Klaviertastenspiel

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Helmut Lauschke

Klaviertastenspiel

Boris Baródin, der junge Pianist

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das zweite Klavierkonzert von Brahms mit der Warschauer Philharmonie

Das zweite Klavierkonzert von Brahms mit der Moskauer Philharmonie

Der vierhändige Klavierabend mit den Schülern

Impressum neobooks

Das zweite Klavierkonzert von Brahms mit der Warschauer Philharmonie

Boris Baródin, der junge Pianist

Die Orchesterklänge, vor allem der Bläser, aus dem zweiten Klavierkonzert von Brahms kamen ihm entgegen, als Boris den klassizistischen Bau der Philharmonie betrat, der im Krieg stark beschädigt und nach dem Krieg meisterhaft wiederhergestellt wurde. Oboen und Fagotte bliesen die Tonleitern über zwei, manchmal über drei Oktaven rauf und runter, während die Streicher ihre Quinten von Saite zu Saite stimmten und miteinander abstimmten, wobei die Kontrabässe wie schnarchende Bären dazwischenkratzten, oder klangverwandter, dazwischenschnarchten. Boris trat in den Konzertsaal, einem großen Saal mit doppelstöckigen Seitenrängen unter einer hohen, gewölbten Decke. Er stieg die sechs Stufen zur Bühne und ging auf den Flügel zu. Der Konzertmeister, ein Geiger zwischen dreißig und vierzig kam ihm entgegen und begrüßte ihn herzlich: “Willkommen in Warschau! Willkommen in unserer Philharmonie!” Bei der Begrüßung hielt er Geige und Bogen in der linken Hand. Boris traf auf ihn zum ersten Mal, denn vor zwei Jahren war der Konzertmeister ein älterer Herr, der in dem sympathischen Gesicht eine Narbe über der linken Wange hatte, die ihm noch die Nazis beigebracht hatten. Der junge Geiger nun war ein hochgewachsener, schlanker Pole mit ovalem Gesicht, dunkelbraunen Augen und langem, zurückgekämmten, schwarzen Kopfhaar. Auch die übrigen Orchestermitglieder hießen Boris willkommen, indem die Streicher mit den Bögen gegen ihre Instrumente klopften, was die Bläser und der Schlagzeuger mit den Schuhen auf dem Bühnenboden taten. Boris dankte für den herzlichen Willkommensgruß mit einer tiefen Verbeugung. Dann klappte er den Resonanzdeckel auf, setzte sich und spielte Abschnitte aus dem ersten, zweiten und dritten Satz. Viertel nach neun betrat der Dirigent, Wiktor Kulczynski, die Bühne und begrüßte Boris mit einer väterlichen Umarmung, denn dieser untersetzte, freundliche Herr mit der hohen Stirn und großen Nase hätte vom geschätzten Alter her gut sein Vater sein können. “Ich freue mich sehr, Boris Baródin, mit ihnen das zweite Klavierkonzert von Brahms aufführen zu können, nachdem ich so hervorragende Kritiken über Sie gelesen habe. Ich hoffe, dass Sie in einer guten Verfassung sind, damit wir das Konzert zu einem großen Erfolg bringen.” Das sagte Dirigent Kulczynski im fehlerfreien Deutsch mit polnischem Akzent. “Packen wir’s an!” Er stieg aufs Podium, schlug die Orchesterpartitur auf, nahm den Taktstock in die rechte Hand und sagte: “Bitte meine Herren, fangen wir von vorne an.”

