Kuckucksgeschwister

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Kuckucksgeschwister
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Helfried Stockhofe

Kuckucksgeschwister

Helfried Stockhofe: Kuckucksgeschwister

Text und Umschlaggestaltung: © 2021 Copyright Helfried Stockhofe

Verlag: Helfried Stockhofe, Untere Ringstr. 22, 93455 Traitsching

helfried.stockhofe@web.de

Druck: epubli, ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Helfried Stockhofe

Kuckucksgeschwister

und immer dieselbe Frage:

Kommt zusammen,was zusammengehört?

„Schneeweißchen und Rosenrot, fürchtet euch nicht, wartet, ich will mit euch gehen.“ Da erkannten sie seine Stimme und blieben stehen, und als der Bär bei ihnen war, fiel plötzlich die Bärenhaut ab, und er stand da als ein schöner Mann, ganz in Gold gekleidet.

(Aus Brüder Grimm: Schneeweißchen und Rosenrot)

Kuckucksgeschwister

Eine Lesung vor *innen

Das Geschlechter-Interview

Märchenhafte Freundschaften

Nicht wirklich eine Schwester

Verbundene Familien

Erklärungsversuche

Neuanfangsexperimente

Eine Lesung vor *innen

1

Ein kurzer Rock Wie kann man nur Sie hätte es sich doch denken können Schulbank so eine Schulbank vom Lesesaal irgendwie schäbig Provinz eben wird sie sagen und sie schaut verlegen "Liebe Zuhörer innen" wirklich Zuhörer innen nicht Zuhörer und Zuhörerinnen Zuhörer innen mit einer Pause vor dem Innen Verschlusslaut besser Verschlucklaut Eine Sperre beim Sprechen als wollte ihr das Innen nicht von den Lippen kommen Political Correctness muss halt sein Zeit ist Geld Zuhörerinnen und Zuhörer dauert länger Ein Alptraum nein Albtraum sagt jetzt der Duden Anpassung an schlampige Sprache Aus Alptraum wird Albtraum aus Zuhörer und Zuhörerinnen werden Zuhörer innen mit einem Sternchen dazwischen Ist ein Albtraum Aber man gewöhnt sich dran soll sich dran gewöhnen dann kann man wieder zur Tagesordnung übergehen Nächstes Jahr hat man sich daran gewöhnt und frau auch Blödes frau Vielleicht reicht das Sternchen den Frauen Sie schlägt die nackten Beine übereinander hat was zum Vorzeigen Grad dass man das Höschen nicht sieht Sternchen und nackte Beine "Ich freue mich hier zu sein" Political Correctness sag ich doch Freut sie sich wirklich Alle schauen freundlich Ich nicht Ich bin gespannt Nackte Beine Alter schau ihr ins Gesicht nicht auf die Beine!

"Das wird eine tolle Lesung", hatte mir die Lies gesagt, unsere Stadtbibliothekarin, die Leseratte Lies, die schon im Namen ihre Berufung trägt. "Ja, meinst du?", hatte ich zurückgefragt. "Ich hab von der noch nie etwas gelesen." Und sie: "Dann wird es Zeit, dass du sie wenigstens mal hörst!" Sogar an die Wand der Führerscheinstelle hatte sie ein Plakat hingehängt, das für die Lesung warb, mit Tesastreifen an die gegenüberliegende Wand des Vorraums, von dem ich durch eine Glasscheibe getrennt bin, so richtig in meinem Blickfeld und so, dass alle Vorübergehenden es nicht übersehen konnten. „Extra für mich?“, hatte ich sie gefragt und sie hatte gelacht.

Ein schönes Gesicht, dachte ich mir, als ich das Plakat sah, das lassen wir hängen. Tag für Tag hab ich es angeschaut und mich jeden Tag ein wenig mehr auf die Lesung gefreut. Ein schönes Gesicht, aber sicher mit Fotoshop bearbeitet, nahm ich an. Aber man weiß ja nie. Die Augen groß und blau mit einem dezenten Grauton, durch eine Brille mich anschauend, eine Brille mit roter Fassung! Sie will auffallen, dachte ich mir. Die Haare blond, lockig, halblang. Irgendetwas an dem Gesicht war mir rätselhaft vertraut. Das war wohl Absicht, so wie ihr geheimnisvolles Lächeln. Geheimnisvolle Vertrautheit, raffiniert! Kein ganz bestimmter Typ und kein besonderer Typ. Oder war gerade das das Besondere? Natürlich erschien sie auf dem Plakat zeitlos jung. Ich schätzte sie auf Vierzig. Doch sie sah so aus, als wäre das Alter völlig egal. Und jeden Tag, wenn ich zur Arbeit kam, lächelte sie mich an. Das machen die meisten Menschen nicht, schon gar nicht die Frauen, schon gar nicht die Frauen auf der Arbeit, die Arbeiter*innen mit Sternchen. Obwohl: Die Arbeiterinnen brauchen ja das Sternchen nicht. Nur solange das Sternchen noch aufregt, bringt es den Frauen etwas, wenn es Alltag ist, werden sie sich wieder hintanstellen müssen. Arbeiterinnen ist eh keine schöne Bezeichnung, klingt nach Bienen. Oder Ameisen.

