Der Weg nach Afrika

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Der Weg nach Afrika
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Helmut Lauschke

Der Weg nach Afrika

Jahre der Entscheidung

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Im Lauf der Jahre

Ein Major als Superintendent

Der Fallensteller in einer Zeit der höchsten Bedrängnis

Härteste Donnerschläge mit wild gleissenden Blitzen

Kristofina, das Mädchen, das vom Blitz getroffen wurde

Das abgemagerte Mädchen mit den elf Steinen im Magen

Die weisse Apartheid mit dem Verrat an der ärztlichen Ethik

Was Zeiten brachten

Das Dach des Wasserturms wurde zur MG-Doppelstellung ausgebaut

Vom Sinn der Lernens

Wie sich die Welt auf den Alltag einstellt

Besuch des Brigadegenerals in der Morgenbesprechung

Die katholische Missionsstation in Okatana

Meditatives Intermezzo gegen Mitternacht

Die katholische Missionsstation in Oshikuku

Schwere Haubitzen schossen Salven

Die Knochenverpflanzung in der Behandlung der Schienbeinosteomyelitis beim Kind

Afrikanische Merkwürdigkeiten im Beruf des Arztes

Impressum neobooks

Im Lauf der Jahre

Jahre der Entscheidung

Autobiographie Teil 2

Denk ich an Afrika und die Welt bei Tage, dann erhebt sich doch die Lebensfrage, wo wir im Ruf der neuen Zeiten sind mit der Kultur und dem verlornen Kind.

In Afrika sollst du nicht leben, ohne der Armut etwas abzugeben, denn wer als Mensch will immer nehmen, der sollt sich der Armut andrer schämen.

An der Armut wird sich nichts ändern, solange Altersringe deine Augen rändern, denn das Leben ist für alle begrenzt, Taten sind’s, was dich auf die Waage stellt.

Die Brücke über den Cuvelai war wieder hergestellt. Alle Brücken wurden von Soldaten bewacht. Die Lage hatte sich weiter zugespitzt. Der Krieg mit dem Ziel der Unabhängigkeit Namibias auf der einen Seite und dem Halten des 'status quo' eines von Südafrika verwalteten und abhängigen Südwest-Afrikas auf der anderen Seite hatte viele Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert, und er fordert täglich mehr. Zum Hospital kamen auch Menschen mit blutunterlaufenen und aufgerissenen Wunden über dem Brustkorb, dem Rücken, an den Armen und Beinen, die ihnen durch Stockhiebe auf den Polizeistationen oder vor ihren Hütten, oder auf freiem Felde bei Verhören von Polizisten oder der Spezialtruppe Koevoet (Brecheisen) zugefügt wurden. Dabei schlugen Schwarze in den Felduniformen der Koevoet auf ihre Brüder und Schwestern ein, wenn der weisse Mannschaftsführer meinte, dass es sich um aktive Swapounterstützer handle, die er der schwarzen Mitverschwörung verdächtigt. In den meisten Fällen traf die brutale Stockbehandlung unschuldige und wehrlose Menschen, da der Verdacht eine unbegründete Vermutung blieb, die sich nicht bestätigte. Die Spirale der Gewalt nahm ohne Rücksicht auf die notleidenden und hilflosen Menschen zu. Sie wurden geschlagen, gefoltert, verschleppt und getötet. Ihre Krale wurden beim geringsten Verdacht der Kollaboration dem Erdboden gleichgemacht. So blieben viele Mütter mit weinenden Kindern und den hilflosen Alten zurück, denen es die Sprache verschlug, wenn sie auf offenem Felde vor dem Nichts standen und es nicht erklären konnten.

