verzweifelt, wenn die Wolkendecke nicht zerreißt. Auf dem Wege der Erklärrung braucht’s das Licht, um im Zwischendrin die Kreuzung zu erkennen, was die Dunkelheit nicht tut, die das Auge bei der Suche blendet.

Aufstieg und Absturz lassen sich begreifen, wo der Abgrund an die Pforten grenzt, die verschlossener Türen nicht bedürfen. Geübter Höhenflieger muss man sein, um auf der Höhenschwelle zu landen, auf der es möglich ist, die Gurte zu lösen und den Fallschirm einzurollen.

 

Die Psychologie des Gedichts weist auf die Ruhe zwischen den Sternen und auf den Verlust der Ruhe durch den Anbruch des Tages mit seinen Bewegungen des Kommens und Gehens hin, die sich sprachlich fassen lassen bis zur sprachlichen Fassungslosigkeit. Es ist der Tag, in dem sich die Weite der Freiheit krümmt und kerkert und in der Verkürzung bis auf den Punkt zusammengedrückt wird. Diesem Vorgang unterliegen die Dinge des Lebens von der Saat bis zur Ernte, das bedeutet, von der Geburt bis zum Tod. Und es ist der Mensch als Sämann, der mit der Saat die vielen Möglichkeiten aus der Hand wirft, was er später zum Zeitpunkt der Ernte mit dieser Hand nicht mehr begreift.

In all den Dingen mit dem Durcheinander steckt das Leben, dass sich der Mensch in seinen Gedanken nach den Sternen streckt. Auf dem Weg ins Universum gibt es Gedankenblitze als Markierungslichter für den sich streckenden Verstand, die zeitlos blinken und nicht zu löschen sind. Die Suche nach dem Licht bringt Zweifel und Verzweiflung, weil die ‘Wolkendecke’ über dem Verstand nicht zerreißt, um den Durchblick zu bekommen. Denn zur Erkenntnis braucht es das Licht der Erleuchtung, um im Zwischendrin des Lebens die Kreuzungen der evolutiven Entscheidungen zu verstehen. Es ist die ‘Wolkendecke’, dass es dunkel ist und die Erhellung für den Verstand ausbleibt, als stecke die Dunkelheit als Scheibe vor dem Offenbarungsblitz der Erkenntnis, die das suchende Auge blendet und erblindet.

Weil es so ist, was Ursache der Unsicherheit des Denkens ist, wird das Zwischendrin mit dem Durcheinander und dem Aufstieg und Absturz um so klarer, je umfassender die Anstrengung mit der Suche nach der Erkenntnis ist. Das Auf und Ab wird physisch und psychisch spürbar, wenn der Abgrund an die Pforten des Daseins grenzt, sie umgibt und bedroht. Es ist die Angst des Menschen, dass er in den Abgrund stürzt, weil die Türen zum Abgrund offen stehen. Um dem gefürchteten Absturz zuvorzukommen, muss der suchende Mensch über den analysierenden Verstand hoch hinaus fliegen, um auf jener Schwelle zu landen, wo er glaubt, die Sicherheit zu finden, um die Füße aufzusetzen, die Tragegurte zu lösen und den Fallschirm, der ihn bis zu dieser Höhenschwelle getragen hatte, mit dem Gefühl der gehobenen Erkenntnis einzurollen.

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