Mit den Beinen lenkt sie von ihrem Gesicht ab und von ihrem Buch Will sie das Oder bin ich der Einzige der auf die Beine starrt Die Schuhe interessieren mich nicht Was nur die Frauen mit den Schuhen haben Und erst recht die Männer Ach deshalb haben es die Frauen mit den Schuhen Schuhe interessieren mich nicht Bin ich kein richtiger Mann Jetzt stellt sie die Beine gerade hin geschlossen wie es ihr die Mutter beigebracht hat kein Einblick "Die Sonne hatte sich hinter der Wolke verzogen" Wieso nicht umgekehrt Die Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben Figur-Grund-Problem Soll die Sonne die Aktive sein die Wolke nur eine Randfigur Oder ist die Wolke die Starke hinter der sich die schutzbedürftige Sonne verstecken will Auf jeden Fall hat sich die Wolke vor die Sonne geschoben ist doch wohl logisch Was will sie uns sagen mit "Die Sonne hatte sich hinter der Wolke verzogen" Heißt es nicht „Die Sonne hatte sich hinter die Wolke verzogen“ Sie schaut mich an zögert Hat sie meine Gedanken gehört Lächelt sie?

Ist es ein spöttisches Lächeln für meine Genauigkeit, für meine Erbsenzählerei, wie es manche höflich ausdrücken, für meine Korinthenkackerei, wie es sich manche Kollegen und Kolleginnen, neuerdings Kolleg*innen, nicht zu sagen trauen, oder für meine Tipferlscheißerei, wie es mir der Wigbert vorwirft? Mein Bruder Wigbert, der keine Tipferl scheißt. Dann kommt noch gleich der nächste Vorwurf: meine ewige Prinzipienreiterei! Aber das kann die seltsame Autorin dieses seltsamen Buches ja nicht wissen. „Die Frau auf der Trompete.“ Was soll dieser Titel? Will sie originell sein? Sicher will sie originell sein. Ohne das geht es heutzutage nicht. Soll der Titel womöglich eine Anspielung auf sexuelle Aktivitäten sein? Ohne das geht es heutzutage auch nicht. Ist die Trompete das beste Stück des Mannes? Bläst sie auf dieser Trompete? Oder ist die Trompete nur ein Instrument zur sexuellen Befriedigung wie die obligatorische Schlangengurke oder Banane? „Die Frau auf der Trompete“. Deshalb stand im Hintergrund eine Trompete - auf dem Plakat in der Führerscheinstelle. Der Titel stand nicht mit drauf. Warum nicht? Womöglich befürchtete sie, dass die Originalität den Bogen überspannt hätte. „So ein Blödsinn!“, hätten die in der Führerscheinstelle Vorübergehenden gesagt. Oder hätten sie an den biographischen Film über Udo Jürgens gedacht? Saxophon und Trompete, das liegt nahe. Der Titel soll eine Verbindung zu Udo Jürgens herstellen. Mit allen Tricks wird heutzutage gearbeitet. Vielleicht will sie nicht tricksen oder nicht sich einen Trick nachsagen lassen, deshalb wirbt sie auf dem Plakat nicht mit dem Buchtitel, sondern nur mit sich und ihrem schönen Gesicht.

