Boris Baródin

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Boris Baródin
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Helmut Lauschke

Boris Baródin

Aus dem Leben eines jungen Pianisten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Musik, Begegnungen, Hilfe zur Befreiung

Die Reise nach Warschau

Der Weiterflug nach Moskau und die Begegnung mit dem Vater

“Hast Du den Sekt kalt gestellt?”, fragte Ilja Igorowitsch seine jüngere Frau. Das war der erste Satz, den der Vater seit der Abfahrt von der Philharmonie von sich gab. “Ja, Liebster, die Flaschen liegen gekühlt im Eisschrank”, antwortete Marina und nahm Boris den Rosenstrauß mit den Worten ab: “sind das herrliche Rosen!”. Sie holte die hohe Vase aus der Glasvitrine, füllte sie mit Wasser und stellte die Vase mit den roten Rosen auf den Tisch. “Dann ist die erste Flasche fällig”, sagte Ilja Igorowitsch mit dem Ton der Bestimmtheit. “Boris, sei so lieb und öffne sie”, setzte er nach. Wer Ilja Igorowitsch gut kannte, hörte im Nachsatz den Schmerz heraus, dass er selbst, der früher das Öffnen der Champagnerflasche sich nie hatte nehmen lassen, nun unfähig war, die Flasche zu öffnen. Boris holte die Flasche aus dem Eisschrank, öffnete sie mit knallendem Korken und goss den “Schaumstoff” mit dem stufenweisen Nachgießen in die langgestielten Gläser, die Marina auf den Tisch neben das Kaffeegeschirr vom Nachmittag gestellt hatte. Marina, die wie Boris neben dem Tisch stehenblieb, reichte das Glas ihrem Mann in die linke Hand. “Mein lieber Sohn”, setzte Ilja Igorowitsch an, “Du hast mir und Marina mit deinem Kommen eine große Freude gemacht. Die Freude wurde zum Wunder, als wir dich spielen hörten. Mit Worten kann ich es dir nicht sagen, wie mächtig dein Spiel mein Herz bewegt hat. Es ist ein Wunder, dass uns mit dir widerfahren ist. Du bist ein großer Herr auf dem Felde der Musik, ein General, der die höchste Achtung verdient. Dafür wollen wir, und besonders ich, dir danken. Sehr zum Wohl!” Sie ließen die Gläser klingen, wobei es aus dem schief gehaltenen Glas in Iljas linker Hand schwappte, und ein Schluckvolumen des Schaumstoffs über seine schwarze Jacke und dunkelblaue Krawatte kleckerte, was Marina nach dem Anstoßschluck mit der Serviette wegwischte. Boris nahm das Wort: “Vielen Dank, ich bin gerührt, lieber Ilja Igorowitsch, liebe Marina. Doch muss ich auch hier klarstellen, dass Du es bist, mein lieber Vater, dass es einen Boris Baródin gibt, und dass Du es nicht weniger bist, dass aus mir ein Pianist geworden ist, der sich hören lassen kann…” Ilja Igorowitsch unterbrach: “Nun untertreibe nicht wieder. Du gehörst zur Spitze der Klaviermusik…” Boris riss das Wort wieder an sich: “Das mag vielleicht so sein, aber die Grundlage zu allem hast Du gelegt. Das kannst Du doch nicht bezweifeln!” Ilja Igorowitsch kämpfte mit den Tränen, gab Marina sein Sektglas zum Abstellen auf den Tisch und zog sich das Taschentuch aus der linken Hosentasche. Dann führte Boris den Generalsvergleich an: “Ich höre aus deinen Worten den General sprechen. Neu für mich ist, dass Du die Offizierslaufbahn auch in die Musik bringst, dass es auf dem Felde des klingenden Friedens einen General geben soll. Doch wenn das so sein kann, dann darf es nur ein General in ziviler Kleidung sein.” Ilja Igorowitsch und Marina lachten. Ilja: “Trinken wir auf den General des klingenden Friedens, Du Spaßvogel!” Sie hatten die Gläser geleert, hielten sie aber noch in den Händen, als Ila Igorowitsch sagte, dass er nach den bitteren Erfahrungen nichts einzuwenden hätte, wenn die Kriegsgeneräle durch Friedensgeneräle ersetzt würden.