Die Unsicherheit der allgemeinen Lage und die militärische Zuspitzung im Grenzgebiet zu Angola, das vom mehr als zehnjährigen Bürgerkrieg der unterschiedlich verstandenen Unabhängigkeit weitgehend verwüstet war, hatte auch zur Veränderung in der Administration des Hospitals geführt. Dr. Witthuhn war seines Stuhles enthoben. Auf seinem Stuhl sass nun ein strammer, gross gewachsener Mittdreissiger in der Uniform eines Majors, der geschmeidig afrikaans und englisch sprach und seine Sätze in unvergleichbarer Weise wiederholte und mit jeder Wiederholung weiter dehnte, als zöge er den Kaugummi aus dem Munde, den er zwischen den Zähnen hielt, indem er die Haupt- und Tätigkeitsworte mit anderen Eigenschaftsnamen derselben Bedeutungsfamilie anreicherte und streckte. Er schaffte es, minutenlang über ein und dasselbe Ding zu reden, ohne dass man wusste, worüber er redete, weil der Redefaden mit zunehmender Länge immer undeutlicher wurde. Er besass die Kunst viel zu reden, ohne etwas zu sagen. Dazu kam seine Freude, in den beiden Sprachen herumzuspringen, indem er englisch fünfmal wiederholte, was er in afrikaans gesagt, oder zehnmal in afrikaans wiederholte, was er in englisch gesagt hatte. Durch die Anwendung der Sprachleier in zwei Sprachen war seinem Redefluss kein Einhalt zu bieten. Die Teilnehmer der Besprechung schauten auf die Uhr und grübelten über zwei Dinge nach: 1. Was mag der Superintendent gedacht haben; 2. Wann hört der Redeschwall endlich auf. Eine Frage wurde nicht beantwortet, sie wurde solange gekaut, bis von ihr nichts mehr übrigblieb, keiner mehr wusste, was eigentlich gefragt wurde. Der Superintendent, der soviel reden und nichts sagen konnte, führte denselben Doktorgrad wie die ihm unterstellten Ärzte in der Leutnantsuniform. Dieser Titel wurden den Examinanden verliehen, die erfolgreich ihr letztes Staatsexamen abgelegt hatten. Die besondere Anstrengung einer Dissertation wurde ihnen in Südafrika wie im ganzen British Empire erlassen. Sie nannten sich Doktor ohne die akademisch herausragende Qualifikation. Dr. Ferdinand bewohnte mittlerweile ein kleines Einzimmerflat mit Schlafraum, Küche, und Duschraum mit Toilette. Es wurde ihm von einem weissen Beamten der Bantu-Administration zugewiesen und übergeben. Insofern hatte es einen Fortschritt gegeben, Der Schlafraum war doch grösser als das enge, voll gestellte Schlafkabinett in des Freundes Haus.

Schwer zu ertragen war der palavernde Superintendent. Keiner konnte sich vorstellen, dass er ein Arzt sei, der schon mal einem Patienten gegenübersass. Das erste, was er in seiner Amtszeit tat, er versetzte den Schreibtisch mit Stuhl auf die gegenüberliegende Raumseite, also dort, wo zu Dr. Witthuhns Zeiten die Matronen und die Apothekerin während der Morgenbesprechungen sassen, die schwarze Matrone ihre Grimassen schnitt, wenn die weisse Hauptmatrone vom Uringestank des Vorplatzes sprach, der dem auf Sauberkeit Bedachten die Nase zuhalten liess, weil die Penetranz die Nasenschleimhaut ätzte und sich in der Kleidung festsetzte, als hätte man selbst hinein uriniert. Dr. Witthuhn wurde der Posten des 'Principal medical officer' zugewiesen und in die innere Medizin abgeschoben. Er liess es mit sich machen, weil er das Geld zum Leben brauchte und im Glauben war, dass die anachronistischen Verrücktheiten der weissen Apartheid nicht ewig dauern würden. So traten die Zeichen des Niedergangs des Rassensystems mit jedem Sonnenaufgang klarer über dem Horizont. Dr. Witthuhn hielt an diesem Glauben fest, wenn er in den Männer- und Frauensälen nach den Patienten sah und seine Anweisungen zur Behandlung gab oder die ambulanten Patienten im kleinen überhitzten Raum der Station 7 untersuchte, wo ihm ein laufender Ventilator vom Nebenstuhl die kühlere Luft ins Gesicht, oder wenn er zurückgelehnt am Tisch der diagnostischen Dürftigkeit irgendwelchen Gedanken nachging, während ihm der Patient noch gegenübersass, oder sich im Gang der Gemächlichkeit gedanklich verloren hatte, dass man ihn im Vorbeigehen wecken musste.

Dr. Witthuhn hatte viel Herz und viele Sorgen, als dass man ihn mit den fünf Sinnen sogleich verstehen oder messen konnte. Es war seine menschliche Grösse, dass ihn Dr. Ferdinand niemals verdriesslich antraf. Das Kleinkalibrige des Neides und der Hässlichkeiten passte nicht zu ihm, doch hatte er ein waches Gespür für das, was falsch und listig war. Da das Hospital nicht von solchen Gefechten der Arglist und Hinterhältigkeit verschont blieb, traute er so schnell keinem über den Weg der Anständigkeit. Das hatte er im Leben gelernt, dass es nur wenige Freunde gibt, die zu einem halten, wenn es einem nicht gut geht.