Stiert in ihr Buch als wollte sie in die Trompete reinblasen Flötet aber runzelt die Stirn Kindheit ja klar auch ohne die geht es nicht Wahrscheinlich stirbt gleich die Mutter oder der Vater missbraucht die Kleine Drama pur Ach sie bekommt eine Trompete ganz banal Eine Trompete für ein Mädchen das ist nicht banal Wozu und warum Sie rasen wieder davon die Gedanken und Fantasien meine Fantasien Warum warten sie nicht ab Werd es schon noch erfahren Sie wird es mir schon noch erzählen Jetzt lächelt sie wieder Nackte Beine wieder übereinander in die andere Richtung diesmal Glatt rasiert kräftig gewadelt Ein Schuh klappt am Fuß herunter Klack kümmert sie nicht ist wohl eine Nummer zu groß Warum Ein Blickfänger Ein Ablenker Alles berechnet durchkalkuliert Weil das Mädchen zu große Schuhe geschenkt bekommt Trompete und Schuhe gehören irgendwie zusammen Alter schau wieder in ihr Gesicht häng an ihren Lippen Rosenrot Schneeweißchen und Rosenrot Sie das Rosenrot das Mädchen im Buch das Schneeweißchen die braven Geschwister superbrav untereinander zu sich und zu der Mutter Kitschiges Rührstück Und wer ist der Bär der verwunschene Königssohn und wer der böse Zwerg Ich bin kein Königssohn Sie schaut mich schon wieder an Warum immer in der ersten Reihe Reserviert wird immer vorne Ich schlage meine Beine übereinander.

Sie sieht, dass ich mir Notizen mache, und das ist wohl der Grund, warum sie mich anschaut. Einer der sich Notizen macht und in der ersten Reihe sitzt … Da braucht man keine kriminalistische Ader – und frau auch nicht. Das blöde „frau“. Angeblich ist meine Meinung gefragt, zumindest zu diesen banalen Ereignissen wie ein Lesung in der städtischen Bibliothek. In der Redaktion werden sie sich wieder lustig machen über meinen Bericht. Vielleicht können sich auch die Zeitungsleser*innen darüber amüsieren. Ich soll neben meiner Genauigkeit auch einen Humor haben, einen eigenartigen zwar, meinen sie, aber immerhin. Wenn ich ihre täglichen Elaborate korrigiere, vergeht ihnen das Lachen. Ob sie es schon bereut haben, mich auch noch zum Korrekturlesen für ihre Zeitung engagiert zu haben? Interessanter als meine alltägliche Arbeit auf der Zulassungsstelle ist es allemal. Doch manchmal wird mir mein Nebenjob zu viel. Nicht nur zeitlich. Doch wer soll es schon machen? Pensionierte Deutschlehrer haben es schon versucht und den Job gleich wieder hingeschmissen. Ach, das kann ich gut verstehen, denn man könnte manchmal verzweifeln, was aus der deutschen Sprache geworden ist!

Sie rutscht auf ihrem Stuhl hin und her zieht den kurzen Rock nach unten schnauft tief ein macht Kunstpausen schnauft aus Ihr Schnaufen dringt in mein Ohr und verfängt sich dort Das Mädchen mit der Trompete und den zu großen Schuhen weint fühlt sich unverstanden kommt nicht zurecht damit Ich setze mich breitbeinig hin bin ja ein Mann Räuspern Lehne mich zurück Husten Warum verdammt müssen Leute räuspern und husten wenn es still wird Gefühlsverweigerung sich orten festmachen in der Realität verharren sich nicht verlieren in der Fantasiewelt Das Mädchen weint immer noch fühlt sich allein alleingelassen nicht geliebt Da helfen Schuhe und Trompete nicht auch nicht die nackten Beine auf denen der Rock wieder nach oben rutscht Sie weint Tränen kullern herunter tropfen auf das Buch Eine Autorin die weint Die Zuhörer mit dem Sternchen betroffen Ich schlucke schaue mich ganz vorsichtig um Links und rechts sitzt niemand alle hinter mir Schau nach vorne nicht auf die Beine auch nicht ins weinende Gesicht Ich schlucke wieder Sie schluckt liest weiter Ist alles Berechnung Emotionalisierung wie das ganze Leben heutzutage überall wo man Aufmerksamkeit will und frau, blödes „frau“.

 

Überall Spektakel, in jeder Fernsehunterhaltung Lichtershows und fetzige Musikeinspieler bis zum Erbrechen, jedes Interview mit „tiefen Spaltungen“, mit dem Gegeneinanderausspielen, Festnageln auf irgendwann einmal Gesagtes, mit dem plumpen Herausgreifen aus Zusammenhängen, mit „Fake News“ – wie ich das alles hasse! Die Leute in der Redaktion können es nicht verstehen, dass ich Dinge, die in der Vergangenheit passiert sind, grammatikalisch in einer Vergangenheitsform ausgedrückt haben möchte. Nein, es muss unbedingt in der Gegenwartsform gesprochen werde, das sei näher dran, sagen die Leute von der Zeitung. Außerdem machten das alle so – was leider stimmt. „Bei dem Unfall sterben vier Menschen“, so will es der Leser berichtet haben, nicht, dass vier Menschen „starben“, dass es schon vergangen ist. „Es kann nicht sein!“ statt „Es darf nicht sein!“, so muss man es sagen, klare Kante. Deshalb gibt es auch den Konjunktiv nicht mehr – oder nur in halbsätziger Form, im ersten Halbsatz. Möglichkeitsformen sind out, Dummheit ist in. Das große Fressen geht in der deutschen Sprache weiter: Der Indikativ frisst den Konjunktiv, das Präsens das Imperfekt – Pardon, ich will korrekt sein: das historische Präsens das Präteritum – und natürlich: der Dativ den Genitiv. Aber es macht ja nichts, Hauptsache, man versteht´s. Es wird Mode, schlampig zu sein. Und die normative Kraft des Faktischen schafft neue Regeln. Soll ich mich noch über Anglizismen, Jugendsprache und das Hofieren des Dialekts aufregen ...?