Das Orchester brachte das Eingangsmotiv im Allegro non troppo mit den steigenden Viertelnoten B-C-D, der herabgleitenden Triole Es-D-C, dann dem D als Viertelnote und dem langgezogenen F als Dreiviertelnote. Wieder und unwillkürlich hörte Boris den Ruf seines Vaters, den stummen Schrei des Ilja Igorowitsch. Wieder sah er vor sich den breiten Wolgastrom, wieder spürte er die Breite der Schwermut über diesem Lauf. Er setzte seinen stakkierten Triolenlauf als die leichtermachende, lebensweckende Kraft aus dem fortdauernden, nie endenden, die Lebensspanne des Individuums überschreitenden Status nascendi mit seiner grenzenlosen Hoffnungstracht entgegen, setzte das Triolen-Stakkato zum Zeichen der Seinsannahme wie einen bunten, verheißungsvollen Spitzhut “der Weisheit” dem weinenden Clown (in seiner, der Kleingeisterei widerstrebenden Existenz- und existenzphilosophischen Bedeutung) auf, um ihn aus der Blick- und Daseinsschwere heraus zu helfen, ihn wieder zum Lachen zu bringen, ihm mindestens ein Lächeln abzugewinnen. Nun hatte Boris plötzlich die springenden Flachsteine auf dem Wasser wieder vor Augen. Schnell wuchs die Dynamik mit den stakkierten Oktavläufen in der rechten Hand über den begleitenden Dezimen in der linken, als hätte sich ein kräftiger Arm, der Arm eines Riesen ausgestreckt, der das Klanggebäude, in dem es “Türen und Fenster” gibt, die geöffnet und geschlossen werden, in der Hand hält, es hebt und senkt. Den Ohren stellt sich ein gewaltiges Gebäude von unerhörten Dimensionen dar, das aus immer neuen Perspektiven zur Betrachtung kommt. Da kommt etwas ins Schwingen, das großartig ist nach außen wie nach innen, bis in die feinsten “molekularen” Strukturen hinein. Ein Tonwerk des Meisters, der aus den Visionen schöpft, die mit der Zeit nicht zu begrenzen oder abzuschließen sind. Intellektuell allein ist das Werk nicht zu fassen, zu viele Emotionen sind da hineingeflossen. Es ist ein “Kraftwerk” ständig auftauchender und versinkender Gefühle, kommender und gehender Weisen mit ihren Mahnungen und Verweisen zur besseren Menschlichkeit, zur Erfüllung des Lebens im Leid und im Glück, und das in immer anderen Klanggewändern des ständigen Fließens, dem Heraklit’schen “Panta rhei” der nicht aufhörenden Verwandlung, des immer Anderen zum immer Neuen.

Wiktor Kulczynski, der Dirigent, wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, als er in der Mitte des ersten Satzes das Halt gebot und seine ersten Bemerkungen zum Gespielten machte: “Meine Herren, es war nicht schlecht, aber für einen Brahms nicht gut genug. Bedenken Sie, dass Brahms ein Meister der Liebeslieder war, sowohl im Kompositorischen wie im Vortrag. Wie bei Tschaikowsky verbirgt sich auch bei Brahms die große, überempfindliche Seele in seiner Musik. Nun ist es unsere Aufgabe, dieser Seele zum Durchbruch zu verhelfen. Die Brahms’sche Seele muss zum Klingen kommen. Das wird von diesem Klangkörper, also von uns erwartet, und das müssen wir schaffen. Um die Seele zum Klingen zu bringen, muss das ‘forte’ und ‘piano’, das ‘fortissimo’ und ‘pianissimo’ genau beachtet und das Vibrato stärker und präziser gebracht werden. Beginnen wir noch einmal von vorn!”

Wieder war es die Schwermut, die aus den ersten beiden Takten des Orchester tönte; wieder sah Boris den trägen Lauf des breiten Wolgastroms; wieder hörte er den stummen Schrei seines Vaters, Ilja Igorowitsch, der verloren am Ufer des breiten Stromes stand; wieder setzte er mit seinem Triolen-Stakkato dem weinenden Clown den Spitzhut der Weisheit auf, und wieder waren es die geworfenen Flachsteine, die Boris über das träg dahinfließende Wasser springen sah. Es galt eben wieder, mit dem einsetzenden Spiel des Pianos die Schwermut zu durchbrechen, die Dinge in der Welt und Tonwelt leichter zu machen, der Unergründlichkeit des Leidens das Beglückende, das das Leben auch bereithält, wenn man es nur annehmen will, entgegenzusetzen. Das Gesicht des Dirigenten entspannte. Züge der Zufriedenheit kamen auf und seine Augen begannen zu strahlen. “Wunderbar!”, rief er ins Spiel und dankte nickend den Spielern, die es als Ansporn begriffen und den Unterschied zum ersten Mal herausspielten und heraushörten. Die große Seele kam ins Schwingen und die Klänge mit der genauen Beachtung von laut und leise und dem stärkeren und präzisen Vibrato drückten das Schwingen unsagbar schön und ergreifend aus. Das ließ sich in Worten nicht sagen, weil eine Musik gespielt wurde, die in ihrer Aussage weit über die Wortsprache hinausreichte. Die Gesichter der Spieler waren konzentriert, die Verbindung zum Werkkern, zur Seele des Werkes tonal zu halten und zu festigen. Das sah Boris beim flüchtigen Hinsehen in das Halbrund des Orchesters. Er brachte seinen Teil fehlerfrei und ausdrucksstark. Er war froh, dass er von einer Hustenattacke verschont geblieben war, die seinen Vortrag mit einem Schlag zunichte gemacht hätte. Von der Stabführung war Boris ebenso angetan wie vom Spiel des Orchesters, war doch die Warschauer Philharmonie ein großartiger Klangkörper von hohem internationalen Ruf. Die Tonqualität war Spitzenqualität, das Klangvolumen und die Farbigkeit ein Erlebnis der besonderen, slawisch kultivierten Ausdrucksweise, einer Weise der tiefgehenden, bodenständigen Einfühlsamkeit sowie des aus diesem Boden hervorgegangenen Stolzes.