Der ärztliche Direktor sass weiterhin und ungestört im Range des Colonels auf dem bequemen Sessel mit der hohen Rückenlehne hinter dem leeren, hochpolierten Schreibtisch. Da hatte er Zeit genug, sich mit seinen Zähnen zu beschäftigen und mit den Zahnstochern zwischen den Zähnen herum zu stochern und das Gebiss auf dem neuesten Stand zu halten. Das tat er bedenkenlos unter dem Grossfoto des südafrikanischen Präsidenten, der hinter Glas und mit Goldrahmen versehen an der Wand aufgehängt war. Es war der Verdacht des Militärs, dass Swapokämpfer als Patienten kommen und im Hospital einsickern. Da misstrauten sie dem zivilen Superintendenten, von dem das Engagement für die notleidende Bevölkerung bekannt und auch ein Dorn im weissen Auge war. Das Militär hatte die Administration unter Druck gesetzt, und die Administration hatte erwartungsgemäss nachgegeben. Offiziere führten nun die höchsten Posten im Hospital. Der Bevölkerung, den Patienten, Schwestern und Pflegern sowie den zivilen Ärzten gefiel es nicht. Das Hospital bekam eine militär-strategische Bedeutung, die auf Kosten eines Hauses zur Behandlung kranker Menschen ging. Damit verschaffte sich das Militär einen ungehinderten Zugang zum Hospital, von dem die Koevoet Gebrauch machte, wenn sie vor allem nachts mit ihren 'Casspirs' das eingezäunte Gelände abfuhr, mit Scheinwerfern die Winkel ausleuchtete und nach Swapokämpfern absuchte.

 

Eine Verbesserung für das Hospital brachte dieser Wechsel nicht. Der 'Sekretaris' hatte sein Versprechen, das er vor einem Jahr Dr. Witthuhn anlässlich eines Gespräches über die notwendigsten Reparaturarbeiten gegeben hatte, nicht eingehalten. Nicht einer der weissen Verwaltungsmänner erschien in all den Monaten im Hospital, um die Zustände der totalen Vernachlässigung und ihre Folgen in Augenschein zu nehmen, die Dinge der höchsten Dringlichkeit in einem Protokoll aufzulisten und es dem 'Sekretaris' auf seinem polierten Schreibtisch vorzulegen, damit er die Reparaturarbeiten und Neuanschaffungen in Auftrag geben konnte. Nichts dergleichen war passiert. Die zentrale Sterilisationsanlage brach von Zeit zu Zeit zusammen. Der alte, schrottreife Operationstisch wurde nicht durch einen neuen ersetzt. Neue, zeitgemässe Instrumente wurden nicht angeschafft. Die Krankensäle, denen die Verrottung durch ramponierte Türen und Fenster anzusehen war, verblieben im Zustand des Unzumutbaren.

Die beschädigten Toilettenschüsseln wurden nicht ausgewechselt, und die dringend benötigten Betten der einfachsten Stahlbauweise wurden nicht angeschafft. Die zerrissenen, schmutzig verfleckten Schaumgummimatratzen wurden weiterhin aufgelegt, die schon lange den Verbrennungstod verdient hatten, weil aus ihnen der Geruch des eingetrockneten Urins eines Jahrzehnts nicht rauszukriegen war. Der 'Sekretaris' hielt seine Zusage nur in Sachen Wasserschlauch zum Abspritzen des Vorplatzes, weil Dr. Witthuhn ihn vor einem Jahr von der Unzumutbarkeit des platzbeherrschenden Uringestanks überzeugte, als er spontan vom Ekel befallen wurde und seine Gesichtszüge, ähnlich wie es die schwarze Matrone tat, in zuckenden Grimassen entgleisen liess. Was der neue Superintendent als Major und Doktor der Medizin tat, war die Anschaffung eines neuen Krankenwagens und zwei offener Ford-Kleinlader, von denen er sich einen für sich selbst vorbehielt. Es war unverkennbar, dass das Militär die Führung des Hospitals übernommen hat und sich von den Zivilbehörden dabei nicht reinreden liess, die ohnehin nicht daran dachten, sich in die Brisanz der Verstülpung einzumischen, da ihnen die zugesicherten Posten der abgenommenen Verantwortung und wenigen Arbeit bei hoher Bezahlung und den vielen Extras näher waren als die Probleme eines Hospitals, das der Bevölkerung vorgehalten wurde.

