Read the book: «Begegnungen im Bayerischen Wald», page 3

Font:

Den Weg war er schon einmal mit seinem Zwillingsbruder hochgewandert.

Auch das war ihre letzte gemeinsame Unternehmung gewesen.

Irgendwann ist alles das letzte Mal!

Körperlich fiel ihm der letzte Aufstieg schwer, aber er fühlte sich psychisch unendlich erleichtert, nachdem er die Entscheidung getroffen hatte. Fast wäre sogar der Hass verschwunden. Aber wenn er sich das Politikergeschwätz seines Vaters vorstellte, wusste er wieder, warum er diesen Zeitpunkt direkt vor der Bürgermeisterwahl gewählt hatte. Mit seiner Wahl wollte er ihn abwählen.

Wie würde die Familie auf seine Nachricht reagieren, die er vorhin abgeschickt hatte? Eine Nachricht mit genügend Andeutungen, dass die Alarmglocken bei denen läuten mussten. Würde sich sein Zwillingsbruder überhaupt an diesen Wanderweg erinnern? Vielleicht wenigstens an die seltene Begegnung mit den Auerhühnern? Gebannt hatten sie damals diesen großen scheuen Vögeln zugesehen. Die bekommen nur wenige Menschen jemals zu Gesicht. Würde der Bruder nun mit seinem Audi hierher rasen und den Weg hinaufhetzen, um ihn zu retten? In grauem Anzug mit Krawatte?

Oder würde gar sein Vater dabei sein? Trotz der letzten Wahlkampfwoche schwitzend die Anstrengungen auf sich nehmen, um seinen Sohn von dem Unvermeidbaren abzuhalten? Oder seine Mutter? Die blasse Frau im Hintergrund, die sich extra herrichten musste für die Fotos einer glücklichen Familie. Oder ihren Mann begleiten durfte im Stil einer Lach-und Klatsch-Puppe wie bei Wahlauftritten der amerikanischen Politiker. Nein, die Eltern würden nicht kommen, um ihn vom Selbstmord abzuhalten!

War es um das Leben nicht doch schade, weil sich gerade in den letzten Wochen ein Silberstreif gezeigt hatte? Er hatte einen Mann kennengelernt, der eine vorübergehende Unterkunft gesucht und von seiner eher großen Wohnung erfahren hatte. Der war nicht übel. Der neue Mitbewohner hatte schnell das Drogenproblem erkannt und sich gleich ins Zeug gelegt. War ein Helfertyp. Kohlemäßig aber ein armer Hund, weil er nicht eine so tolle Verwandtschaft hatte wie er. So weit hatte er noch seine Sinne beisammen, um zu wissen, dass er auch den enttäuscht hätte, wenn er dessen Helferambitionen entgegengekommen wäre.

Es hat schon alles seine Richtigkeit!

Der Weg wurde ihm immer beschwerlicher. Er würde es nicht bis hinauf schaffen! Als der erste Kahlschlag kam, nein, eigentlich war es ein Windwurf, der den Blick freigab auf das Tal, mühte er sich über einige Heidelbeersträucher hinweg auf einen Felsen. Dort wollte er rasten und dann weitergehen. Er hatte aber keine Kraft mehr. Sein Weg sollte hier zu Ende sein. Er lehnte sich an den Felsen und zog das Besteck heraus. Zum Schluss kam ihm noch ein Goethe-Vers in den Sinn, der ihn seit dem Treffen mit dem Blinden begleitet hatte:

Ach, ich bin des Treibens müde!

Was soll all der Schmerz und Lust?

Süßer Friede,

Komm, ach komm in meine Brust!

Dann brachte der Goldene Schuss sein Herz zum Stillstand und der Unglückliche schwebte durch einen dunklen Tunnel in eine überwältigende Helligkeit.