Sie steht auf entschuldigend sich streckend über dem Rock hängt die Bluse heraus Neue Mode gepflegte Schlampigkeit nur vorne steckt sie drin Einfach lächerlich Legersein als vorgespielter Protest gegen Anständigsein Mode als Protest von wegen Genau das Gegenteil Mode ist heutzutage Anpassung individualitätslos Kann man Verzeihung frau also kann frau wirklich über dem Rock die Bluse raushängen lassen Weiße Bluse vorgespielte Anständigkeit Gegensatz zu den langen nackten Beinen Schneeweißchen und Rosenrot Rosenrot war einen Tick frecher als die Schwester ach was von frech kann man gar nicht reden Ich schwitze warum Die hinter mir schwitzen und stinken Sie setzt sich schnäuzend hat sich gefangen Ich schaue mich um in betretene Gesichter mitgenommen Schreib das auf Das Trompetenkind fühlt sich gequält wirft das Ding unters Bett Aha Das Kind auf der Trompete Prinzessin auf der Erbse Das Bett schiebt sich über die Trompete die Sonne verzieht sich hinter die Wolke Quatsch mit Soße Figur-Grund-Problem Die viel zu großen Schuhe verschwinden unter dem Bett Sie streift die Schuhe ab klack klack schiebt sie mit einem Fuß weg wackelt mit einem nervösen Bein räuspert sich macht Kunstpausen liest mit festerer Stimme weiter Klare Stimme ein Sopran hochdeutsch makellos mit deutlichen Ts am Schluss obwohl sie aus der Oberpfalz stammt Besser als aus Franken Unterm Bett aber kein Verstecken Nein ein Nichtmehrsehenwollen Aus den Augen aus dem Sinn Große Blaue hinter der roten Brille an die sie öfters fasst sie zurechtrückt Ein wenig Lidschatten dezent Brauen sicher gezupft Stirn gerunzelt intellektuell gerunzelt Anstrengung zeigend Konzentration Nachdenklichkeit Haare drüber dann wegstreichend Lockig sicher blond gefärbt die grauen stören schon oder noch Aha jetzt kommt der Sprung beim Vorlesen Kapitel auslassend Sie trinkt Wasser Knackt im Kehlkopf gluckert im Magen Das Mädchen ist jetzt in der Pubertät trinkt schon mal heimlich einen Feigling Ist doch kein braves Schneeweißchen.

Ich hole mir die mitgebrachte Flasche Wasser unter dem Stuhl hervor. Sie zischt beim Öffnen, was die Vorleserin mit einem erstaunten Blick quittiert. Ich mache eine entschuldigende Geste und sie lächelt. Zur Belohnung ihrer Nachsicht greife ich nun zu meinem Fotoapparat, der auf dem freien Platz neben mir lag. Es wird ihr gefallen, wenn ich sie fotografiere. Nun ist ihr vollends klar, dass sie in die Zeitung kommt, dass ich sie in die Zeitung bringe, dass ich es in der Hand habe, ihre Lesung als Erfolg oder Misserfolg zu interpretieren. Ich fühle mich gut, stehe auf und gehe ohne Zögern einigermaßen rücksichtslos an die Seite des Raums und fotografiere drauflos: die Zuhörer, alle mit „innen“, und die Autorin, die bewusst nicht lächelt, sondern konzentriert ins Buch schaut. Sie merkt nicht, dass ich sie ganz nah herhole, ein Foto für mich privat mache. Gut, dass sie nicht lächelt. Ich hasse aufgesetztes Lächeln. Früher wurden die Menschen beim Fotografieren aufgefordert, keinesfalls zu lächeln. Es gab auch nichts zu lächeln vor, in und nach den Kriegen. Jetzt lächeln sie sogar auf den Traueranzeigen, auf jugendlichen Bildern, versteht sich. Der Tote und die Tote oder die Tot*in? Ist Tot*innen korrekt? Und lächelnde junge Leute müssen sie sein, damit wir sie und die Angehörigen bedauern für den viel zu frühen Tod. Ich setze mich wieder.