Mit dem lang anhaltenden B-dur-Akkord war das Ende des ersten Satzes gespielt. Wiktor Kulczynski klopfte mit dem Taktstock seine Zufriedenheit auf das Pult und wischte sich mit der linken Hand den Schweiß vom Gesicht: “Ich denke, dass wir jetzt auf dem richtigen Weg sind und dem großen Brahms die nötige Ehre erweisen. Machen wir weiter und spielen das Allegro appassionato, aber nicht zu schnell. Es ist ein Satz von großer Aussage und hoher Würde.” Er hob den Stab. Boris setzte mit seinem Achtellauf im Vortakt an, dem er die Viertelnoten im Folgetakt wie Meißelschläge im martellato anfügte. Mit diesen “Hammerschlägen” wurde der große Quartsextakkord im d-moll “gemeißelt”, der über drei Takte hingezogen wurde, unter dem das Orchester in den vorgegebenen Dreiklang einstimmte und ihn im legato über die nächsten sechs Takte hinzog, während das Solo die Dreiklangsäule “aufbrach” und in verschiedenen Höhen im legato weiter modulierte. Das Abwechseln der Meißelschläge mit den Legatobindungen, das ging durch den ganzen Satz, als gälte es beim letzteren, die losgelösten “Steine oder Bruchstücke” als neue Bauelemente für neue Bögen (“Brückenbögen”) zu verwenden, sie miteinander zu “verleimen” und die zurückgebliebenen Brüche “aufzufüllen” und die Risse zu schließen. Wiktor Kulczynski hatte am Vortrag bis auf einige technische Dinge, die Crescendi und Decrescendi genauer zu beachten, nichts auszusetzen. Er war vom Klaviervortrag beeindruckt und ließes Boris mit Worten wissen, dass er nur selten solch einen vollendeten Klaviervortrag gehört hätte, worauf das Orchester seine Zustimmung mit klopfenden Bögen und trampelnden Füßen gab. Die Geste berührte Boris, der mit einem Lächeln dem Orchester dankend zunickte. Nun war er ins Schwitzen geraten und trocknete das Gesicht mit dem Taschentuch ab.

 

Der Vortrag des Andante, dem folgenden Satz, empfand er als den Höhepunkt bei der Probe. Boris selbst war ergriffen, weil er es sich nicht erklären konnte, dass es hier schon beim ersten Mal so ein enges und bis ins Detail abgestimmtes Zusammenspiel gab. Darüber freute er sich sehr und bewunderte die hohe Musikalität, die das Warschauer Philharmonische Orchester unter seinem Dirigenten Wiktor Kulczynski hervorbrachte. Der Dirigent strahlte über sein verschwitztes Gesicht, und die Orchestermitglieder gaben sich ein gegenseitiges Lächeln. Aus Freude an der Sache und mit Zustimmung aller wurde der Satz noch einmal gespielt. Es war ein makelloser Vortrag und eine ergreifende Botschaft. Hier war die Seele des Tonschöpfers “mit den Händen zu greifen”. Am Ende des Satzes klatschte Boris seine Bewunderung dem Dirigenten und dem Orchester zu. Hier merkte Wiktor Kulczynski an, dass mit dem Andante die Warschauer Philharmonie ihre tiefe Ergriffenheit vom gewaltigen Geist dieser Tonschöpfung zum Ausdruck bringt und dem großen Komponisten seine Unvergänglichkeit bezeugt.