Rückflug nach Berlin mit Zwischenstation in Warschau

Die neuen Herausforderungen

Nachttraum vom Abschied des Ilja Igorowitsch

“Ilja Igorowitsch ist tot”

Der Klavierabend mit den Schülern. Die Anstrengungen, Vera nach Berlin zu holen

Auf dem Weg zur jungen Familie

Die Kieler Musikwochen

Die letzten Tage von Boris Baródin

Impressum neobooks

Musik, Begegnungen, Hilfe zur Befreiung

Aus dem Leben eines jungen Pianisten

Boris Baródin saß am Flügel in der Knesebeckstraße 17 in Berlin-Charlottenburg. Es war ein regnerischer Herbstabend. Seit Wochen regnete es, und Boris hatte sich für sein nächstes Konzert vorzubereiten, dass er in Warschau und danach in Moskau zu geben hatte. Für die Vorbereitung blieben ihm noch knapp zwei Wochen. Er hatte sich bei seiner Asientournee eine Erkältung mit heftigen Hustenattacken zugezogen, die ihn hartnäckig in Mitleidenschaft nahmen. So saß er mit erhöhter Temperatur am Flügel und probte die schwierigen Passagen am B-Dur, dem zweiten Klavierkonzert, Opus 83, von Brahms. Damit das Schwitzwasser nicht auf die Tasten tropfte, hatte er den roten Seidenschal, rot war seine Lieblingsfarbe, zusammengerollt über die Stirn gebunden und die Enden über dem Hinterkopf verknotet. Die Medikamente zur Fiebersenkung und Hustenbekämpfung, die ihm die Hausärztin, Dr. Gaby Hofgärtner, vor einer Woche verschrieben hatte, schienen trotz regelmäßiger Einnahme wenig zu helfen. Boris hatte deshalb um einen neuen Termin gebeten, den er aufgrund seiner beruflichen Besonderheit für den nächsten Tag, einem Freitag für elf Uhr bekam, bei dem er die Ärztin bitten wollte, ihn gründlich zu untersuchen, um etwas Ernsthaftes auszuschließen, was die Ursache sein könnte, dass sich die Rekonvaleszenz über das normale Maß hinaus verzögerte. Denn eine Erkältung mit Husten war für ihn nicht ungewöhnlich, wenn er in den Monaten eines verspäteten Sommers oder früh einsetzenden Winters auf Konzertreisen war.

Boris saß am Flügel und probte an der Solo-Kadenz, als gegen acht das Telefon läutete. Es war seine Mutter Anna Friederike Elbsteiner, die ihn aus Hamburg anrief, wo sie mit dem Kaufmann und Frühwitwer Gerald Elbsteiner in einem vornehmen Hause in Blankenese mit unverbautem Blick auf die Elbe wohnte. Sie hatte den fünf Jahre älteren Kaufmann vor vier Jahren auf einer zweiwöchigen Kreuzfahrt durchs Mittel- und Schwarze Meer kennengelernt und vor drei Jahren geheiratet. Gerald Elbsteiner hatte zwei Töchter aus erster Ehe, von denen Eleonore, die ältere, mit einem Amerikaner verheiratet in Houston und Alaine, die jüngere, unverheiratet mit einem Maler des gleichen Alters in Südfrankreich zusammenlebte. Die Mutter war, wie sie es immer war, um den Gesundheitszustand ihres Sohnes sehr besorgt. Der Kontakt zwischen Mutter und Sohn war von jeher eng. So gehörte der tägliche Anruf zur Routine, der von beiden Seiten erwünscht war, aber häufiger von der Mutter als vom Sohn ausging. Diesmal bestand die Mutter darauf, dass sich Boris von einem Spezialisten untersuchen lassen solle, weil der Husten, der härter war als sonst und das Telefonieren störend attackierte, länger anhielt als gewöhnlich, was für seine Konzerte äußerst lästig sei. “Deine häufigen Erkältungen mit dem Husten hast Du von deinem Großvater geerbt.” Das sagte Anna Friedrike jedesmal zu ihrem Sohn, wenn er hustete, und verwies dabei auf die anfällige Lunge, wie sie es nannte, und auf ihren Vater, Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, den Prediger von Breslau, der nach dem verlorenen Weltkrieg eine Stelle als Prediger nicht mehr fand und als Predigerersatz Lehrer für Deutsch, Geschichte und Geographie an der Ernst Thälmann-Grundschule in Bautzen war, um sich und die Familie am Leben zu halten. Manchmal sprach Anna Friederike Elbsteiner, geborene Dorfbrunner, von der Immunschwäche, die bei ihrem Vater von dem praktischen Arzt Dr. Bodenbrecht diagnostiziert und als Ursache für die erhöhte Anfälligkeit der Luftwege für Bakterien und Viren der verschiedensten Arten angesehen wurde.