Als er von Toni gefunden wurde, verscharrt im Wald, war die Wahl längst vorbei. Selbst sein letztes Zeichen konnte er nicht setzen. Sein Plan war nicht aufgegangen. Die Familie hatte es geschafft, das Bekanntwerden seines Todes hinauszuschieben. Und auch die Hintergründe blieben nicht auf Vaters weißer Weste hängen. Ganz im Gegenteil: Privat erntete der Bürgermeister viel „Beileid“ und politisch wurden seine Meinungen zur Kriminalität in der Grenzregion bestätigt.

Obwohl er sich verändert hatte unter der hier noch deutschen Erde, war es leicht herauszufinden, wer der Tote war. Der Personalausweis gab genügend Auskunft. Schwieriger war die Todesursache zu klären. Es lag aber nahe, die Einstichstellen am Arm als Indiz zu nutzen. Außerdem klemmte unter dem Körper des Toten ein kleines verrostetes Kästchen mit der Nürnberger Burg auf dem Deckel. Darin lag neben dem nötigen Besteck für den Goldenen Schuss auch ein altes Buch. Es stammte aus dem 19. Jahrhundert und enthielt viele Zeichnungen und Beschreibungen von Kräutern und Pilzen. Die Seiten waren handschriftlich vollgekritzelt mit Hinweisen auf deren Heilkraft und mit zusätzlichen Rezepturen für allerhand Leiden. Auf die berauschende Wirkung mancher dieser Pflanzen und Pilze wurde extra hingewiesen…

In der Pathologie wurde schnell die tödliche Rauschmittelvergiftung klar. Ob Unfall, Suizid oder Mord konnte nicht geklärt werden. Ein Rätsel blieb den Ermittlern auch, ob der Mann wirklich dort am Berg starb und warum der Tote eingegraben worden war. Es fanden sich auch keine Hinweise mehr auf den oder die Totengräber.

7. Der folgenreiche Zahlendreher

Die Alte entpuppte sich als rüstige wanderfreudige Rentnerin, wohl so um die 80. Und sehr belesen war sie obendrein! Man kommt in Kontakt, wenn man so früh am Tag mitten in der Natur schon einen Gleichgesinnten trifft. Da konnte selbst Günter, das scheue Reh, nicht ausweichen. Es gab eben nur diesen einen Weg um den kleinen Arbersee herum. Sie zeigte keine Scham, vielleicht weil man dafür im Alter keine Notwendigkeit mehr sieht und keine Zeit mehr hat. Die alte Dame stellte sich neben ihn und beide schauten voller Andacht und Staunen auf den herrlichen See mit seinen drei schwimmenden Inseln.

I m Nebel ruhet noch die Welt,

Noch träumen Wald und Wiesen;

Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,

Den blauen Himmel unverstellt,

Herbstkräftig die gedämpfte Welt

In warmem Golde fließen.

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie bemerkte, dass Günter sie etwas verlegen und zugleich bewundernd anschaute.

„Ein schönes Gedicht!“, sagte er.

„Von Eduard Mörike!“, erwiderte sie.

Dann schwiegen sie wieder und genossen das wunderbare Farbenspiel der Laubbäume am Seeufer und der Gräser auf den Inseln. Der große Arber spiegelte sich im Wasser und trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit begleitete Vogelgesang den aufsteigenden Nebel. Etwas entfernt hörten sie das Rauschen des Bachs, der zwischen den Felsen der vom kleinen Arber herabführenden Seewand einen Wasserfall zustande brachte. Ansonsten war es still. Das Seehäusl hatte noch geschlossen. Bald würden die ersten fußkranken Besucher sich herankarren lassen von einer kleinen „Bahn“. Und von allen Seiten kämen Wanderer, um auf der Terrasse sich gastronomisch verwöhnen oder zumindest absättigen zu lassen. Aus dem Schornstein des Seehäusls drang schon Rauch heraus.