Nach einer kurzen “Stimmungs”-Pause ging es an den letzten Satz, dem Allegretto grazioso. Boris ging es von der Hand, als hätte er nie etwas anderes gespielt. Auch das Zusammenspiel mit dem Orchester war perfekt, als hätten sie es schon tausendmal zusammen gespielt. Wieder gab es mit die “Meißelschläge” und die gebundenen Bögen, die einander abwechselten; kamen die Achtel im martellato auf dem Klavier, wurden die Sechzehntel im Orchester zu unterschliedlich langen Bögen gespannt. Wurde hier “gemeißelt”, dann brachte das Klavier die rollenden Legatobögen. Es war Ausdruck des Lebens in seiner Vitalität und Farbigkeit. Die eingeschobenen lyrisch-verhaltenen und heiter-offenen Passagen weiteten den Raum für nachdenklich-erinnernde Reflexionen und verliehen dem Allegretto zugleich den Charme einer liebenswürdigen Leichtigkeit. Es sprühte, als würde ein Feuerwerk entzündet; es blühte, als stände ein neuer Frühling ins Haus. Von Hoffnung wurde allemal “gesprochen”. Ihr wurde im Schlussteil im ‘un poco più presto’ Taktmeter die Zuversicht dazugegeben. Nun rollten in der rechten Hand die martellierten Triolen über die gestreckten, arpeggierten Oktav- und Dezimakkorde in der linken, bis das verbindende Legato (des Friedens) kam, das weite Bögen, schließlich über mehrere Oktaven zog. So wurden Hoffnung und Zuversicht “festgetönt”. Sie wurden im Schlussakkord des B-dur mit der Fermate gesichert, verankert, festgemacht, als stünde der Himmel mit der Erde im Einklang, wären die Sterne greifbar, wäre der Himmel bereits auf Erden.

Wiktor Kulczynski ordnete eine Pause von dreißig Minuten an, die er dazu nutzte, ein Gespräch mit Boris zu führen. Die Mitglieder des Orchesters verließen die Bühne, um sich im Foyer eine Zigarette anzustecken und im kleinen Getränkeladen außerhalb der Philharmonie eine Tasse Kaffee oder ein Erfrischungsgetränk anderer Art zu beschaffen. Kulczynski: “Herr Baródin, ich möchte ihnen ein Kompliment machen; ihr Spiel hat mit sehr gut gefallen. Das Andante habe ich noch nie so schön spielen gehört wie von ihnen. Das haben Sie den ganz hohen Standard nicht nur erreicht, Sie haben ihn mit ihrem Spiel übertroffen. Darf ich fragen, wann Sie zuletzt das Brahms’sche Konzert gespielt haben?” Boris: “Es war vor einem dreiviertel Jahr in der Carnegie Hall in New York unter Leonard Bernstein. Danach habe ich es im Leipziger Gewandhaus unter Sir Solti gebracht.” Kulczinski: “Ich gehe davon aus, dass diese beiden großen Dirigenten von ihrem Vortrag begeistert waren.” Boris: “Bernstein schlug mir mit einem breiten Lachen auf die Schulter: “Boris, that was world class”. Sir Solti machte es auf seine feine Art; er lächelte mir zu, gab mir die Hand und sagte: “Brahms würde sich freuen, von einem Pianisten so gut verstanden worden zu sein. Ich gratuliere ihnen zu ihrem Spiel.”

Kulczynski: “Den beiden Kollegen kann ich mich nur anschließen, denn ihr Vortrag hatte Weltklasse. Sie wissen, dass Brahms für uns Polen nicht so leicht zu spielen ist wie Mozart, Tschaikowsky oder Mendelssohn Bartholdy, weil er ganz deutsch im Beethoven’schen Sinne geschrieben hat. Aber Sie haben uns mit ihrem Spiel ganz eingenommen. Sie haben uns mitgerissen, haben uns den guten Brahms auf ihre Weise lieben gelernt. Das ist ein Verdienst, das ihnen zukommt, wofür ich ihnen meinen Dank ausspreche.” Boris: “Nun übertreiben Sie aber, Maestro Kulczynski. Denn selten habe ich ein so inniges Zusammenspiel mit einem Orchester erlebt wie mit der Polnischen Philharmonie.” Kulczynski: “Das ist sehr freundlich von ihnen. Doch das darf ich ihnen sagen, dass wir uns auf ihr Kommen gefreut und uns auch gründlich vorbereitet haben.” Boris: “Das habe ich mit großer Freude vernommen und gespürt.”

Kulczynski: “Lieber Baródin, im Saal sitzt meine Schwester. Sie war neugierig, ihr Spiel zu verfolgen und würde sich sehr freuen, Sie persönlich kennenzulernen. Würden Sie das tun und mir die Ehre geben, Sie meiner Schwester vorzustellen?” Boris: “Das tu ich gern. Es ist mir eine Ehre.” Er drehte sich dem Saal zu und sah in der fünften Reihe eine alte Dame in dunkler Bekleidung mit schneeweißem Haar. Sie gingen die sechs Stufen herab und auf die fünfte Reihe zu.