Diese “Immunschwäche” hatte sich bei Boris Baródin wegen der ständigen Erwähnung vonseiten der Mutter, selbst bei dem leisesten Husten, den er nicht unterdrücken konnte, wenn er mit ihr telefonierte, ins Hirn festgesetzt. Sie hat wie eingemeißelt einen festen Platz im Hirn eingenommen, und bei jeder Erwähnung schüttete er im Stoß sein Adrenalin aus und bekam einen roten Kopf, für den er sich schämte, auch wenn es die Mutter am anderen Ende der Leitung in dem vornehmen Bürgerhaus in Blankenese mit dem ungetrübten Blick auf die Elbe weder sehen noch die Schweißabsonderung in ihrer Geruchsschärfe riechen konnte.

Bei dem Telefonat teilte Boris der Mutter mit, dass er einen Brief von Vater Ilja Igorowitsch Tscherebilski, dem ehemaligen Bautzener Stadtkommandanten der Roten Armee, erhalten habe. Der Brief sei von der Krim abgeschickt worden, wo der Vater in einer Datscha für die hohen Offiziere einen mehrwöchigen Urlaub verbringe. Er schrieb, dass er geschieden sei und mit einer jüngeren Lettin, die er in Leningrad kennengelernt hat, zusammenlebe. Seine Gesundheit sei seit dem tragischen Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in die Tschechoslowakei angeschlagen. Er leide unter Kopfschmerzen und einem hohen Blutdruck, habe sich vor zwei Monaten wegen eines blutenden Magengeschwürs einer Notoperation in Moskau unterziehen müssen. Ilja Igorowitsch freue sich auf das Brahms’sche Klavierkonzert, dass sein Sohn mit der Moskauer Philharmonie spielen werde. Er selbst habe sich in seiner Jugend an diesem Konzert probiert, es aber seiner spielerischen Schwierigkeit wegen bald wieder zur Seite gelegt. Anna Friederike sprach immer mit tiefer Empfindung von Ilja Igorowitsch und kam ins Schwärmen, wenn sie von seinen musikalischen Exkursionen auf dem Flügel in Bautzen erzählte. “Er ist ein gebildeter und hoch musikalischer Mensch”, pflegte sie zu sagen, wenn die Rede auf seinen Vater kam.

 

Boris hatte seine Zweifel, ob seine Mutter eine glückliche Ehe mit Gerald Elbsteiner führe. Sie erwähnte lediglich, dass er ein tüchtiger Geschäftsmann sei und vor einigen Wochen bei einer Auktion in Paris einen Seurat für 37 tausend DM ersteigert habe. Auch sei die Renovation des Hauses fast abgeschlossen, das diesmal einen hellbraunen Außenanstrich bekommen habe. Mehr ließ Anna Friederike über ihr Privatleben nicht verlauten. Er hatte seine Vermutung, dass Wesentliches nicht ausgesprochen wurde, was sich in ihr angesammelt hatte. Doch wollte er da nicht hinein fragen, um ihr nicht noch einen Schmerz zuzufügen. So ließ er es bei der Frage nach ihrer Gesundheit bewenden, wie er es bei den Telefonaten in den letzten Monaten schon tat. Auf diese Frage erklärte Anna Friederike auch diesmal, dass sie sich bis auf gelegentliche Schlafstörungen, die sie auf das feuchte Klima in der norddeutschen Bucht schob, gesund fühle. Nachdem Boris seiner Mutter versprach, einen Spezialisten wegen seiner anhaltenden Erkältung aufzusuchen, wurde das Gespräch beendet.

Er ging in die Küche, brühte chinesischen Kräutertee auf, gab eine Löffelspitze Ingwer in die gefüllte Tasse, kehrte zum Flügel zurück und setzte die Tasse auf den Tisch mit den Notenbergen, der in Reichweite links neben der Klavierbank stand. Die ersten Takte aus der Kadenz im ersten Satz waren gespielt, als es an der Tür läutete. Boris ließ es dreimal klingeln, weil er sich nicht in der Verfassung fühlte, irgendeinen Besuch zu empfangen. Der rote Schal war über der Stirn schweißdurchnässt, als er sich nach dem dritten Klingelzeichen erhob, noch einen Schluck Tee aus der Tasse nahm und zur Tür ging. Es war Claude, ein begabter Schüler, den er seit fünf Jahren unterrichtete. Claude stand aufgeregt vor der Tür. Boris führte ihn ins Musikzimmer, sein Arbeitszimmer. Sie setzten sich in die beiden schmalen Sessel in der kleinen Klubecke, die dem Flügel gegenüber neben dem hohen Fenster war. Boris bot ihm vom chinesischen Kräutertee an, den sich Claude, der blass im Gesicht war, wortlos einschenken ließ. Olga, seine junge Freundin, eine russische Emigrantin aus Leningrad, die seit zweieinhalb Jahren ohne deutschen Pass in der Bundesrepublik lebt, sei von einem Dealer in einem dunklen Hausflur in Wedding zusammengeschlagen worden, weil sie ihm das Heroin, das sie von ihm vor einer Woche bezogen hatte, nicht zahlte, weil ihr das Geld fehlte. Sie liege mit einem geschwollenen Gesicht, Hämatomen über der Brust und Hautschürfungen an Hals und den Armen im Bett. “Sie soll Anzeige bei der Polizei erstatten und sich von einem Arzt behandeln lassen.” Das war der Vorschlag von Boris, den er dem begabten Schüler mit allem Nachdruck gab. Claude schüttelte den Kopf: “Zur Polizei kann Olga ohne Pass oder Aufenthaltsgenehmigung nicht gehen. Da kommt sie als Emigrantin ohne Papiere gleich in die Zelle und auf die Liste der Illegalen, die nach Russland wieder abgeschoben werden.” Boris wischte sich den Fieberschweiß von der Stirn: “Dann kann sie also gar nichts machen, sondern nur darauf warten, dass sie wieder zusammengeschlagen wird.” “So ist es”, bemerkte Claude mit blassem Gesicht, in dem die Augenlider zuckten.