Die Weissen bedienten sich des Flugzeuges in Ondangwa, das sie nach Windhoek und Pretoria brachte, um dort die weissen Ärzte vom hohen medizinischen Standard einer ersten Welt in Anspruch zu nehmen, der sie mehr vertrauten als der dritten Welt Medizin am Oshakati Hospital, wo schon das Wegspritzen des Urins vom Vorplatz als grosses Ereignis gefeiert wurde. Hinzu kam, dass diese Weissen in regelmässigen Abständen in die Stadt- und Verwaltungsmetropolen der pyramidalen Machtzentren flogen, um vertrauliche Gespräche der Beförderung und weiterer Vergünstigungen zu führen, die in eigennütziger Vorausschau in einer Zeit der zunehmenden Unsicherheit der zukünftigen Absicherung dienen und den unverdienten, hohen Lebensstandard festschreiben sollten. Mit diesen Flügen der regelmässigen Notwendigkeit wurden die zukünftigen Geschäfte abgesprochen und mit Friseur, Zahnarzt und Einkäufen der dort erhältlichen Luxusartikel gleich verbunden.

Ein Major als Superintendent

Obwohl die Morgenbesprechungen nun länger dauerten aufgrund der Wortspielereien des Majors und neuen Superintendenten, kam auch die schwarze Kollegin, wenn auch mit regelmässiger Verspätung hinzu, die zu Dr. Witthuhns Zeiten, als der grosse Schreibtisch voll beladen auf der anderen Seite stand, ihren Stuhl leer stehen liess und sich nur vom Ende der Besprechung überzeugte, wenn sie ihren Kopf durch die offene Tür durchsteckte und wieder zurückzog. Das wollte sie sich jetzt nicht mehr leisten, obwohl es mit weniger Fragen nun länger dauerte. Sie beteiligte sich an den Diskussionen mit Intelligenz und einer exaltierten Sprache, weil ihr durch das Fehlen bei den Morgenbesprechungen unter dem vorherigen, zivilen Superintendenten die nötige Erfahrung fehlte, sich kurz und sachbezogen auszudrücken.

Eine weitere Veränderung war mit Dr. Hutman eingetreten, der bei diesen Besprechungen nicht mehr so vorlaut und besserwisserisch war. Das stand seiner durchschnittlichen Intelligenz besser. Er verhielt sich nun mehr zurückhaltend und verdeckter, als wollte er es mit dem Major nicht verderben. Hinzugekommen war Dr. Bernstein, ein nicht mehr junger Kollege aus der Schweiz, der fliessend deutsch, englisch und französisch sprach. Er war Facharzt der Chirurgie und hatte seine traumatologischen Kenntnisse während des Vietnamkrieges auf dem Hospitalschiff 'Vietnam' gesammelt, das vor dem damaligen Saigon vor Anker lag. Er war im Operieren talentiert und gründlich und kam mit den guten Absichten des Helfenwollens nach Oshakati, wo er die Verantwortung in der traumatologischen Orthopädie übernahm. Dr. Ferdinand, der auch Traumatologe war und vor dem Erscheinen des Schweizer Kollegen für beide operativen Gebiete zuständig war, in denen im ersten Jahr seines Dortseins fast eintausendsechshundert Operationen durchgeführt wurden, zog sich in der Verantwortung nun auf die Chirurgie zurück. Er bedauerte aufrichtig, dass er die freundschaftliche Zusammenarbeit mit Dr. van der Merwe nicht fortsetzen konnte, der seinerseits den Superintendenten ersuchte, für die letzten Monate der verbliebenen Dienstzeit von der Orthopädie zur Chirurgie zu wechseln, was dieser ihm zusagte, sobald die neuen Kollegen einträfen.