“Lydia”, sagte Wiktor Kulczynski, als sie die fünfte Sitzreihe erreichten, “darf ich dir Herrn Baródin vorstellen? Das ist meine Schwester Lydia Grosz.” Boris verbeugte sich vor der Dame, als sie ihm ihre Hand entgegenhielt und sie sich die Hände gaben. “Ich freue mich, Sie kennenzulernen”, sprach sie in fehlerfreiem Hochdeutsch, “ich habe viel von ihnen gehört und in den Kritiken über Sie gelesen.” Boris: “Hoffentlich waren Sie dann nicht enttäuscht.” “Nein, ganz im Gegenteil, Sie sind ein großartiger Pianist, davon konnte ich mich heute morgen persönlich überzeugen. Selten habe ich das Brahms-Konzert so ausdrucksvoll erlebt wie bei ihrem Spiel. Ich habe das Konzert noch von Kempff, Horowitz und Goulda gehört. Denen stehen Sie nicht nach. Das ist bei ihren jungen Jahren eine Leistung, die Anerkennung verdient!”. Wiktor Kulczynski, ihr Bruder strahlte bei dem Kompliment seiner Schwester, auf deren Urteil er offensichtlich großes Gewicht legte, Boris an: “Nun hören Sie es von meiner Schwester, die sehr kritisch ist und in ihren jüngeren Jahren selbst eine hervorragende Pianistin war.” Boris sah der Dame hilflos in die Augen, denn ihm fiel eine bessere Antwort nicht ein: “Vielen Dank! Das ist sehr freundlich von ihnen.”

Das Orchester versammelte sich auf der Bühne, um die Probe fortzusetzen. Auf dem Programm stand Tschaikowsky’s Fünfte in E-moll, Opus 64. Wiktor Kulczynski hatte sich aufs Podium begeben und blätterte in der Partitur. “Nehmen wir uns nun die Fünfte vor. Es ist ein großes Werk, das uns Polen ins Herz geschrieben wurde. Konzertmeister, ich darf um das ‘A’ bitten.” Der junge Konzertmeister mit den dunkelbraunen Augen und dem schwarzen, zurückgekämmten Haar strich den Bogen über die A-Saite rauf und runter. Er hatte den Saitenton zuvor mit dem ersten Fagott abgestimmt. Kulczynski: “Nun bitte alle das ‘A’. Bei den Celli ist das ‘A’ zu tief. Bitte noch einmal stimmen”, worauf der Konzertmeister noch einmal und so lange über die leere A-Saite strich, bis die Saiten der Streichinstrumente gleichmäßig gestimmt waren. Kulczynski: “Danke. Nun wollen wir beginnen. Beachten Sie die Lautzeichen mit den Crescendi und Decrescendi. Die Befolgung dieser Zeichen ist von größter Wichtigkeit.” Er hob den Stab und senkte ihn. Die A-Klarinetten bliesen das Thema des Andante: B-C-B-A-B-G / D-Es-D-C-D-B / G-F-ES-D-C-B. Boris liebte die Fünfte von Tschaikowsky wegen der Stärke, mit der slawisches Fühlen zum Ausdruck kommt. Er hatte sich neben Frau Lydia Grosz gesetzt, der Schwester des Dirigenten, um sich den ersten Satz anzuhören. Schon in den ersten sechs Takten des Klarinettenvortrags trat wieder der breite Wolgastrom vor seine Augen. Aus den gebundenen Sechzehnteln nach den punktierten Vierteln hörte er das Schluchzen der Menschen heraus, so auch seines Vaters Ilja Igorowitsch. Drückender war slawische Schwermut nicht zu bringen als mit dem Beginn des Andante dieser Symphonie. Im Vergleich dazu drückte der Beginn des Brahms’schen Klavierkonzertes weit weniger, auch wenn Boris da schon das Gefühl der Schwermut überkam. In der Fünften von Tschaikowsky, da war es das Trauerlied, der Trauermarsch, die Melancholie von größter Schwere. Diese Melancholie der Ausweglosigkeit konnte die Häftlinge in den Arbeits- und Vernichtungslagern der Nazis oder Stalins (“Archipel GULAG”) befallen haben, sie konnten den Trauermarsch gesummt haben, wenn sie abgerungen und ausgezehrt mit der frühesten Dämmerung zur Arbeit ausrückten, mit der letzten Dämmerung zurückkehrten, oder sich im Morgengrauen eines kalten Wintertages versammelten, zerrissen und gedemütigt bis in die Dürftigkeit der Kleidung und des Schuhwerks hinein durch den tiefen Schnee stapften und über eisig gefrorene Wege schlurften, um unter scharfer Bewachung zum ausgehobenen Massengrab, zur Erschießungsmauer oder Gaskammer geführt wurden. Das Thema des Andante fuhr Boris durch Mark und Bein. Es erschütterte ihn. In der Vorstellung solch letzter Einsamkeit und Verlassenheit des Menschen überkam ihn das hilflose Zittern.