Boris spürte, dass zwischen Claude und Olga eine engere Beziehung war. Eine Gleichgültigkeit gegenüber der illegalen russischen Emigrantin Olga Zerkow gab es nicht. Eine solche, in der bundesrepublikanischen Gesellschaft verbreitete Einstellung war hier nicht erwünscht und auch nicht zulässig. Dafür hatten beide, Lehrer und Schüler, Boris Baródin und Claude Zerbal noch den Anstand vor dem Menschen im Allgemeinen und das Mitgefühl zu dem Menschen, der in Not geraten war, im Besonderen, wenn auch bei Claude noch etwas anderes, etwas Persönliches dazukam. “Was können wir dann tun?”, fragte Boris und wischte sich den Schweiß von der Stirn. “Das weiß ich auch nicht”, erwiderte Claude mit dem nervösen Augenzwinkern. Dann sagte er besorgt: “Der Kerl, der Türke, wird wiederkommen und das Geld eintreiben, und wenn es mit Prügel ist. Doch ich habe das Geld nicht, um es Olga zu geben, um sie freizukaufen.” “Wieviel muss sie denn zahlen?”, fragte Boris, einen Schluck kalten chinesischen Tee aus der Tasse trinkend. Dabei sah er in das ratlose Gesicht von Claude, der den Freikauf von Olga aus eigener Tasche nicht bewältigen konnte. “Die Summe ist auf etwa 900 DM angelaufen”, sagte Claude mit leiser, besorgter Stimme. “Das Geld kann ich dir geben, aber erst morgen, weil ich es von der Bank holen muss”, sagte Boris. “Seit wann nimmt Olga denn Drogen?”, fragte er. Sie beschafft das Heroin für einen Bekannten, der versprochen hat, ihr eine zurückdatierte Aufenthaltsgenehmigung zu beschaffen, damit sie damit einen deutschen Pass beantragen kann”, antwortete Claude. Boris machte ein ernstes Gesicht: “Dann hat sich Olga von diesem Typen abhängig gemacht. Die ganze Sache ist sehr dunkel und wird eines Tages entdeckt werden. Dann kommt eine harte Strafe auf beide zu und Olga wird, weil sie illegal in Berlin ist und mit dem Betrug eine zweite Straftat begangen hat, sofort und unwiderruflich in ihr Heimatland abgeschoben, wo sie das zweite Mal und wahrscheinlich noch härter bestraft wird.” Die Hände von Claude zitterten. Sein Gesicht wurde aschfahl, als er mit leiser Stimme sagte, wobei er sich in unregelmäßigen Abständen verschluckte, dass Olga eine Halbwaise sei. Ihr Vater war Soldat in der Roten Armee und kam bei einer Militärübung ums Leben. Die Mutter habe eine Lungentuberkulose, die sich trotz Medikamente nicht bessert. Sie arbeite in einer Blumenbinderei und verkaufe zweimal in der Woche Blumen auf dem Markt, um sich mit dem kleinen Erlös am Leben zu halten, wobei das Geld zum Teil für die Medikamente draufgehe. Die Mutter habe ihr zur Emigration in die Bundesrepublik geraten, damit sie sich hier ein besseres Leben aufbauen könne. Sie sagte: “Hier haben wir keine Zukunft. Mich wird die Tuberkulose vertilgen, und du sitzt dann alleine da. Helfen wird dir hier keiner.”