Noch aber gehörte der See ganz ihnen. Sie gingen einige Schritte nebeneinander, saugten neben den Farben auch die frische Luft ein – bis der Rauch sich über den See legte und der Atem stockte. Dann hörte man zu allem Überfluss aus der Ferne ein Polizeiauto. Und es kam tatsächlich auch noch näher! Zur Überraschung der beiden Wanderer fuhr bald die gesamte Autoflotte der hiesigen Polizei, also zwei Streifenwagen, um die letzte Kurve aus dem Wald heraus in Richtung Seehäusl. Dort stiegen die Beamten aus und sprachen mit den entgegenkommenden Wirtsleuten. Die zeigten aufgeregt in Richtung einer Insel. Die Polizisten sahen durch ihre Ferngläser.

Günter und seine Begleiterin schauten sich verwundert an. Dann zog die Alte ein Fernglas heraus und richtete es auf die Insel. Nach einem „Da schau her!“ und einem „Na sowas!“ übergab sie Günter das Glas. „Dort am Rand der Insel!“ Günter sah hindurch und staunte nicht schlecht. Er erkannte im herbstgoldgrünen Gras einen bleichen Schädel, einen menschlichen Totenschädel!

Die Polizisten überlegten, diskutierten miteinander, telefonierten – mit Handys, denn der Polizeifunk funktionierte nicht. Sie benachrichtigten zuerst die Feuerwehr. Dann setzten sie sich auf die inzwischen von den ersten Sonnenstrahlen angeleuchtete Terrasse. Es gab Brezeln mit Weißwürsten. Das Frühstück dauerte etwa 20 Minuten, dann näherte sich ein tosender Sirenenlärm, der weitere 20 Minuten lang nicht mehr verstummte. Fünf Feuerwehren aus den umgebenden Ortschaften trafen ein. Kein Kommandant wollte es sich nehmen lassen, bei diesem Einsatz mit dabei zu sein. Mit einer für Eisunfall-Rettung gedachten Luftmatratze glitt der an einer Sicherungsleine befestigte gewichtsmäßig leichteste Polizist langsam hinüber zur Insel, ging dort vorsichtig an Land, zog das rote Gefährt auf den kostbaren etwa 150cm dicken Moosuntergrund voller seltener Pflanzen, und hielt sich daran fest, um nicht plötzlich auf Nimmerwiedersehen im Moor zu versinken. Langsam watete er die wenigen Meter bis zum Totenkopf.

Draußen standen die beiden Wirtsleute, zwei Wanderer, drei Polizisten und 44 Feuerwehrmänner und drei Feuerwehrfrauen. Sie schauten gespannt zu. Der Inselpolizist hob schließlich triumphierend den Schädel in die Höhe. Draußen wurde Beifall geklatscht. Dann streckte der Polizist nochmals den Arm hoch und nochmals und nochmals. Jedes Mal hatte er ein weiteres Skelettteil in der Hand. Nun wurde nicht mehr geklatscht.

Es sollten noch weitere Stunden vergehen und die Sonne hatte schon ihren Zenit überschritten, als die angeforderten Polizeitaucher eingetroffen waren. Die Terrasse war nun überfüllt mit Feuerwehrleuten und Wanderern, von denen etwa 80% mit den Feuerwehrleuten verwandt waren. Es gab Schweinebraten mit Knödel und reichlich Bier. Die Taucher wussten inzwischen, dass der See unter dieser Insel etwa 8 Meter tief war. Mit Scheinwerfern leuchteten sie den Untergrund aus und inspizierten auch das Moorpolster von unten. Kein Fisch störte die Mission, weil das Wasser so sauer war, dass es die Wirtsleute als Essigersatz hätten nehmen können.

Am Ufer setzten die Polizisten unter der regen Anteilnahme der Bevölkerung das von der Insel und aus dem Essig geborgene Skelett in mehrheitsfähiger Form zusammen. Dann wurde es fotografiert, etwa von 200 Kameras. Einige davon gehörten freiberuflichen Mitarbeitern der beiden hiesigen Tageszeitungen. Erst nach dem Nachmittagskaffee traf die Kriminalpolizei ein.