Ergriffen und erschüttert saß Boris neben Lydia Grosz, der alten dunkel gekleideten Dame mit dem schneeweißen Haar und hörte sich den tragischen Satz bis zu Ende an. Die Melancholie hatte in aufgewühlt. Er nahm sich zusammen und hoffte, dass die Dame sein Zittern, das ihm durch die Glieder gefahren war, nicht merkte. Nach diesem ergreifenden Tschaikowsky’schen Andante legte das Orchester eine Pause ein. Wiktor Kulczynski gab Instruktionen, wie der Ausdruck des Andante noch zu steigern war. Da merkte Boris, dass Dirigent und Orchester mit der russischen Musik bis ins Blut vertraut war. Er dachte jedoch, dass eine Steigerung im Vortrag des Andante mit dem noch Mehr an Melancholie nicht möglich sei, denn die Zuhörer sollten nicht überfordert werden und gleich zu Beginn in Weinkrämpfe ausbrechen. Er raffte sich zusammen, verabschiedete sich von Frau Grosz, die bei der Verabschiedung leise hinzufügte: “Wir sehen uns heute Nachmittag in der Pesulski Straße 17.” Boris verließ den Saal, während Wiktor Kulczynski seine Instruktionen beendet hatte und um Wiederholung des Satzanfangs bat. Beim Verlassen der Philharmonie atmete Boris einige Male tief durch, um sich mit der Welt außerhalb der Musik wieder vertraut zu machen.

Nach dem Essen zog er sich in sein Zimmer Nummer 7 im ersten Stock zurück, um sich zu entspannen. Er schlug die Bettdecke zurück und legte sich aufs Bett. Schlafen konnte er nicht, dafür war auch die Zeit zu kurz, die ihm blieb, um sich mit Vera vor dem Hoteleingang zu treffen. Er war mit dem Ablauf des Vormittags zufrieden, war doch das Brahms-Konzert gut verlaufen. Zwei kleine Schnitzer waren zwar unbemerkt unterlaufen, doch er wusste sie und wollte sie bei der Generalprobe am Morgen der Konzertaufführung nicht mehr machen. Wieder ging das Andante aus Tschaikowsky’s Fünfter ihm durch den Sinn, und mit dem Andante trat nun auch das Gesicht der alten Dame Lydia Grosz neben den anderen Assoziationen vor sein geistiges Auge. Doch da passte Boris auf, dass das Gesicht dieser Dame nicht auch noch an das Wolgaufer kam, wo schon Ilja Igorowitsch in angegriffener Verfassung stand und nach ihm rief.

Er hatte sich frisch gemacht und traf halb drei Vera, die etwas abseits vom Hoteleingang auf ihn wartete. Sie hatte sich ein olivgrünes Kleid angezogen, das über den Knien endete und die taillenbetonte Schlankheit mit den Brustwölbungen aufs Vorteilhafteste betonte. Sie war etwa einen halben Kopf kürzer als Boris. Sie erwartete ihn mit dem Lächeln der Zuneigung, als Boris auf sie zuging. “Ich freue mich sehr, dass wir uns sehen und einen Spaziergang durch die Stadt unternehmen.” Boris: “das freut mich auch, dass wir das zusammen tun.” Vera: “Gehen wir geradeaus über den Platz, dann sind wir am ehesten in der Innenstadt, wo es urige, kleine Straßencafés gibt.” Boris: “Sie geben die Richtung an, Vera, und ich folge ihnen.” Vera lachte: “Wir gehen aber schon nebeneinander und nicht hintereinander, damit die Leute keine falschen Illusionen bekommen.” Boris: “Abgemacht, anders hatte ich es auch nicht vor mit ihnen.” Sie gingen einige Straßen und Nebenstraßen, wobei Vera einige Altbauten erklärte, die eine Geschichte hatten, von denen viele nach dem Kriege restauriert worden waren.