Auch Dr. Bernstein fiel es schwer zu glauben, dass ihm seine Schweizer Facharztzertifikate trotz des Weltrufes der schweizerischen Universitäten in Südafrika nicht anerkannt wurden. Er wurde wie Dr. Ferdinand in die lächerliche Gehaltsgruppe eines 'Senior medical officer' eingestuft. Dr. Bernstein empfand diese Arroganz als eine schallende Ohrfeige. Die Administration stellte ihnen in Aussicht, dass beide Chirurgen nach Ablauf eines Jahres in die höhere Gruppe eines 'Chief medical officer' eingestuft würden, das höchste, was ihnen die Bantu-Administration unter Befolgung der Richtlinien des 'South African Medical & Dental Council' in Pretoria anzubieten hatte; als müssten die beiden Kollegen der beachtlichen Erfahrungen im Grenzgebiet zu Angola, wo der Krieg sinnlos zerstörte und die Agonie des aufgesetzten, weissen Systems nicht zu übersehen war, noch eine Probezeit durchlaufen, weil das Beachtliche im burischen Querverstand keine Beachtung verdiente. Für Dr. Bernstein war hier die Grenze der Toleranz nach wenigen Tagen erreicht. Er sagte, dass er sich von diesen Typen der fehlenden Intelligenz nicht auf der Nase rumtanzen lasse. "Dann sollen sie ihren Dreck alleine machen, wenn sie so dämlich sind und nicht begreifen, was hier vonnöten ist", schimpfte er heraus und beschloss in der zweiten Woche, nicht länger als ein Jahr im Land der weissen Apartheid zu bleiben.

Dr. Hutman blieb undurchsichtig und suchte nun täglich das Büro des Major-Superintendenten auf. Die Kollegen der gleichen Uniform vertrauten ihm nichts Persönliches an. Das sagte Dr. van der Merwe zu Dr. Ferdinand im Gespräch anlässlich des Todes des vierzehnjährigen Jungen auf dem Op-Tisch, als Dr. Hutman bei der Kraniotomie sich nicht helfen liess und den Tod Dr. Ferdinand anlasten wollte und selbst keine Freunde habe. Dr. Hutman war das verlängerte Ohr des ärztlichen Direktors und des Truppenkommandeurs geblieben. Jetzt wollte er noch das Majorsohr des Superintendenten verlängern, weil er sich durch die Ohrverlängerungen der Höhergestellten persönlich versprach, was für ihn zum Nutzen sein konnte. Dass der versprochene.Nutzen ein Versprechen war, weil es auch Schaden machte, daran dachte der jüdisch erzogene Karrierearzt aus der angesehenen Johannesburger Familie mit der auffallenden Gefühlsabstinenz schwarzen Patienten gegenüber nicht zu der Zeit, als sie es ihm noch freistellte und überliess, die Münze rumzudrehen und die Kehrseite nicht weniger sorgfältig zu betrachten und darüber nachzudenken, was ihm die Kehrseite aufzeigte.

Die Spezialisten kamen weiterhin am Dienstag und Freitag aus Ondangwa, wo sie alle zwei Wochen durch andere ausgewechselt wurden. Sie wurden von 'Waterkloof' (Wasserschlucht), dem Militärflughafen bei Pretoria zum Norden geflogen. Sie waren zum Dienst verpflichtet und kamen als Professoren und Dozenten der Universitäten und akademischen Lehranstalten Südafrikas in den Uniformen hoher Offiziere, um hier die medizinische Versorgung der diensttuenden Truppe sicherzustellen. Warum diese Spezialisten zweimal in der Woche das Hospital in Oshakati besuchen, das wurde Dr. Ferdinand nie richtig klar. Er konnte sich nicht vorstellen, dass diese regelmässigen Besuche nur etwas mit der medizinischen Versorgung der Truppe zu tun hatten, weil das Militär hier nicht behandelt wurde. Es passte ihm mehr in das Konzept der militärischen Aufklärung, bei den Saalrunden herauszufinden, ob sich unter den chirurgischen Patienten tatsächlich Swapokämpfer versteckten, was für diese Spezialisten, denen alle Türen zum Hospital offen standen, unschwer herauszufinden war, wenn sie die Krankengeschichten lasen und die Art der Verletzung der klinischen Betrachtung unterzogen.

Das Hospital als Einrichtung der medizinischen Hilfeleistung war eine Schwachstelle im strategischen Konzept der militärischen Führung, die die zunehmende Infiltration der Swapokämpfer und der sie aktiv unterstützenden Bevölkerung ins Kalkül einbezog. Es waren die strategischen Gesichtspunkte des Militärs mit den schärferen Kontrollen, die Dr. Ferdinand auf den Gedanken brachten, dass mit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen am Hospital nicht zu rechnen ist, solange die Weissen der Einrichtung misstrauen, dass dort Swapokämpfer und ihre Sympathisanten behandelt werden, was dem Schwur auf den südafrkanischen Präsidenten und dem Eid auf die gehisste Apartheidsflagge widersprach. Dagegen forderte der Eid des Hippokrates die gleiche Behandlung aller Menschen.