Boris machte ein betroffenes Gesicht. Er wusste, dass viele Mädchen aus den Ländern des Ostblocks unter falschen Versprechungen in die Bundesrepublik eingeschleust und hier in die Prostitution getrieben werden. Der Traum vom besseren Leben weicht schnell der Erkenntnis vom Höllendasein, wenn sie in totaler Abhängigkeit ohne oder mit gefälschten Papieren in erbärmlichen Unterkünften leben und machtlos den oft brutalen Geschäften und Machenschaften ausgeliefert sind. Da müssen sie sich Prügel und Vergewaltigungen wehrlos gefallen lassen. Dagegen können sie nichts machen. Denn die einzige Alternative ist das Abschieben durch die Behörde wegen des illegalen Aufenthalts. Und das fürchteten sie am meisten, in ihre Heimatländer abgeschoben zu werden. So nehmen sie das rechtlose, unmenschliche Sklavenleben, als “heiße” Ware im Dschungel des blühenden Sexgeschäfts verkauft zu werden, ohne ein Widerwort hin. Unter den miserabelsten Bedingungen in der Bundesrepublik lassen sie sich im Wissen der totalen Abhängigkeit von den Bossen und Zuhältern deren willkürliche Misshandlungen gefallen.

In seiner Sprachlosigkeit ging Boris zum Flügel und spielte den zweiten Satz, das d-Moll ‘Allegro appassionato’. Er drückte das Gefühl des Schmerzes “brahmsisch” in die Tasten. Der Schweiß tropfte von der Stirn, weil er sich das Stirntuch nicht umgebunden hatte. Der Weltschmerz tönte in weiten elegischen Bögen. Im Wechsel zwischen Dur [F; B] und Moll [d; g] war die Atmung der Welt zu spüren. “Wunderbar!”, murmelte Claude, der seinen jungen Lehrer ob seiner außergewöhnlichen Musikalität zutiefst bewunderte. Rasch hatte die “Ton-Atmung” den Raum gefüllt, und Boris atmete ihr mal erleichternd heiter, als riss die Wolkendecke auf, mal angestrengt und schwer zu, wenn sich Neues und Schweres in ‘violetten’ Tonfarben ankündigte und sich auf den elegischen Bögen auslegte, auf diesen Bögen wie über eine Brücke von Pfeiler zu Pfeiler zog. Die Brücke, die gesucht und nötig ist, um von einer Seite auf die andere Seite zu kommen, wenn ein Tal, eine Schlucht, ein Abgrund zu überqueren ist. Das Gefühl bedarf der Brücke, um nicht haltlos abzustürzen beziehungsweise sich himmelwärts in Luft aufzulösen. Das Wort im menschlichen Zuspruch weist auf die Brücke mit dem Überschreitbaren, versucht zu sagen, dass nicht alles verloren ist, dass es die Hoffnung und Liebe gibt. Stärker als das Wort, selbst das Wort der größten Zuneigung und des tiefsten Mitempfindens, weil ausgefüllter, harmonietragender, herznäher und gefühlvoller, sprechen die Töne in der vertikalen Verknüpfung der Sept- Non- und anderen Akkorde sowie die horizontalen Reihungen mit den Ausladungen der elegischen Bögen vom tröstenden Dasein der Brücke. Diese Brücke hatte wohl Boris im Sinn, als er im zweiten Teil des Satzes fester die Akkorde mit der linken Hand griff als im ersten Teil. Er träumte und schwitzte beim Spielen. Er verzog die Lippen, hob und senkte den Kopf, aber drehte ihn nicht. “Da kommt die Hoffnung!”, sagte er, und seine Augen begannen zu leuchten vor Erleichterung und Freude. “Da durchatmet die Musik das Leben tief innen. Ist das nicht wunderbar?! Das ist die beste Botschaft, die ich dir heute Abend mitgeben kann”, sagte er und wandte das Gesicht zu Claude in der Klubecke, der von dem Spiel verzaubert war. Da war ihm selbst das Problem mit Olga, das doch ein Existenzproblem erster Güte war, aus dem Kopf entglitten. Auch leuchteten seine Augen, als hätte sich das Problem gelöst, hätte Olga eine ordnungsgemäße Aufenthaltsbescheinung, bräuchte sie nicht mehr den teuren “Stoff” für den Kerl beschaffen, der ihr so große Versprechungen bezüglich der Ausweispapiere gemacht hatte und weiter machte, wenn und solange er den “Stoff” gratis bekam, hätte Olga diesen lästigen Kerl endlich vom Hals, würde ihre Schulden bei dem Türken bezahlen und hätte sich vor ihm und seiner Prügel nicht mehr zu fürchten.