 

“War Warschau sehr zerstört?”, fragte er. Vera: “Die Innenstadt war fast völlig von den Deutschen zerbombt worden. Was dann noch stand, wurde von Panzergranaten zerschossen.” Boris: “Davon kann man heute kaum etwas sehen.” Vera: “Mit dem Wiederaufbau der Stadt wurde fünfundvierzig begonnen. Wie mir mein Vater sagte, dauerte es mehr als zehn Jahre, bis der Stadtkern wieder so war, wie er vor der Zerbombung ausgesehen hatte.” Boris: “Da stehen ja wunderbare alte Häuser. Denen sieht man nicht an, dass sie zerbombt oder zerschossen worden waren.” Vera: “Da haben die polnischen Baumeister und Handwerker ihren ganzen Stolz drangesetzt, dass Warschau wieder die Perle an der Weichsel wurde.”

Boris: “Sie haben eine großartige Leistung vollbracht.” Von einer kleinen Nebenstraße mit den vielen kleinen Geschäften kamen sie auf die “Straße des Widerstands”, eine breite Allee mit alten Bäumen zu beiden Seiten, hinter denen sich Banken, Ministerien und städtische Verwaltungsgebäude entlangstreckten. Sie hatten die Innenstadt erreicht und gingen Richtung Altes Rathaus, einem restaurierten, historischen Altbau des polnischen Barock. Vom Rathausplatz, von dem einige Straßen und enge Gassen wegführten, gingen sie in eine der Gassen, in der ein dichter Passantenverkehr herrschte. Sie gingen auf das erste Straßencafé zu, das bereits gut besucht war. Vera: “Was halten Sie davon, wenn wir hier die Tasse Kaffee trinken?” Boris: “Einverstanden. Es ist ein hübsches kleines Café mit Altstadtatmosphäre.”

Sie setzten sich an den letzten kleinen Rundtisch, der gerade abgeräumt wurde. Ein weiß beschürztes, schlankes Mädchen mit blondem Haar und braunen Augen, die nicht älter als zwanzig sein konnte, kam an den Tisch und nahm die Bestellung entgegen, die Vera ihr in der Landessprache gab. Die Kaffeegäste, die zum Kaffee auch Tortenstücke, Apfel- und Pflaumenkuchen verzehrten, waren heitere, aufgeschlossene Leute, die den Rundtischgesprächen zugetan waren und dabei auch lachten. Boris war der polnischen Sprache nicht mächtig, wenn er auch wenige Worte zu verstehen glaubte. Was er heraushörte, wenn er Vera in ihr schönes, ovales Gesicht mit den dunkelbraunen Augen schaute und ihr blendend weißes Gebiss bewunderte, wenn sie sprach und dabei lächelte, waren die anderen Sprachen wie Russisch und Deutsch mit Wiener Akzent, die an den Nebentischen gesprochen wurden. Die Serviererin kam mit zwei Kännchen Kaffee und zwei Tassen zurück, die sie geschickt auf der kleinen runden Tischplatte absetzte. Sie fragte etwas in polnisch, was Vera übersetzte: “Es gibt frischen Pflaumenkuchen und Streuselkuchen nach ostpreußischer Art.

Wollen wir uns nicht auch einen Kuchen zum Kaffee gönnen?” “Aber sicher, darauf habe ich Appetit”, bejahte Boris die Frage, die Vera der Serviererin in polnisch weitergab. Sie gossen sich den Kaffee ein, rührten Milch und Zucker ein, während die Serviererin mit der neuen Bestellung den Tisch verließ und nach wenigen Minuten den Kuchen brachte. Dem Kaffee entströmte ein anregendes Aroma. Das regte die Unterhaltung an. Boris: “Fräulein Vera, Sie hatten eine großartige Idee mit dem Stadtbummel.” Vera: “Sagen Sie Vera zu mir. Ich nenne Sie doch Boris Baródin, ohne den Herrn davorzusetzen.” Boris: “Danke Vera. So lerne ich in den paar Tagen einiges kennen, was Warschau in der Innenstadt, in seinem Herzen für die Menschen bereithält.” Vera: “Ich hoffe, dass es ihnen gefällt.” Boris: “Es gefällt mir sehr und besonders gefällt mir, dass ich das Herz Warschau’s mit ihnen erleben kann.”