Günter hatte mit seiner Begleitung inzwischen den kleinen Arbersee umwandert. Man hatte von fast überall einen guten Ausblick auf das Geschehen. Beiden war nicht an Kontakt mit den anderen Schaulustigen gelegen.

„Das wird ein altes Skelett sein!“, mutmaßte die alte Dame.

„Freilich!“, sagte Günter.

„Vielleicht über hundert Jahre alt“, behauptete sie.

„Wie kommen Sie denn da drauf?“

„Der See war früher viel kleiner, dann wurde er wegen der Holzdrift aufgestaut. Vielleicht ein Holzarbeiter von damals!“, spekulierte die Alte.

„Und wieso liegt ein Teil des Skeletts auf der Insel und der Rest darunter?“

Die Alte zuckte mit der Schulter. „Die Teile oben liegen ja offenbar erst seit kurzem dort, sonst hätte man sie ja schon vorher gefunden!“

„Ja, und wer hat die von unten nach oben geholt?“

„Aber junger Mann, woher soll ich denn das wissen!“

Günter begann, schräg zu denken. Er erinnerte sich an eine Wette aus seiner Jugendzeit, ein Stammtischgeschwätz, das er einmal mitbekommen hatte, bevor er sich aus dem Ortsleben zurückzog.

„Vielleicht wollte der die Insel wegziehen!“

Die Alte lachte laut auf. „Wegziehen?“

„Ja, freilich. Früher waren die Inseln noch sehr beweglich.

Nach jedem Sturm hatten die ihre Lage verändert.“

„Ja, ja, das weiß ich schon! Aber man kann die doch nicht wegziehen!“

„Das hab ich mal gehört. Da haben die im Dorf einmal gewettet!“ Er ließ nicht locker. „Und außerdem ist das egal, ob es geht. Vielleicht hat es einer probiert, wollte dort ein Seil befestigen und ist reingesunken und ertrunken!“

Die Frau grinste vor sich hin. Aber bei den jungen Leuten kann man ja wirklich nie wissen…

Die Feuerwehrverwandtschaft war schon einen Schritt weiter. Als die beiden Wanderer an ihnen vorbeigingen hörten sie, dass es sich hier sicher um einen Mord handele! Vielleicht aus den chaotischen Kriegszeiten. Oder dass das Skelett gar die komische Frau Riemendobler sei, die damals um die Wendezeit herum sich hier niederlassen wollte und dann spurlos verschwunden war?

Als Günter an diesem Abend ins Internet schaute, erlebte er eine weitere Überraschung. Da beschwerte sich einer, dass die Angaben zu seinem Cache total falsch gewesen wären, besonders der Schwierigkeitsgrad. Er sei zwar kein Sissicacher, meinte der Cache-Kollege, aber der angegebene Platz wäre ja wohl eine Zumutung. Außerdem läge er in einem Naturschutzgebiet. Und wenn es eine Mysterycache hätte sein sollen, wäre ein Hinweis darauf auch ganz nett gewesen.

Günter erschrak und es war ihm sehr peinlich: Er bemerkte, dass er in den GPS-Daten einen Zahlendreher hatte!

8. Die Geo-Cacher

Als Günter Rosls Kästchen im Erdstall fand, war ihm unwillkürlich der Gedanke gekommen, der Metallbehälter könnte ein Cache sein. Er hatte in den Wochen vorher mit Geo-Caching begonnen, um sich abzulenken von seinen letztlich frustrierenden Erlebnissen mit den Rehen. Und da der Umgang mit dem Internet sein Metier war, brauchte er sich nur noch etwas in diese Form der modernen Schnitzeljagd mittels GPS-Ortung einzuarbeiten – und schon konnte er loslegen. Es war wiederum eine Kontaktform, ohne wirklich menschlichen Kontakt zu haben. Das betraf die Internetkommunikation auf den entsprechenden Geo-Caching-Seiten, aber auch das Anlegen von Verstecken für andere Menschen und vor allem die Inhalte der Caches, bei denen der Fantasie wenig Grenzen gesetzt war. Dieses Wegnehmen und Hineingeben von Gegenständen erforderte eine gewisse empathische Zuwendung zum Finder oder Owner des Caches: Warum hat der gerade das hineingelegt? Was will ich mit meinem Gegenstand ausdrücken? Was teile ich dem nächsten damit über mich mit? Kommunikationsonanie könnte man vielleicht sagen. Nein, das stimmt so nicht ganz, denn die Reaktionen auf den Cache waren ja meist im Internet zu lesen. Man bekam also immerhin eine Rückmeldung vom anderen!