Claude zeigte keine Zeichen des Gehens. Vielmehr saß er regungslos mit verklärtem Blick in der Klubecke und hörte sich noch den ‘Andante’-Satz an. Da ergriff ihn die Sensibilität und Feinheit der tonalen Versetzungen zwischen Dur und Moll mit den elegischen Ausziehungen. Er versuchte die Atmung auf das musikalische Hinundherschwingen abzustimmen, im Ein- und Ausatmen das Bewusstsein zu halten und zu stärken, dass es die Brücke über die Schlucht gibt, an die man sich halten und die man betreten kann, wenn man von der einen Seite zur anderen, von der dunklen zur hellen, von der schwermütigen zur heiteren Seite will ohne den gefürchteten Absturz von Gefühl und Leben. Keiner hätte diese Atmung mit der Sensibilität für Frieden und Sanftheit oder so schwingungsvoll in der Bestimmtheit des Wollens, des Lebenwollens so voll und fein in den Raum gespielt wie Boris, dachte Claude im stillen Staunen. Und Boris spielte mit geschlossenen Augen. Das Notenbuch brauchte er nicht zum Lesen, die Blätter wurden nicht umgeschlagen. Die Finger taten es besser als beim Lesen. So brachte das Spiel die große Botschaft vom Frieden in den Raum, von der Bedeutungsfülle der ruhigen und rhythmischen Atmung. Es war die großartige Offenbarung von der Einmaligkeit mit der weiten Öffnung des Genies.

“Claude, sei mir nicht böse, aber nun muss ich ins Bett; ich fühle mich nicht wohl”, sagte Boris mit verschwitzter Stirn und blickte auf die ruhenden Tasten nach Beendigung des ‘Andante’-Satzes. “Entschuldige, dass ich nicht selber drauf gekommen bin”, erwiderte Claude, der sich aus dem Sessel erhoben hatte, “aber dein Spiel hat mich in eine Welt gehoben, in der ich gerne länger geblieben wäre. Sie war so groß wie die Weite der Frühlingswiese, über der das Blütenmeer in sanften Wellen wog und der frische Duft die Ankunft der Hoffnung verhieß. Du hast die schöne Welt in den Raum gespielt, nach der ich mich sehnte.” “Diese Welt findest du auch in der Beethoven-Sonate, an der du arbeiten sollst. Tu es mit ganzer Hingabe, und die schöne Welt kommt auf dich zu, wird in dir lebendig”, sagte Boris mit einem sanften Lächeln. Darauf meinte Claude, dass es ihm gegenwärtig schwerfalle, sich auf das Klavierspiel zu konzentrieren, solange das Problem mit Olga nicht gelöst sei. “Dabei werde ich dir helfen und tun, was in meinen Kräften steht”, versuchte Boris seinen Schüler zu beruhigen, ihn zur Arbeit an der Sonate zu ermuntern und zu stärken. Denn er war von der musikalischen und technischen Begabung von Claude überzeugt.” “Geh ans Klavier und übe, damit aus dir ein Pianist wird, dessen Spiel die Menschen mit Freude und Begeisterung erfüllt. Doch ins Üben muss Stetigkeit kommen, dann kommt auch der Erfolg.

 

Bedenke, dass die Welt der Musik nicht nur schöner ist, sie ist durch ihre Herznähe um ein Vielfaches größer als die äußere Welt, in der wir stehen.” Bei dieser Anmerkung der prinzipiellen Art über die Bedeutung des stetigen Übens wischte sich Boris einige Male den Schweiß von der Stirn. Claude hatte ihn wohl verstanden und dankte dem Lehrer für die Ermahnung, aber noch mehr für die Hilfsbereitschaft in Sachen Geld, um Olga's Schulden zu bezahlen. Er verabschiedete sich und wünschte Boris die gute Besserung. “Komm morgen Nachmittag gegen drei; dann habe ich auch das Geld.” Mit diesem Schlusssatz brachte Boris seinen Schüler an die Tür und gab ihm zum Abschied die Hand. Sie fühlte sich heiß und feucht an. Die depressive Stimmung bei Claude entging ihm nicht. Er überging sie, indem er ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter gab und ihn dabei anlächelte, um ihm die Zuversicht mit auf den Heimweg zu geben.