Vera: “Nun erzählen Sie mir etwas mehr von der Probe heute morgen.” Boris hatte sich gerade die Gabel mit Pflaumenkuchen in den Mund getan, so dass Vera einen Schluck Kaffee zu sich nahm. Boris: “Vera, ich muss sagen, dass die Warschauer Philharmonie ein Klangkörper von Weltspitze ist. Die bringt einen Klang, der mich tief beeindruckt hat. Er ist mit der Dresdner Staatskapelle oder dem Leipziger Gewandhausorchester vergleichbar. Ein großartiges Ensemble unter dem hervorragenden Dirigenten Wiktor Kulczynski. So kam auch das Brahms’sche Klavierkonzert gut heraus.” Vera: “Das freut mich. Ich kann mich nicht erinnern, wann dieses Konzert zum letzten Mal gegeben wurde.” Boris: “Stellen Sie sich vor, Vera, am Schluss des Konzerts hielt der Dirigent ein Gespräch mit mir, in dem er sagte, dass er von meinem Vortrag begeistert war und er Brahms durch meine Spielweise wieder lieben gelernt hätte. Ist das nicht ein Kompliment?” Vera: “Das ist das größte Kompliment, das zu vergeben ist, wenn er von der Liebe zum Schöpfer eines Musikwerkes spricht.” Boris: “Das finde ich auch, und Wiktor Kulczynski hat sich für das Wiederfinden der Liebe zu Brahms herzlich bedankt.” Vera: “Das ist doch großartig. Sie müssen das Konzert aber auch großartig gespielt haben.” Boris: “Ich muss schon sagen, Brahms zu spielen ist kein Kinderspiel. So habe ich mir alle Mühe gegeben, um seine Botschaft herüberzubringen.” Vera: “Und Sie haben sie herübergebracht, sonst hätten Sie so ein Kompliment nicht bekommen.” Boris: “Das kann möglich sein.” Vera: “Wenn ich es richtig verstehe, muss es so gewesen sein.” Boris: “Aber auch das Orchester hat sich ins Zeug gelegt und das Letzte aus sich herausgeholt. Denn anders kann eine Brahms’sche Botschaft nicht gebracht werden.

Was Wiktor Kulczynski noch sagte, war, dass Brahms für die Polen nicht so leicht zu spielen ist wie Mozart, Tschaikowsky oder Mendelssohn Bartholdy, weil Brahms ganz deutsch, vielleicht meinte er streng, im beethoven’schen Sinne geschrieben hat.” Vera: “Das ist nun zu hoch für mich. Soweit bin ich in der Musik nicht zuhause. Was war damit gemeint?” Boris: “Die intellektuelle Schreibweise in der Musik, die schärfer wird, je weiter es in den Westen Europas geht. Für das slawische Gemüt hat die Emotion einen höheren Stellenwert als der Intellekt. Dabei unterstelle ich dem Intellekt die Mathematik, die es überall, so auch beim Schreiben von Musik gibt. Den Unterschied habe ich bei der Probe heute morgen wieder erlebt. Die Schwermut, die im Beginn des Brahms-Konzertes herauszuhören war, dass mir Bilder mit dem breiten, träg dahinfließenden Wolgastrom in den Sinn kamen, reichte dennoch an die Schwermut zu Beginn der Fünften von Tschaikowsky, dem Andante, nicht heran. Die Emotion der Schwermut, wie sie russisch empfunden und vom russischen Genius vertont wurde, ist doch stärker. Sie ist so stark, dass ich zitterte, weil mir mit der Eingangsmelodie im Andante die Bilder der abgemagerten und verzehrten Häftlinge in den KZs der Nazis und in den Stalin’schen Arbeitslagern in den Sinn kamen, die diese Melodie summten, wenn sie im Morgengrauen zur Arbeit ausrückten und in der späten Abenddämmerung zurückkehrten. Bei der Vorstellung dieser Einsamkeit und Verlassenheit des Menschen hat es mich geschüttelt.”

Vera: “Da hat Sie Tschaikowsky aber hart getroffen.” Boris: “Das hat er, und jedesmal, wenn ich den Beginn des Andante höre, erfasst mich das Zittern von neuem.” Vera: “Aber Boris Baródin, Sie sind zu jung, um von diesen Grausamkeiten zu wissen. Ihr Wissen davon können Sie nur von Erzählungen bekommen haben.” Boris: “Das stimmt. Aber schon die Erzählungen, die ich von meinem Vater, dem Sowjetgeneral Ilja Igorowitsch Tscherebilski, und meinem Großvater, dem ehemaliger Breslauer Superintendenten Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, bekommen habe, haben sich schwer auf meine Seele gelegt. Die Erzählungen, wie grausam da mit den Menschen umgegangen wurde, haben sich tief in mein Gedächtnis eingemeißelt. Sie sind für mich furchtbar und unvergesslich. Glauben Sie mir, Vera, die Musik, die ich spiele, ist in erster Linie und jedesmal diesen Menschen gewidmet, die von diesem Terror ergriffen, getötet oder zu Krüppeln geschlagen wurden.”