Sie holt die Trompete hervor das einst gehasste Instrument Spielt weil es keiner von ihr verlangt Offenbar hat sie es im Kapitel dazwischen gelernt Aus einem Kind ist eine Jugendliche geworden Wie lange will sie noch lesen uns die ganze Geschichte verraten Die Schuhe scheinen dem Mädchen jetzt zu passen Die Beine werden eifrig im Überschlagen gewechselt Dazwischen blitzt das Höschen Es tut sich was in der Jugend Die Autorin zeigt Begeisterung Ich begeistert Ich schaue mehr ins Gesicht und lächele mal mit Es wird humorig Die Zuhörerinnen lachen Aufstoßen Kohlensäure Sie wedelt mehr im Gesicht herum Schlanke Hände Holt Taschentuch hervor für die feuchten Hände Der Bibliothekssaal hat sich aufgewärmt Schwitze ich schon stinke ich Zum Glück sitzt keiner neben mir keiner und keine Ein Fenster wird geöffnet und ihr Parfüm umstreicht meine Nase Die hinauswehende Luft hat mir einen Duft geschenkt Die Kleine ist groß geworden braucht nicht mehr Mutters Parfüm hat sich im Geschäft eines gestohlen So jugendliche Mutproben Dann wird sie krank schwer krank.

Sie müsse eine kurze Pause einlegen, meint sie, und das sei sicher im Interesse aller, Konzentration und so. Sie steht auf und öffnet ein weiteres Fenster. Sie fordert auch die Leute auf, kurz mal Luft zu schnappen, aber in fünf Minuten werde sie weiterlesen. Es ist ein Samstagnachmittag. Draußen fahren stinkende und lärmende Autos vorbei und die klackernden und plappernden Stadtbewohner kommen zu Fuß mit Plastiktüten vom Einkauf zurück. Ich denke an die Amerikaner, die in großen braunen Papiertüten ihren Einkauf herumtragen. Da scheint eine „Mode“ einmal umweltbewusst zu sein.

Der Lesesaal liegt im ersten Stock und die anderen werden wohl nicht den Stadtgeruch wahrnehmen, nur ich mit meiner feinen Nase. Manche versuchen, mit der Schriftstellerin ins Gespräch zu kommen, doch sie versteht es, sich zu distanzieren. Sie brauche eine kurze Pause, sagt sie. Der Blick geht zwischen Häuserfronten hindurch zu den fernen Hügeln oder bleibt hängen an größeren Gebäuden, die mit abgeplatzten Putzen auf ihre Renovierung warten. Sicher leben hier keine Mädchen mit Trompeten. Doch vielleicht haben auch die Menschen dort irgendwelche Besonderheiten, über die man schreiben könnte. Mir kommt der Gedanke, dass unsere Schriftstellerin ein Mädchen aus unserer Stadt, ein Mädchen mit Trompete, engagiert haben könnte und die kurze Pause eigens deswegen eingelegt hat. Ich lausche, doch außer den Autos, einigen aufgeregten Stimmen und dem Schlagen der Kirchturmuhr ist nichts zu hören. Ein paar Mauersegler noch, die sich in ihrem Trupp aufgeregt zukreischen. „Ich würde gerne weiterlesen!“, sagt sie mit fester Stimme. Alle rumpeln zurück auf ihre Plätze.