Die Bettlake war nass, als Boris nach einer schlaflosen und durchschwitzten Nacht die Quecksilbersäule herunterschlug und das Thermometer in die rechte Achselhöhle schob. Es waren über 38 Grad Celsius, als er vor dem Versuch des Einschlafens, es war halb elf geworden, die Temperatur gemessen hatte. Er hatte noch einmal eine Tablette zur Fiebersenkung zerkaut und mit Mineralwasser heruntergespült, weil er alles tun wollte, was ihm die Ärztin Dr. Gaby Hofgärtner verordnet hatte. Auch sehnte er sich nach einer ruhigen Nacht, denn seit drei Nächten hatte er nicht mehr richtig geschlafen. Und zum Fieber kamen die Fieberträume, in denen es nicht nur um technische Fehler beim Vortrag des Klavierkonzertes ging, sondern ihm den Blackout mit dem Verlust der Erinnerung über eine ganze Passage der Kadenz des ersten Satzes ins fiebernde Bewusstsein suggerierte, was ihn stöhnen, dann aufschreien ließ, dass ihn Frau Müller, die freundliche Mieterin in der nächst höheren, der zweiten Etage, besorgt am Morgen, es war vor zwei Tagen, fragte, ob ihm etwas zugestoßen sei. Auch in dieser Nacht wurde er vom Blackout geplagt, diesmal im letzten Satz, dem ‘Allegretto grazioso’, dort, wo der Presto-Schlussteil einsetzt. Da klappte nichts: die Dezimen der linken Hand vergriff er ebenso wie die Oktavläufe und Oktavsprünge der rechten Hand. Diese Träume haben ihn stark mitgenommen. Sie haben ihn verunsichert, ja erschüttert. Am Morgen stand ihm der Angstschweiß im Gesicht. Er fühlte sich gedrückt und unfähig, das große Konzert vorzutragen. Dabei wusste er, dass Musiker unter diesen Alpträumen leiden, auch wenn sie kein Fieber haben, und das meist dann, wenn der Konzerttermin nicht mehr weit ist und immer näher rückt.

Das Quecksilber stieg an diesem Morgen wieder bis 38 Grad. Boris hängte sich den Bademantel um und legte ein Handtuch um den verschwitzten Hals. Er ging ins Bad und betrachtete das gerötete Gesicht im Spiegel. Bei der Betrachtung sah er, dass der Hals geschwollen war. Er fühlte ihn ab und spürte einen Druckschmerz unter dem Kieferwinkel. Beim Blick in den geöffneten Mund sah er, dass die Mandeln geschwollen und gerötet waren. Auch waren auf ihnen stecknadelkopfgroße, grauweiße Eiterpunkte zu sehen. Da es nicht das erste Mal war, dass die Mandeln entzündet waren, stellte er vor dem Spiegel die Diagnose der eitrigen Tonsillitis. “Warum hat nicht Mutter die Mandeln rausnehmen lassen? Nun machen sie Probleme, wenn ich sie wirklich nicht gebrauchen kann”, dachte er mit leichter Verärgerung. Er ging in die Küche, rührte zwei Löffel Kochsalz in ein Glas mit aufgekochtem Wasser, ging ins Bad zurück und gurgelte mehrmals das Salzwasser im Rachen bei hochgestrecktem Kopf, sah im Spiegel, dass sich an den Mandeln nicht verändert hatte, putzte die Zähne, wusch das Gesicht, ging wieder in die Küche und machte sich einen Kamillentee. Während das Wasser zum Kochen gebracht wurde, setzte er sich an den Flügel und spielte die Passagen aus dem Brahms-Konzert, die ihm im Fiebertraum aus den Fingern wie aus der Erinnerung genommen waren. Es klappte, wenn auch nicht zur vollen Zufriedenheit, denn der Tonfluss, das “Asyndeton” war nicht so, wie es sein sollte und auch schon war. Doch Boris fand das Selbstvertrauen zurück, strafte den Alptraum Lügen und nahm sich ernsthaft vor, die Ärztin gegen elf aufzusuchen, sich gründlich untersuchen zu lassen und das Antibiotikum gegen die Tonsillitis verschrieben zu bekommen, um vom Fieber und den nächtlichen Alpträumen befreit zu werden. Mit diesen Träumen wollte er sich nicht länger herumquälen, die ihm die Unfähigkeit des Klavierspielens mit dem Blackout suggerierten. So musste er etwas Wirksames zur Stärkung seiner Kräfte unternehmen, um seine Übungen erfolgreich fortzusetzen. Das Konzert musste inwendig wie auswendig sitzen; musste musikalisch und technisch beherrscht werden. Die Partitur musste bis zur letzten Note und dem letzten Detail im Gedächtnis, die technische Problemstellung in den Fingern gelöst sein. Letzteres musste das Ohr und Gemüt im Zuhören durch die Selbstverständlichkeit der spielerischen Leichtigkeit, als hätte es nie ein Problem gegeben, treffen, überzeugen, mitreißen, einnehmen, “sprachlos” machen, damit es den Pianisten im Werk als “Held” bewundern und feiern kann. Denn ob Brahms oder Beethoven, beide treten nicht mehr auf die Bühne, würden sie es tun, man würde großartige Pianisten erleben, die ihre großartigen Tonschöpfungen selbst im Solopart vortrügen. [So verzauberte der junge Beethoven in Wien die Zuhörer durch sein Klavierspiel, die ihm den künstlerischen Beinamen: ‘der Teufelspianist’ oder ‘der Paganini des Klaviers’ gaben.] Das wusste Boris sehr wohl. So durfte auch bei seinem Vortrag nicht erst gesucht oder nachgedacht werden. Der vortragende Pianist ist der Mittelpunkt, auf den alles zugeschrieben ist, auf den alle hören und schauen, wie er’s macht; er ist der Kronzeuge und Beherrscher des gigantischen Tonwerks, der sich vom Orchester tragen lässt. Beim Spiel der Finger mit den Tasten ist der Pianist die ‘Verkörperung’ des Tonwerks. In diesem Gebäude gibt er den Ton an. Der Dirigent verfolgt sein Spiel mit ‘gespitzten Ohren und führt den großen, im Halbrund um den Flügel sitzenden Klangkörper dem Pianisten mit größter Aufmerksamkeit zu und dann wieder weg, wenn der Solopart mehr zu sagen hat oder es allein sagen soll, wie beim Vortrag der Kadenz. Darum war es dringend erforderlich, dass Boris zu Kräften kam und das in allen Bereichen seiner künstlerisch empfindsamen Individualität, denn die kurze Zeit bis zur Aufführung in Warschau drängte.