Aber Rosls Kästchen war kein Cache!

Nachdem Günter mit seiner Hilfe die Holzbohlen nach oben gedrückt hatte, wusste er schnell, wo er gelandet war. Es drang nun, nachdem er viel staubigen Dreck, der oben auf den Holzdielen lag, eingeatmet hatte, genügend Licht in das Schratzlloch, um sich den Inhalt des Kästchens einmal schnell anzuschauen: Es war ein altes Kräuter- und Pilzbuch, das die Hexenrosl irgendwann einmal erstanden, vielleicht auch geerbt hatte. Sie hatte viele Notizen hineingeschrieben, vermutlich ihre geheimen Rezepte. Das interessierte Günter nicht besonders. Schade, es war für ihn kein spektakulärer Fund! Er dachte an die dicke Reh-Frau aus dem Nachbarort. Für die wäre das Buch wohl etwas gewesen. Aber es ihr zu schenken, widerstrebte ihm sehr. Da machte Günter, was er gut konnte: Er stellte das Buch ins Internet ein und verkaufte es!

Der Gang des Erdstalls endete unter einem Gebäude, das er gut kannte: Es war ein alter Brotbackofen, wie es viele auf solchen bäuerlichen Grundstücken gab. Meist standen sie ein Stück weg vom Haus, um dieses vor Feuer und Rauch zu schützen. Sein Backofen hatte einen relativ großen Vorbau. Das war ihm aufgefallen, ohne dass er sich darum Gedanken gemacht hatte. Günter war nur ganz kurz einmal dort gewesen, hatte die eiserne Ofentür geöffnet und ins Schwarze geschaut – und dann überließ er das Gebäude den Hänsel und Gretel - Fantasien zufällig vorbeikommender Wanderer und ihren Kindern.

Er musste damals durch den ganzen Erdstall wieder zurück, weil er an diesem Ende nicht hochkam. Den Eingang verschloss er sorgfältig. Dann ging er in den Backofenvorbau, schlichtete die verrutschten Bretter wieder dicht nebeneinander über das Schratzlloch und bedeckte sie mit Erde. Sein Erdstallabenteuer war hiermit beendet!

Nachdem Günter das Buch verkauft und verschickt hatte, bereute er es. Zu oft hatte er sich schon der Hexenrosl innerlich und äußerlich angenähert, in ihren Räumen gelebt und ihre Geheimnisse erkundet. Vielleicht hätte er ihr Andenken bewahren oder diese Alte über die Notizen des Buches besser kennenlernen sollen! Womöglich hätte er dann das Buch irgendwann in einen Cache gegeben. Vielleicht. Nun aber war es für schnöden Mammon an einen Mann gegangen, der es nicht im selben Maße würdigen konnte. Der Käufer wohnte nicht weit entfernt. Sollte er ihn um Rückgabe bitten?

In seinen Gedanken war Günter allemal mutiger als in seinen Taten - also, wenn es um zwischenmenschliche Kontakte ging. Er spielte die Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit dem Käufer seines Buches durch und wusste in der Theorie auf alles eine passende Antwort. Am meisten überzeugte ihn das Argument, dass das Buch ihm ja eigentlich gar nicht gehört habe und er diesen Fund den Erben der Rosl geben müsste. Und: Er habe vorher leider nicht gewusst, dass es Erben gebe.