In der Schwebe alles in der Schwebe Wir Zuhörer*innen spüren nicht mehr die Schwere unserer schwitzenden Körper Mein Schweiß ist egal Wird sie sterben Kann doch nicht sein bei diesem Buchtitel Die Lippen rosenrot Zähne makellos viele Kronen Das Mädchen mit neuer Spange Trompeten mit Spange Zähne schneeweiß und Lippen rosenrot Wer ist der Bär und wer der Zwerg Gibt es den Zwerg oder den Bär daheim Schneeweißchen sie und das Trompetenmädchen das Rosenrot Jetzt blass knapp am Tod vorbei Blasen geht nicht wegen der Spange und der Schwäche Hat sie der Zwerg krank gemacht Das Schneeweißchen wird sie retten Jede Schriftstellerin rettet ihr krankes Geschwistermädchen Nur Frauen im Buch und im Saal Frauenbuch Sie schauen mir in den Nacken schweißnasser Haaransatz Sie zückt ihr Taschentuch das Mädchen fiebert immer noch Wir alle fiebern Atemnot Ruhig bleiben zurücklehnen ausstrecken Nackte Beine ausgestreckt noch in den Schuhen drin Graublaue Schuhe wie die Augen mit mittelhohen Stöckeln auch makellos nicht übertrieben eher anständig Sportliche Waden Knie mit Gesichtern nicht spitz Rock wird runtergeschoben Was für eine Farbe soll das sein Frau mit Unterleib abgeschnitten von der Schulbank Die weiße Bluse mit perlmuttglänzenden Knöpfen ältlicher Look doch Brüste nicht spitz wie damals in den Fünfzigern und Sechzigern auch eher unauffällig Kinn auch nicht spitz Nase auch nicht und ein rundliches Gesicht wie bei ihrem Mädchen das wohl überleben wird vielleicht mit einer Lähmung hoffentlich nur der Beine Zeigt sie deshalb die nackten Beine?

Das hat sie gut gemacht! Der zweite Teil war sehr emotional. Sie hielt ihn kurz und es blieb spannend. Fast erschöpft applaudieren ihr die lesebegeisterten Kleinstadtfrauen. Die Autorin bedankt sich und hat noch geschickte Werbeworte parat, denn sie will ihre Bücher loswerden. Die Bibliotheksfrau bedankt sich auch, sogar im Namen des Bürgermeisters, bei der Schriftstellerin und den Zuhörerinnen und dem Zuhörer – wobei sie demonstrativ auf mich schaut und natürlich ein allgemeines Grinsen auslöst. Scheinbar ist es lustig, dass ich der einzige Mann bin. Dann beginnt der Run auf die Bücher, die auf einem extra Tisch gestapelt sind. Dahinter schaut lächelnd eine Auszubildende von der größten Buchhandlung der Stadt hervor. Sie kassiert und übergibt das Buch. Die Frauen stellen sich damit nun tatsächlich in eine Schlange vor die Autorin und lassen sich ihre Bücher signieren. Meist mit einem netten Satz dazu, mit einer persönlichen Widmung. Ich kaufe mir auch ein Buch von der Auszubildenden und gerate in die Schlange hinein. Da ich überhaupt nicht weiß, warum mir die Autorin schöne Worte ins Buch schreiben sollte, überlege ich auszubrechen, doch ich will als einziger Mann nicht auch noch weiter auffallen. Vorne angekommen schaue ich die Gute nur freundlich lächelnd an. Natürlich ist sie älter als es mir das Plakat in meiner Führerscheinstelle weismachen wollte, was nicht bedeutet, dass sie weniger attraktiv wäre, eher im Gegenteil. Sie nimmt kurz ihre rote Brille ab, öffnet ihre rosenroten Lippen und haucht ein „Schön“ in die Luft, „Schön, dass Sie den Weg in die Lesung gefunden haben!“ Ich merke, dass auch ich mir etwas Rot zulege, weil ich nichts zu erwidern weiß. Ist das eine Bemerkung, die sie an den einzigen Mann richtet, an den einzigen Signierungsverweigerer, an den Zeitungsschreiber oder ist es etwas ganz anderes? Ich bilde mir ein, als klänge es so, als würde sie mich kennen. Und ihr Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor. Aber verdammt, warum habe ich mich angestellt? Ich krame, weil mir nichts anderes einfällt, aus meiner Jackentasche ein Visitenkärtchen hervor und sage: „Damit Sie wissen, in welcher Zeitung der Artikel erscheint.“ Sie nickt und lächelt, ich wünsche „noch einen schönen Tag“ und denke nicht dran, dass von dem Tag nicht mehr viel übrig ist. Ich hätte einen schönen Abend wünschen sollen.