Es war Freitag. Boris saß zehn vor elf im Wartezimmer der Ärztin Dr. Gaby Hofgärtner. Die Arzthelferin Margit Hoffmann begrüßte ihn freundlich mit den Worten: “Guten Tag, Herr Baródin. Nehmen Sie bitte einen Moment Platz. Es wird nicht lange dauern. Frau Doktor Hofgärtner weiß, dass Sie für elf Uhr bestellt sind.” Boris nahm Platz und richtete sein Augenmerk auf die Arzthelferin, das beim Telefonieren mit dem Festmachen von Terminen als auch beim Herausziehen der Karteikarten aus dem Karteischrank. Sie gab eine gute Figur ab, wenn sie schrieb oder irgendwelche Eintragungen machte. Die Arzthelferin war eine hübsche junge Frau, deren Alter Boris auf etwa zwei- bis fünfundzwanzig Jahre schätzte. Sie hatte ein schönes, ovales Gesicht mit dunklen Augen und dunklem Haar. Auch hatte sie schön ausgeformte, lange Finger an weichen, schmalen Händen. Als Pianist bestätigte er ihr, ohne es ihr zu sagen, die richtigen Hände für’s Klavier.

Nach etwa zehn Minuten verließ eine Patientin, die schon die Mitte ihres Lebens erreicht haben musste, das Sprechzimmer. Sie schaute Boris ins Gesicht und grüßte ihn mit Namen. Er grüßte zurück, ohne jedoch ihren Namen nennen zu können. Da ihm das fast täglich geschah, hatte er sich daran gewöhnt. Er wünschte dieser Patientin gute Genesung und einen guten Tag, als die Arzthelferin ihn mit den Worten: “Herr Baródin bitte!” zum Eintreten ins Sprechzimmer aufforderte. Dr. Gaby Hofgärtner, eine sympathische Erscheinung der Anfangvierziger, saß hinter dem Schreibtisch und machte ihre Notizen auf der Karteikarte der Patientin, die, das hörte Boris wohl, die Tür zum Betreten wie Verlassen der Praxis leise und gedankenvoll schloss. “Nehmen Sie doch Platz, Herr Baródin”, sagte Frau Dr. Hofgärtner, während sie die Eintragungen machte. Boris setzte sich auf den Patientenstuhl links neben dem Schreibtisch, als die Ärztin sich aus ihrem Stuhl erhob, zum Waschbecken ging und sich die Hände wusch. Sie war eine hochgewachsene Frau mit aufmerksamem Gesicht, in dem Züge der Nervosität im Spiel der Lippen nicht zu verkennen waren. Von fraulich hervortretenden Brüsten konnte man bei ihr nicht sprechen. Überhaupt fanden sich an ihr maskuline Züge. Bei genauer Betrachtung hatte sie ein eher scharf geschnittenes Gesicht mit einer relativ langen Nase und scharf gezogenen Lippen, die dünner ausgefallen waren, als sie Frauen sonst trugen. Im stramm zurückgekämmten Haar waren dünne Grausträhnen, und auf dem leicht vortretenden Kinn lag ein feiner Bartflaum.