An der miserablen Bestückung und Ausstattung des Hospitals wurde das Ausmass der Schizophrenie sichtbar, die leeren Versprechungen machten politisch Sinn, und das wahre Arzttum wurde zum Krüppel geschlagen. Was für Konflikte mögen die Ärzte in ihrem Gewissen austragen, wenn sie es tun, die an einer südafrikanischen Universität mit Beendigung des Studiums der Medizin den Eid des griechischen Arztes aus vorchristlicher Zeit geleistet haben und dann in die Uniformen der Leutnants gesteckt wurden und dabei den weissen Schwur der herabgesetzten Menschlichkeit leisteten. Das waren die Bedingungen, unter denen hier Ärzte zu arbeiten hatten, wenn sie dem Patienten ins Gesicht sahen und ihn behandelten. Folgerichtig und systemkonform kamen dann die arroganten, bürokratischen Einschränkungen des `Medical & Dental Council' mit der Nichtanerkennung ärztlicher Qualifikationen noch hinzu. Dr. Ferdinand fiel es dennoch schwer sich vorzustellen, wie das Hospital weiter verrottet und dahinsiecht, bis es schliesslich den Geist der Zumutung aufgibt und seine ursprüngliche Bedeutung für die Menschen völlig verliert.

Die politischen Formeln für die dahinsiechende Verrottung wurden wirksam umgesetzt, man brauchte keinen Grips, um die Niedertracht zu verstehen, denn die Fakten sprachen eindeutig, als dass noch ein Gegenbeweis nötig gewesen wäre. In dieser Phase der grossen Zerreissprobe, vor dem Gewissen des Einzelnen wie vor der Gesellschaft in den Zeiten des absehbaren Umbruchs, war Dr. Hutman in seinem Element als getarnter Arzt, der für Gefühle den Patienten gegenüber nichts übrig hatte, dafür mehr seine verräterischen Ambitionen verfolgte, der denunzierte, auch wenn er dabei die Unwahrheit sagte, und bedenken- wie rücksichtslos anschwärzte, was nur anzuschwärzen war, als wollte er noch die Tapferkeitsnadel auf die Brust gesteckt bekommen, bevor er in den weissen Wohlstand seiner Eltern nach Johannesburg zurückkehrte, um seiner Karriere mit der ihm hier vergönnten Ellbogenfreiheit, von der er in anmassend frecher Weise Gebrauch machte, weiter nachzugehen. Er hatte es bei seinen hinterhältigen Unternehmungen besonders auf die zivilen Kollegen abgesehen, denen er Schaden zufügen wollte, wo es nur ging, weil er sich seines Status der eingebildeten Besonderheit des Höheren beraubt sah, die er im Aufstellen der täglichen Operationslisten und monatlichen Dienstpläne für sich zu verbuchen glaubte, was lächerlich und von kleinem Format war, das ihm Dr. Witthuhn aus Gründen der Sachlichkeit abnahm, als er noch auf dem Stuhl des Superintendenten sass, und diese Aufgabe Dr. Ferdinand übertrug.

 

Es gab viele unerfreuliche Wortgefechte mit Dr. Hutman, die dieser durch Einbildung und Borniertheit regelrecht provozierte, die alle durch ein bisschen mehr Bildung und Anstand vermieden werden konnten, wenn es nach den Regeln der Denk- und Sprachzivilisation gegangen wäre. So erinnerte sich Dr. Ferdinand nicht nur an das Gespräch beim ärztlichen Direktor wegen der falschen Schuldzuweisung am Tode des bewusstlosen Jungen, bei dem Dr. Hutman durch verlängertes Teetrinken bedenkenlos den lebensrettenden Eingriff der Kraniotomie hinauszögerte und dann seine Unerfahrenheit beim Setzen der Bohrlöcher probte, sondern auch an das Gespräch beim Superintendenten, als er noch Dr. Witthuhn hiess. Was war passiert? Dr. Ferdinand betrat sein Büro, Dr. Witthuhn sass auf seinem Stuhl vor einem aufgeschichteten Stoss von Krankengeschichten und bat ihn Platz zu nehmen, während er den Stoss von oben bis unten durchsah und seine Aufmerksamkeit den ärztlichen Eintragungen der täglichen Saalrunden zuwandte.