Über die Internet-Versteigerungsplattform erbat er die E-Mail-Adresse des Käufers, die der ihm denn auch zukommen ließ. Der nannte sich SCachy. In einer langen Mail stellte Günter, alias GüRosl, umständlich den Sachverhalt dar und war überzeugt, dass er den anderen damit zur Rückgabe bewegen könnte. Ach, das täte ihm aber Leid, meinte der SCachy, aber das Buch habe er ja gekauft, um es zu verschenken – und das habe er getan. Sorry, lieber GüRosl!

Sven nannte sich nicht umsonst SCachy. Das Geocaching war seine große Leidenschaft. Sein Ausflug in den kleinen Arbersee war zwar mühsam gewesen, aber auch sehr spannend. Noch in der Dämmerung hatte er sich auf den Weg gemacht, war verbotenerweise mit dem Auto hingefahren – sonst hätte er sich ja totgeschleppt mit seiner Taucherausrüstung – und hatte versucht, das Unterwasserversteck zu finden. Ohne gute Beleuchtung musste er herumstochern am Seegrund unter der Moor-Insel. Erst später war ihm klar geworden, dass er da ja unter keinen Umständen hätte tauchen dürfen! Komisch, dass das schlechte Gewissen ihm erst dann ins Bewusstsein drang, als er den Totenschädel fand. Es schauderte ihn, zumal daneben auch noch Knochen auftauchten. Er nahm einige dieser Fundstücke mit und schleuderte sie oben auf die Insel. Vielleicht hätte er sie besser unten liegen lassen sollen! Aber wenn man ihn beim Tauchen gesehen hätte… Und wenn man ihn nun aber beim Hochschleudern gesehen hat? Sven musste einfach das Skelett ans Tageslicht bringen. Er war zu sehr ein Sucher und Finder, als dass er alles hätte im Dunkeln lassen können. Auf keinen Fall durfte Sven diesen Fund aber melden, um sich nicht strafen zu lassen für seinen verbotenen Tauchgang. Aber vor allem deswegen nicht, weil es da ja auch noch das andere gab, das ihm sehr nachhing! Wenn die Polizei ihn hier wegen des Skeletts verhört und seine Adresse aufgenommen hätte, dann hätte man bemerkt, dass er mit dem rauschgiftsüchtigen Bürgermeisterssohn zusammengewohnt hatte, dessen Leiche kürzlich im Bergwald ausgegraben worden war!

Keiner hätte geglaubt, dass in den beiden Fällen des Auffindens von Toten sein Name rein zufällig auftaucht! Dann wäre man vielleicht darauf gekommen, dass er beim Eingraben seines Bekannten beteiligt gewesen sein könnte. Und man hätte auch erkannt, dass die Fingerabdrücke an dem Kästchen, das er seinem Freund mit ins Grab gelegt hatte, seine Fingerabdrücke sind und dass er das Kästchen im Internet ersteigert hatte.

Es war beängstigend, wie das alles wieder hochkam, als er das Skelett im See fand.

Dabei hatte wirklich alles einen Zusammenhang! Sven war ein begeisterter, ja enthusiastischer Geo-Cacher. Besonders reizten ihn schwierige Fundstellen oder schwierige Caches. Nanos, die er magnetisch an Gipfelkreuze befestigte, Night Caches, denen er mit Begeisterung auf der Spur war, oder Lost Places, die ihm hier in der Grenzregion mit ihren vergessenen oder geschliffenen Dörfern natürlich besonders nahe standen.