2

Eigentlich hatte Vera ein Einzelzimmer vorbestellt, doch man gab ihr ein Doppelzimmer zum selben Preis. Die Lesereisen waren ihr vertraglich vorgeschrieben und sie hatte schon genügend Erfahrung damit, aber sie konnte sich nur schwer an das Alleinsein in fremder Umgebung gewöhnen. Ein Doppelbett erinnerte sie zudem schmerzlich daran, dass sie zum Single mutiert war, seitdem sie ihr Partner verlassen hatte. Daheim war das zweite Bett auch leer und, genau wie hier im Hotel, sorgfältig aufgebettet, so als wollte man allzeit bereit sein für einen Überraschungsgast, der versehentlich ins Zimmer stolpert oder den man sich unterwegs aufgelesen hat. Natürlich bereute sie es, zusammen mit ihrem Partner ein Doppelbett gekauft zu haben. Werfen die anderen Verlassenen ihr Doppelbett auf den Müll? Zersägen ist nur ein schaler Witz, der dennoch regelmäßig als heißer Tipp empfohlen wird. Verzichten die Verlassenen, die Witwen, Geschiedenen, Getrenntlebenden oder Getrenntschlafenden auf die zweite Bettdecke, legen sie sich breit in die Mitte oder schön brav auf die gewohnte Seite und schauen sehnsüchtig oder wütend hinüber auf das leere Laken? Streichen sie sanft drüber oder hauen sie vor Wut eine Delle hinein? Für Vera stellte sich hier im Hotel diese Frage nicht: Die zweite Aufbettung ließ sie unberührt.

 

Sie hätte auch nach der Lesung heimfahren können, denn der Termin war an diesem Samstag schon um 18 Uhr beendet gewesen, doch was sollte sie daheim? Seit Wochen hatte sie keine Zeile mehr zu Papier gebracht, respektive in den Computer. Auch ihre Schwester empfahl ihr, den Sonntag und den Montag als Urlaubstage zu genießen, sich mal abzulenken, die kleine Stadt oder die grandiose Natur kennen zu lernen. Vielleicht brächte ihr die Provinz auch ganz besondere Inspirationen. Vermutlich hatte sie in Gedanken dazu gefügt „… oder einen Mann“. Vera schmunzelte. Im ganzen Lesesaal hatte sie nur einen einzigen Mann entdeckt. Und der war nicht freiwillig gekommen. Doch er saß in der ersten Reihe und sie hatte ihn immer wieder im Blick. Besonders freundlich erschien er ihr nicht. Das war schade, denn sie fand ihn äußerlich eigentlich ganz passabel, vielleicht ein wenig zu altmodisch gekleidet. Sie schloss daraus, dem Geschlechtsrollenklischee diesmal nicht abgeneigt, dass er auch alleinlebend seine Tage verbringen würde, denn eine Frau hätte ihn vermutlich für die Lesung einer Autorin, die fast nur weibliche Zuhörerinnen anzieht, etwas moderner ausgestattet. Doch womöglich war es auch umgekehrt: Die Ehefrau empfahl ihm die Kleidung gerade wegen der vielen Frauen, die im Saal auf ihn schauen würden. Man weiß ja nie – und frau auch nicht.

Das Hotel hatte eine ausgezeichnete Küche. Vera saß trotz vieler Gäste allein am Tisch, an einem Zweiertisch, dem kleinsten Tisch im Restaurant. „Katzentisch“ nennt man ihn, wenn er bei Mehrfamilienessen der Absonderung der Kinder dient und dies den Kleinen als Privileg verkauft wird. Immerhin hatte ihr Tisch dieselbe Höhe wie die anderen Tische. Und es gab mehrere dieser Katzentische. Auch in einer eher ländlichen Gegend schien es den Trend zum Singleleben zu geben. Und wenn schon dem Single beim Essen ein Kontakt zugedacht wurde, dann kein Gruppenkontakt, allenfalls ein Kontakt zu einem zweiten Single. Es war auffallend, dass alle Paare in diesem Gastraum an Vierertischen saßen und alle Zweiertische einem einzelnen Gast vorbehalten blieben. Drei Katzentische hatte sie im Blick und an allen dreien saßen Männer. Sie war zumindest in diesem Raum die einzige Singlefrau. Ein wenig bekam sie Mitleid mit den männlichen Leidensgenossen, die an einem Samstagabend alleine zum Essen in ein Restaurant gehen mussten. Sie machten ihr nicht den Eindruck, als ob sie das genießen würden. Vielleicht waren es aber auch Männer, die hier im Hotel wohnten und, wie sie, übers Wochenende irgendwelchen beruflichen Verpflichtungen nachkamen. Nach dem Essen würden sie ihre Ehefrauen daheim anrufen und betonen, wie schwer es ihnen fiele, schon wieder woanders nächtigen zu müssen.

Sie telefonierte nach dem Essen mit ihrer Schwester Fritzi, die sich trotz der lärmenden Kinder im Hintergrund Zeit nahm. Ausführlich sprachen sie über die Lesung. Es war Vera immer peinlich, wenn sie in ihrem neuesten Buch jeweils an derselben Textstelle außer Fassung geriet. Da half es auch nicht, dass die Schwester dies als besonders authentisch pries und ihr riet, das immer beizubehalten. Fritzi fragte nach der Zusammensetzung im Publikum und machte sich lustig darüber, dass sich Vera hauptsächlich an den einzigen Mann erinnerte. Natürlich wollte sie auch wissen, wie sie untergebracht sei und was sie an den nächsten Tagen vorhätte. Sie solle es nicht zu toll treiben, riet sie ihr spaßeshalber. Vera kannte ihre Schwester und wusste, dass sie es immer gut meinte. Manchmal dachte sie: Die hat gut reden, mit einem Mann und drei Kindern! Für die Schwestern war die Familienplanung abgeschlossen, bei der einen, der jüngeren, weil drei Kinder ihr genug erschienen, bei der anderen aus Altersgründen: Vera war 15 Jahre älter als ihre Schwester Fritzi und traute sich nicht, eine Spätgebärende zu werden – ganz zu schweigen davon, dass ihr der Partner abhanden gekommen war und kein neuer bei ihr anklopfte. Außerdem hatte sie ein negatives Beispiel: ihre Mutter! Diese hatte die kleine Schwester auch erst nach 40 bekommen und das nie als Geschenk der Natur empfunden, sondern nur als große Last in ohnehin schwierigen Zeiten. Das war wohl der Grund, warum sich Vera als Ältere um die Schwester gekümmert hatte, so als wäre sie ihr eigenes Kind. Vielleicht hatte sie auch deshalb später selbst keine Kinder bekommen. Das eine Kind hatte ihr gereicht.

Das Samstagsprogramm im Fernsehen war nicht berauschend und es passte somit in paradox-konträrer Weise zum rauschenden Gerät. Sie sah sich eine Sendung nach der anderen an. Vera wollte darauf warten, dass sie der Schlaf überwältigt, um nicht zum Nachdenken zu kommen. Sie fragte sich, wann sie endlich die Trennung überwunden hätte. Doch sie verstand, dass ihr an besonders einsamen Abenden wie diesen die schmerzhaften Gedanken hochkommen mussten. Endlich schaltete sie den Fernseher aus. Daheim hätte sie noch zu einem guten Buch gegriffen, doch bei Lesereisen verzichtete sie darauf. Sie stöberte in einem auf dem Tisch liegenden Wanderführer. Wanderschuhe hatte sie freilich nicht dabei, sie war eher ein Mensch der Wörter und nicht der körperlichen Anstrengung. Doch es gab auch Ausflugsziele in der näheren Umgebung, die ihrem Schuhwerk angemessen waren. Sie nahm sich vor, an einen See zu fahren, von dem sie las, dass man ihn in einer guten Stunde umrunden könne. Außerdem lag angeblich ein gutes Café auf dem Weg!

Die Nacht war unangenehm. Das Fenster konnte sie nicht öffnen, weil sie der immer noch im Innenhof liegend Küchengeruch störte. Andauernd ging irgendeine Dusche oder eine Klospülung, doch sie war schon froh, wenigstens keine Sexgeräusche zu hören. Im Traum begegnete ihr der Zeitungsschreiber, der sie immer so durchdringend angeschaut hatte. Er starrte auf ihre nackten Beine, so als ob die wichtiger als ihr Roman wären. Als sie zwischendurch aufwachte, wusste sie nicht Realität vom Traum zu unterscheiden. Hatte er wirklich immer auf ihre Beine gestarrt? Die Schwester hatte sie gewarnt, den kurzen Rock anzuziehen, weil sie damit bei den älteren Leserinnen wohl nicht punkten könne. Den Rock solle sie sich für die Männer aufheben, wenn sie einen Stadtbummel wagen würde. Fritzi hatte nicht auf dem Schirm, dass er auch für einen Journalisten oder Kritiker prickelnd sein könnte. Manchmal wurden Vera die Ratschläge der Schwester aber zu viel. Immer dasselbe Gerede. Es ist für eine Nahestehende schwer, der Verlassenen beim Trauern zuzusehen. Sie war aber noch nicht bereit, sich auf einen anderen Mann einzulassen. Wie soll man ein paar Monate nach einer Trennung schon bereit sein für die nächste Katastrophe? Bei der Wahl des kurzen Rocks hatte Vera nicht mehr an die Warnung der Schwester gedacht. Der Rock gefiel ihr einfach – und dass er kurz war, störte sie nicht. Das Verkaufsergebnis hatte er jedenfalls nicht negativ beeinflusst. Und dass der seltsame Schreiberling keinen Eintrag in das Buch wollte, hing wohl nicht mit der Rocklänge zusammen. Sicher war er sich zu fein, zu stolz für eine banale Signatur.