Und je mehr er sich in sein Hobby hineinsteigerte, umso teurer wurde es. Da kam es ihm sehr gelegen, dass ihm für einen „Liebesdienst“ Geld angeboten wurde. Zuerst hatte der Bürgermeister ja noch geglaubt, seinen Sohn retten zu können. Er hatte in der gemeinsamen Wohnung angerufen und ihn beauftragt, seinen Freund auf einem bestimmten Wanderweg zu suchen. Aber er war viel zu spät gekommen. Als er den schlimmen Fund dem Bürgermeister per Handy meldete, bat der Vater ihn, gegen gutes Geld und dem Versprechen, er könne zum selben Mietpreis in der Wohnung bleiben, seinen toten Mitbewohner einzugraben. So ganz verstanden hatte Sven die Hintergründe nicht, aber was würde es dem Rauschgifttoten helfen, wenn er ihn neben dem Wanderweg liegen lassen oder wenn er die Polizei holen würde. Wenn er jemand verständigt hätte, dann hätte es anonym geschehen müssen. Denn irgendwie hing er ja mit drin. Er hatte aber nicht groß nachgedacht. Und das Angebot war sehr verlockend. Schon lange hatte er sich eine bessere Ausrüstung für sein Hobby gewünscht, vor allem einen Tauchanzug, um endlich auch die schwierigsten Caches in Seen und Flüssen finden zu können.

Natürlich hatte es ihm sehr Leid getan um den Freund. Noch kurz vorher hatte er ihm ein Kräuterbuch geschenkt – in der vagen Hoffnung, der könnte als Zwischenlösung zu Rauschmitteln greifen, von denen er eher wieder wegkommen könnte. Aber auch damit war er zu spät gekommen.

Nachdem er den Kopf des Toten mit einem Taschentuch bedeckt hatte, fiel es ihm leichter, sich ans Graben zu machen. Es war nicht sein erster Toter, das machte ihm die Situation ein klein wenig erträglicher. Leider hatte er kein geeignetes Werkzeug dabei und so wurde das Grab nicht tief genug. So richtig merkte er das erst, als der Tote schon in der Kuhle lag. Herausziehen wollte er den aber nun auch nicht mehr – und jederzeit hätten Wanderer ihn überraschen können. Alles musste schnell gehen. Schlimm war es dann, die Erde über den Körper zu werfen! Wenn er daran dachte, überlief ihn jetzt noch ein Schauer.

Sven wunderte sich nicht, dass sein Mitbewohner bald gefunden wurde. Vielleicht hatte er auch hier unbewusst - durch das flache Grab - dazu beigetragen. Denn er war letztlich sehr froh, dass der Freund aufgetaucht war und würdevoll begraben werden konnte.

Trotzdem blieb es bei der Abmachung mit dem Bürgermeister – zumindest so lange wie die Polizei ihn nicht in die Mangel nehmen würde. Von dem Politiker hatte er nichts zu befürchten, denn dem war sicher nicht an einer Aufdeckung der Geschehnisse gelegen.

9. Besuch beim Sohn des Dealers

Maximilian, der Hüter der Asche seines Vaters, bekam einen nicht angekündigten Besuch. Er war sehr nervös, obwohl der andere in Zivil kam. Aber der hatte sich gleich als der Polizist Alexander zu erkennen gegeben, der mit seinem Vater eine Schießerei gehabt hatte. Er wolle nur mit ihm reden! Maximilians Zögern hing vielleicht auch mit einem anderen Besuch zusammen, der in der Wohnküche gerade einen Kaffee aufgoss. Es war eine junge Frau, die auch etwas verlegen den Polizisten begrüßte. Als sie die Situation überriss, wollte sie sich verabschieden, aber Max hielt sie zurück - nicht aus Höflichkeit, wie sie gleich erkannte. Die beiden Männer setzten sich und Manja bot ihren Kaffee an. Dann bereitete sie eine weitere Kanne vor und werkelte vor sich hin, so dass sie anwesend, aber nicht am Gespräch teilnehmend war.

„Vielleicht ist es für dich seltsam, dass ich vorbeikomme“, begann der junge Polizeibeamte. „Ich heiße Alexander. Du hast hoffentlich nichts dagegen, dass ich Du zu dir sage…“ Max schüttelte mit dem Kopf. „Wir sind ja im selben Alter“, fuhr der Polizist fort.

„Ich bin der Max“, sagte Maximilian leise und streckte Alexander unbeholfen die Hand hin. Sehr zwiespältig waren seine Gefühle: Die kindliche Angst vor der Polizei hatte er sich bewahrt – im Gegensatz zu vielen anderen jungen Männern. Dann ein schlechtes Gewissen, stellvertretend für seinen kriminellen Vater. Schließlich die Wut auf den Mann, der seinen Vater erschoss. Aber auch die Trauer, die wieder hochkam und der Hass auf seinen Vater – unbewusst auch auf seine eigene Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit vom Vater.

„Ich weiß, das ist nicht einfach für dich. Und für mich auch nicht!“, übernahm Alexander wieder das Wort. Er hatte sich zusammen mit seinem Psychologen auf diese Konfrontation vorbereitet und die wohlgewählten Worte einstudiert. „Aber ich denke, dass es richtig ist, wenn wir einmal miteinander reden. Und für mich ist es nicht nur richtig, sondern auch wichtig!“

Max nickte. „Ist schon okay!“

„Wie geht es dir denn?“, fragte Alexander.

„Geht schon“, antwortete Max.

„Kommst also alleine zurecht?“

„Ich hab ja Unterstützung“, erwiderte Max und schaute lächelnd zu Manja.

„Mein Vater lässt dich grüßen!“, sagte Alexander und Max schaute erstaunt.

Alexander klärte ihn auf: „Der Polizist, der wegen der Asche mit dir zu tun hatte…“

Max nach einigem Zögern: „Ach so, das war dein Vater.“ Langsam wurde es ihm unheimlich. Er begann zu schwitzen.

„Ja“, grinste Alexander, „der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!“ Er bereute diesen Spruch gleich, aber Max schien sich daran nicht zu stören. Er hatte ihn offenbar nicht auf sich bezogen.

„Und wie geht es dir?“, fragte nun Max, der auch einmal die Initiative ergreifen wollte.

„Wieder besser. Hab daran auch sehr geknabbert. Es tut mir Leid, dass das so geendet hat!“

„Kannst ja nichts dafür. Konntest ja nicht anders. Der hat es ja nicht anders gewollt!“

Alexander nickte. Es ging besser als gedacht. „Hast es nicht leicht gehabt mit deinem Vater!“

Max zuckte mit den Schultern. „Man kann sich seine Eltern nicht aussuchen.“

Alexander schaute zu Manja. „Schön, wenn man wieder jemand findet.“

Darauf wollte Max nichts erwidern. Aber Manja meinte schmunzelnd: „Eine Frau im Haus ist doch nie verkehrt!“

Da musste auch Max grinsen. „Sie schimpft mich immer wegen meiner Unordnung!“

Manja gefiel, dass sie ins Gespräch einbezogen wurde. „Schau her!“, wandte sie sich an den Polizisten. „Das hat er wieder angeschleppt.“ Dabei zeigte sie auf einen Kunststoffbehälter, etwas größer als ein Schuhkarton, der auf dem Boden lag. Er enthielt scheinbar nur Gerümpel: Eine schwarze Haarbürste, ein Kartenspiel, eine kleine Luftpumpe, ein blauer Stachelball, ein bunter Stein und eine glitzernde Brosche.

„Wo hast du denn das her?“, fragte Alexander.

Max lachte. „Aus einem Baumstamm!“ Und erklärte, als er Alexanders Stirnrunzeln sah: „Ich arbeite doch in einem Sägewerk. Und da war das in einem Baumstamm versteckt! In so einer Vogelhöhle.“

Alexander schüttelte den Kopf. „Sachen gibt`s!“

„Und schau, das alte Buch war auch dabei!“

Alexander begutachtete den alten Schinken: „Ist wohl aus einem Antiquariat“, kommentierte er. „Ein Kräuterbuch. Ist doch ganz interessant. Lauter schöne Zeichnungen von Pflanzen.“

„Aber schau doch, da ist doch überall reingekritzelt worden!“, bemängelte Manja. „Und so ein Zeug schleppt der Max an!“

The free excerpt has ended.

Genres and tags
Age restriction:
0+
Volume:
230 p.
ISBN:
9783741804236
Publisher:
Copyright holder:
Bookwire
Download format:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip