Medienrezeptionsforschung

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Medienrezeptionsforschung
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Helena Bilandzic

Holger Schramm

Jörg Matthes

Medienrezeptionsforschung

UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz

mit UVK/Lucius · München

Prof. Dr. Helena Bilandzic ist Professorin für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Rezeption und Wirkung an der Universität Augsburg.

Prof. Dr. Holger Schramm ist Professor für Medien- und Wirtschaftskommunikation an der Universität Würzburg.

Prof. Dr. Jörg Matthes ist Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Werbeforschung an der Universität Wien.

Online-Angebote, elektronische Ausgaben sowie zusätzliche Materialien zum Buch sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2015

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Titelfoto: Shutterstock

Druck: fgb freiburger graphische betriebe, Freiburg

UVK Verlagsgesellschaft mbH

Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz · Deutschland

Tel.: 07531-9053-0 · Fax: 07531-9053-98

www.uvk.de

UTB-Band-Nr. 4003

ISBN 978-3-8463-4003-5

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt


Vorwort
1Einführung
1.1Medienrezeptionsforschung als Feld
1.2Wichtige Begriffe
1.3Neue Medienumgebungen, neue Rezeptionsweisen?
1.4Die Auseinandersetzung mit dem Medieninhalt
1.5Zusammenfassung
Zum Weiterlesen
2Verarbeitung von Medieninhalten
2.1Theoretische Grundlagen von kognitiven Prozessen bei der Medienrezeption
2.2Informationsaufnahme: Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
2.3Informationsverarbeitung: Speicherung und Abruf
2.4Erinnerung, Abruf und Vergessen
2.5Zusammenfassung
Zum Weiterlesen
3Selektivität und Gratifikationen
3.1Selektion bei der Medienrezeption
3.2Nutzen- und Belohnungsansatz
3.3Konsistenztheoretischer Ansatz
3.4Zusammenfassung
Zum Weiterlesen
4Interaktivität
4.1Interaktivität bei der Medienrezeption
4.2Verständnisse von Interaktivität
4.3Interaktivität im Rezeptionsprozess
4.4Zusammenfassung
Zum Weiterlesen
5Involvement, Resonanz und Selbstreferenzierung
5.1Involvement
5.2Resonanz und Selbstreferenzierung
5.3Zusammenfassung
Zum Weiterlesen
6Emotion und Stimmung
6.1Grundlagen
6.2Kategorien und Dimensionen von (Medien-)Emotionen
6.3Empathie und Spannung
6.4Emotionale Erregung
6.5Regulation von Stimmungen und Emotionen
6.6Einfluss von Emotionen auf die Verarbeitung von Medieninhalten
6.7Zusammenfassung
Zum Weiterlesen
7Narratives Erleben und Präsenz
7.1Narratives Erleben
7.2Präsenz
7.3Zusammenfassung
Zum Weiterlesen
8Wahrnehmung von Medienfiguren
8.1Grundlagen der Wahrnehmung von Medienfiguren
8.2Parasoziale Interaktionen und Beziehungen mit Medienfiguren
8.3Identifikation mit Medienfiguren
8.4.Sozialer Vergleich mit Medienfiguren
8.5Zusammenfassung
Zum Weiterlesen
9Realitätsbezug und empfundener Realismus
9.1Realitätsbezug des Medienproduktes: Faktualität und Fiktionalität
9.2Empfundener Realismus
9.3Zusammenfassung
Zum Weiterlesen
10Unterhaltung und Rezeptionsvergnügen
10.1Was ist Unterhaltung?
10.2Unterhaltung als Erleben zwischen Überforderung und Langeweile
10.3Unterhaltung trotz Überforderung und Belastung?
10.4Unterhaltung als Meta- bzw. Makroemotion
10.5Die Forschungsansätze zum Meaningful Entertainment
10.6Zusammenfassung
Zum Weiterlesen
11Verarbeitung persuasiver Kommunikation
11.1Grundbegriffe
11.2Heuristische und systematische Informationsverarbeitung
11.3Urteilsbildung während oder nach der Rezeption
11.4Abwehrverhalten bei der Medienrezeption
11.5Zusammenfassung
Zum Weiterlesen
12Soziale Dimensionen der Medienrezeption
12.1Was sind mögliche soziale Dimensionen der Medienrezeption?
12.2Soziale Konstellationen bei der Medienrezeption
12.3Medienrezeption als Folge des sozialen Umfelds
12.4Zusammenfassung
Zum Weiterlesen
13Kulturelle und interkulturelle Dimensionen der Medienrezeption
13.1Medienrezeption als Kulturpraktik
13.2Medienrezeption im interkulturellen Vergleich
13.3Zusammenfassung
Zum Weiterlesen
Literatur
Index

Vorwort

 

Medienrezeption hat viele Gesichter: Ein Leser liest die Tageszeitung, eine Zuschauerin sieht fern, ein User nutzt das Internet und eine Hörerin hört sich eine Sendung im Radio an. Die Trivialität und Alltäglichkeit der Situation lädt zu einer Simplifizierung ein: Es hat den Anschein, als würden die Inhalte, so wie sie angeboten werden, von den Menschen auch genau so aufgenommen, vollständig und auf die Art und Weise, wie der Medieninhalt es nahelegt. Es scheint, als würden die Inhalte von jedem Menschen gleich verstanden und behalten. Das ist ein fundamentaler Irrtum. Dass Menschen Medieninhalte nicht eins zu eins in ihrem Gedächtnis abbilden, dass sie manchen Aspekten Aufmerksamkeit schenken und anderen nicht, dass sie die Inhalte verschieden erleben und bewerten, begründet die Existenz der Medienrezeptionsforschung. Dieses Forschungsfeld untersucht die Prozesse, die während der Zuwendung zu einem Medium ablaufen; es betrachtet und systematisiert dabei die kognitiven, emotionalen und verhaltensbezogenen Aspekte, die zu unterschiedlichen Mustern in der Wahrnehmung, Interpretation und dem Erleben führen.

Die Frage, wie Medieninhalte verarbeitet und erlebt werden, ist nicht nur akademisch und grundlagenwissenschaftlich interessant. Viele Bereiche der Kommunikations- und Medienpraxis können von den Erkenntnissen der Medienrezeptionsforschung profitieren: Im Journalismus ist es etwa hilfreich, die spezifischen Mechanismen der menschlichen Informationsverarbeitung sowie der Aufmerksamkeitslenkung zu kennen, um Nachrichten und Berichte zielgruppenadäquat zu gestalten. In der Werbung ist es wichtig, die emotionalen Reaktionen eines Publikums auf das Produkt und die Werbung zu antizipieren und zu wissen, wann Widerstände bei den Konsumenten zu erwarten sind. Bei der Produktion von Fernsehserien wird interessieren, dass Zuschauerinnen und Zuschauer langdauernde Beziehungen zu Figuren aufbauen und sich Programmloyalität unter anderem aus diesem Umstand erklärt.

Dieses Lehrbuch wendet sich an BA- und MA-Studierende der Medien- und Kommunikationswissenschaft sowie andere interessierte Studierende und Forscherinnen und Forscher. Da die Medienrezeptionsforschung ein relativ junges Forschungsfeld ist, übernimmt dieses Lehrbuch auch die Funktion, das Feld zu strukturieren und eine Orientierung in der weitläufigen Forschungslandschaft zu bieten.

Das Lehrbuch ist in dreizehn Kapitel gegliedert, die die wichtigsten Themen der Medienrezeptionsforschung kompakt und für Einsteiger leicht verständlich darstellen. Die Kapitel sind jeweils Überblicke, die das Feld in seiner Entstehung, seinen Grundzügen sowie der aktuellen Forschung verorten. Zur weiteren Vertiefung sind ausgewählte Literaturhinweise mit Kommentaren angegeben. Übungsaufgaben bieten Wissens- und Transferfragen, die dem Leser und der Leserin zur Kontrolle beim Erkenntnisfortschritt dienen können. Um eine systematische Weiterrecherche zu unterstützen, stellen wir auf der Website www.utb.de/shop eine thematisch sortierte Literaturliste bereit.

Die Entstehung dieses Lehrbuches hat Rüdiger Steiner vom UVK-Verlag tatkräftig unterstützt. Wir danken ihm herzlich für seinen wertvollen Rat und seine Geduld. Unseren Probeleserinnen und -lesern, die das Projekt mit ihrer Expertise und ihrem Feedback weitergebracht haben, gilt ebenfalls besonderer Dank: Freya Sukalla, Prof. Dr. Susanne Kinnebrock und Christian Schwarzenegger. Constanze Küchler, Adina Mutter und Anna Wagner waren uns bei der formalen Bearbeitung der Kapitel eine große Hilfe.

Wir widmen dieses Buch unseren Familien, die dieses Projekt mit Wohlwollen und Toleranz begleitet haben.


Augsburg, Würzburg und Wien im Januar 2015Helena Bilandzicv Holger Schramm Jörg Matthes

1 Einführung

Lernziele

1 Sie lernen die in der Medienrezeptionsforschung untersuchten Phänomene (Verarbeitung und Erleben) kennen.

2 Sie können die Medienrezeptionsforschung in der Kommunikationswissenschaft verorten und von anderen Traditionen der Forschung zu den Medienrezipierenden unterscheiden.

3 Sie verstehen die Charakteristika der Auseinandersetzung mit einer Medienbotschaft (subjektive Interpretation, Zeit, Intensität und Beschaffenheit).

1.1 Medienrezeptionsforschung als Feld

1.1.1 Reichweite der Medienrezeptionsforschung

Es ist schwer, sich unsere heutige Welt ohne Medien vorzustellen: Das Angebot an traditionellen Massenmedien wie Fernsehen, Hörfunk und Zeitungen ist ungeheuer vielfältig; das Internet sorgt dafür, dass Inhalte aus diesen traditionellen Massenmedien sowie von den Usern generierter Inhalt überall und jederzeit verfügbar sind. Die Medienrezeptionsforschung widmet sich der Frage, wie diese Medien und Medieninhalte von Menschen verarbeitet und erlebt werden.

Definition: Medienrezeptionsforschung

Die Medienrezeptionsforschung untersucht Verarbeitung und Erleben von Medien und medienvermittelten Inhalten.

Die folgenden Fragestellungen sind typisch für die Rezeptionsforschung:

 Was verstehen Zuschauerinnen und Zuschauer von einer durchschnittlichen Sendung der Tageschau?

 Wann denken Zuschauerinnen und Zuschauer, dass Sendungen wie CSI der Realität entsprechen?

 Warum haben Leserinnen und Leser Mitleid mit Harry Potter, der doch eindeutig nicht wirklich existiert?

 Warum fühlen sich manche Menschen von Germany’s Next Top Model unterhalten, andere nicht?

 Warum trauern Menschen, wenn eine beliebte Serienfigur in einer Serie stirbt?

 

 Lesen Eltern Zeitungsartikel zur frühkindlichen Bildung anders als Nicht-Eltern?

 Warum mögen nicht alle Männer Sportberichterstattung und warum nicht alle Frauen romantische Komödien?

Derartige Fragestellungen kann man mit den zwei Prozessen, die wir oben bereits genannt haben, beschreiben: Verarbeitung und Erleben beziehen sich auf die kognitive, emotionale und verhaltensbezogene Aktivität von Rezipierenden, die auf einen bestimmten Medientext gerichtet ist.

Definition: Medientext

Medientext wird hier umfassend gebraucht als medialer Inhalt mit seinen spezifischen formalen Merkmalen (etwa Fettdruck oder grafische Elemente in der Zeitung, Schnittfolge oder Animationen im Fernsehen), unabhängig davon, ob es sich um eine textliche, visuelle, auditive oder audio-visuelle Vorlage handelt.

Definition: Rezipient und Rezipientin/Rezipierende

Rezipierende sind Personen, die aktuell einen Medientext verarbeiten, und ihn auf eine bestimmte Weise erleben.

Verarbeitung bezeichnet die mentalen Vorgänge, die im Menschen ablaufen, wenn er oder sie sich einem Medientext widmet. Hier spielen Aufmerksamkeit, bestehendes Wissen, die interpretative Transformation und Speicherung medial vermittelter Informationen eine Rolle. Diese Fragen werden in Kapitel 2, Verarbeitung von Medieninhalten, behandelt und werden auch in den Kapiteln zum Erleben (s. u.) immer wieder thematisiert.

Erleben beschreibt die Art und Weise, wie ein Medientext empfunden und interpretiert wird und welche Erlebnisse er den Rezipierenden ermöglicht. Dies ist der größte Bereich der Rezeptionsforschung und umfasst die meisten Kapitel in unserem Buch. In diesem Bereich besprechen wir,

 wann Rezipierende Verbindungen zwischen sich und dem Medientext herstellen können (Kapitel 5: Involvement, Resonanz und Selbstreferenzierung),

 wie Medientexte Emotionen ansprechen (Kapitel 6: Emotion und Stimmung),

 wie Rezipierende sich in Medientexte vertiefen und die Vermittlung durch ein Medium ausblenden (Kapitel 7: Narratives Erleben und Präsenz),

 wie Rezipierende Medienfiguren erleben (Kapitel 8: Wahrnehmung von Medienfiguren),

 unter welchen Umständen Medientexte als realistisch empfunden werden, sogar dann, wenn sie fiktional sind (Kapitel 9: Realitätsbezug und empfundener Realismus),

 wie das Gefühl der Unterhaltung zustande kommt (Kapitel 10: Unterhaltung und Rezeptionsvergnügen),

 wie Menschen Medientexte verarbeiten, die sie von einer bestimmten Meinung überzeugen oder zu einem bestimmten Verhalten bewegen wollen (Kapitel 11: Verarbeitung persuasiver Kommunikation), und

 wie soziale Dimensionen der Medienrezeption aussehen können (Kapitel 12: Soziale Dimensionen der Medienrezeption).

Dem Verarbeiten und Erleben ist die Auswahl dessen vorgelagert, was rezipiert werden soll. Selektion bezeichnet die Auswahl eines Mediums oder einer Medienbotschaft. Ein Mensch kann etwa zwischen den verschiedenen Medientypen Fernsehen, Hörfunk, Zeitung und Internet auswählen; zwischen verschiedenen Medienprodukten (z. B. ARD und ZDF oder Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine Zeitung), zwischen inhaltlichen Angeboten (in der Zeitung: Nachricht, Glosse, Kommentar; im Fernsehen: Nachricht, Film, Dokumentation) oder die Aufmerksamkeit auf verschiedene Informationen innerhalb eines konkreten Angebotes richten (vgl. Donsbach, 1989). Modelle, die Selektion und Gründe der Selektion darstellen, werden in Kapitel 3 (Selektivität und Gratifikationen) besprochen; Selektivität in digitalen, interaktiven, partizipativen Medienumgebungen wird auch Gegenstand von Kapitel 4 (Interaktivität) sein.

Der Schwerpunkt dieses Lehrbuches liegt auf den psychischen Prozessen und dem subjektiven Erleben von Individuen, die wir als Basis für weitergehende Prozesse der Wirkung betrachten; im individuellen Erleben manifestieren sich jedoch auch kulturelle Aspekte, und das Erleben ist umgekehrt ebenfalls von diesen beeinflusst. Was es bedeutet, Kultur als Faktor und Bedingung der Rezeption einzubeziehen, werden wir in Kapitel 13 (Kulturelle und interkulturelle Dimensionen der Medienrezeption) besprechen.

1.1.2 Verortung in der Kommunikationswissenschaft

Die Kommunikationswissenschaft gliedert sich klassisch nach den Elementen des Kommunikationsprozesses, die in einer eingängigen und vielzitierten Formulierung von Harold Lasswell (1948) zu finden sind: »who says what to whom in what channel with what effect«. Maletzke (1963, S. 35 f.) reduziert die Elemente auf folgende vier, die jeweils mit den großen Forschungsfeldern der Kommunikationswissenschaft verknüpft sind (vgl. Pürer, 2014, S. 109):

1 Der Bereich Sender untersucht Prozesse der Produktion und des Zustandekommens medialer Botschaften. Er findet sich in der Kommunikator- oder Journalismusforschung wieder (vgl. Maier, Stengel & Marschall, 2010; Neuberger & Kapern, 2013).

2 Der Bereich Inhalt verweist auf die Medieninhaltsforschung, die die Aussagen selbst sowie Muster darin betrachtet, etwa zu Gewalt, Nachrichten oder sozialen Rollen (vgl. Bonfadelli, 2002; Maurer & Reinemann, 2006).

3 Der Bereich Medium findet sich in Feldern wie etwa der Mediensystemforschung, Medienpolitik oder Medienökonomie wieder und untersucht Bedingungen, Struktur und Funktionsweisen von Mediensystemen (vgl. Beck, 2012; Puppis, 2010; Pürer & Raabe, 2007; Stöber, 2013).

4 Der Bereich Empfänger schließlich fragt danach, was Rezipierende oder das Publikum mit den Inhalten machen. Hier ist die Erforschung von Nutzung, Rezeption und Wirkung verortet. Dies müssen wir freilich etwas näher betrachten, wollen wir Rezeption als Phänomen und als Forschungsgebiet von den anderen Optionen im Bereich Empfänger abgrenzen.

Die Erforschung der Mediennutzung erfolgt zum einen theoretisch fundiert als Grundlagenforschung und zum anderen in einem angewandten, größtenteils kommerziellen Kontext. Mit einem Grundlageninteresse betrachtet man theoriegeleitet Nutzungsmuster von Rezipierenden, etwa ihre Medienrepertoires, crossmediale Nutzung, mobile Nutzung oder simultane und aufeinander bezogene Nutzung (in etwa abgedeckt von der strukturellen Perspektive bei Schweiger, 2007, S. 222 ff.). Zur Nutzungsforschung gehört auch die Einbindung von Medien in den Alltag, etwa in der Domestizierungsforschung (vgl. Hartmann, 2013; Röser & Peil, 2012) oder die Erforschung von Mediengewohnheiten (vgl. Naab, 2013).

Die Media- und Reichweitenforschung ist ein angewandtes Forschungsgebiet, das Daten zur Mediennutzung zum Zwecke der Planung und Vermarktung von Werbezeiten und -raum bereitstellt (Reichweitenforschung) und der Entwicklung und Optimierung von Medienprodukten dient (Mediaforschung) (vgl. Schweiger, 2007, S. 36 f.). Das Gebiet liefert wertvolle Basisdaten auch für die akademische Forschung (vgl. Frey-Vor, Siegert & Stiehler, 2008; dazu auch Meyen, 2004).

Die Wirkungsforschung erklärt individuelle und soziale Folgen von Massenkommunikation, z. B. Wissenszuwachs, Veränderung von Einstellungen, Einfluss auf Werte und Normen sowie Verhaltensänderungen (vgl. Bonfadelli & Friemel, 2011; Bryant & Oliver, 2009; Schenk, 2007). Dieses Gebiet ist mit der Medienrezeptionsforschung, wie wir sie in diesem Buch vertreten, verwandt. Das erkennt man zum Beispiel daran, dass Lehrbücher der Wirkungsforschung auch Kapitel zur Rezeption enthalten (vgl. Bonfadelli & Friemel, 2011; Schenk, 2007). Auch die wissenschaftliche Community fusioniert diese beiden Gebiete oft: Die Deutsche Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft hat eine Fachgruppe Rezeptions- und Wirkungsforschung, die International Communication Association hat eine Fachgruppe für Mass Communication, in der Rezeption und Wirkung (von Massenmedien) gleichermaßen vertreten sind. Schließlich ist auch inhaltlich die Abgrenzung schwierig, weil viele Wirkungstheorien explizit Prozesse der Rezeption zur Erklärung der Wirkung miteinbeziehen – es ist nachgerade Kennzeichen einer gereiften Wirkungsforschung, Rezeptionsprozesse zu berücksichtigen. Die Rezeptionsforschung hat sich im letzten Jahrzehnt jedoch als ein eigenständiges Forschungsgebiet herauskristallisiert, das sich nur den Phänomenen der Verarbeitung und des Erlebens widmet, ohne weitergehende Wirkungen zu betrachten. Dadurch wird ein Korpus von Wissen generiert, der mit einer Nebenbei-Betrachtung in der Wirkungsforschung nicht möglich wäre, aber durchaus wichtige Konsequenzen für diese beinhaltet.

Es mag merkwürdig anmuten, dass so viele Forschungsgebiete einer Disziplin um die Nutzung kreisen. Von außen betrachtet, ist der Akt der Nutzung immer gleich: Jemand sitzt zum Beispiel vor dem Fernseher und sieht Nachrichten. Das ist die Situation, die die Rezeptionsforschung, Nutzungsforschung, Mediaforschung und Wirkungsforschung gleichermaßen interessiert. Der Blickwinkel ist jedoch entscheidend, um die Zugehörigkeit zu einem Forschungsfeld zu bestimmen: Man kann etwa einfach nur feststellen, dass die ARD um 20 Uhr eingeschaltet ist (wie man es in der Reichweitenforschung macht); man kann beobachten, dass die Zuschauerin parallel zur Tagesschau ihre Facebook-Seite aktualisiert (Nutzungsforschung); man kann herausfinden, dass die Zuschauerin keinen Bezug von den außenpolitischen Themen zu sich selbst herstellen kann (Rezeptionsforschung); schließlich kann man untersuchen, wie viele Themen aus der Sendung sich die Zuschauerin gemerkt hat (Wirkungsforschung). Ein und derselbe Akt – und ganz unterschiedliche Blickwinkel darauf. Das ist die Eigenart der wissenschaftlichen Perspektive auf mediale Kommunikation: Hinter jeder Fragestellung steht eine bestimmte Perspektive, eine bestimmte Frage, ein Erkenntnisinteresse, das mit einem bestimmten Forschungsfeld assoziiert ist. Je nachdem, wie die wissenschaftliche Perspektive beschaffen ist, werden auch die Erkenntnis und die empirische Beobachtung anders ausfallen. Das erklärt, warum der Akt der Nutzung in den verschiedenen Feldern Mediaforschung, Nutzungsforschung und Rezeptionsforschung im Zentrum des Interesses steht – und doch nicht zu den gleichen Erkenntnissen führt.

Wie bereits dargestellt, liegen die Anfänge der Rezeptionsforschung noch nicht weit zurück. Am Anfang des 20. Jahrhunderts, als sich die Kommunikationswissenschaft als eigenständige Disziplin zu behaupten begann, gab es nur vereinzelte Studien, die sich (ausschließlich) mit Rezeption beschäftigten. Beispiele dafür lassen sich in der Forschung von Lazarsfeld und Herzog (vgl. Herzog, 1941; Lazarsfeld, 1940) zum Radio finden (vgl. Kasten »Die Studie«). Erst in den 1970ern rückten Rezeptionsphänomene stärker in den Fokus der kommunikationswissenschaftlichen Community, als sich die Uses-and-Gratifications-Forschung (vgl. Kapitel 2) mit ihrer zentralen Frage nach dem Nutzen der Medien für das Publikum etablierte. Diese Richtung wurde abwechselnd als Gegenrichtung zur Wirkungsforschung (Paradigmenwechsel) (vgl. Blumler, 1979; Katz, Blumler & Gurevitch, 1973) und als Teil davon behandelt (etwa in Lehrbüchern, vgl. Schenk, 2007), konnte aber noch kein eigenes Unterfeld der Rezeptionsforschung begründen. Dies änderte sich mit zwei Entwicklungen: Ab den 1980er- und 1990er-Jahren erstarkte die psychologisch orientierte Richtung innerhalb der Kommunikationswissenschaft, die sich mit dem Erleben von Medien (z. B. verkörpert durch Dolf Zillmann mit seiner Forschung zur Stimmungsregulierung und zur Spannung, vgl. Zillmann, 1980, 1988) und der Informationsverarbeitung (z. B. verkörpert durch Annie Lang und ihre Kollegen, vgl. Lang, 2000) befasste. Rezeptionsforschung hat dementsprechend große Überlappungsbereiche mit der Medienpsychologie, da beide Gebiete sich mit dem Erleben und der Verarbeitung auseinandersetzen; die Rezeptionsforschung hat jedoch durch ihre zahlreichen interdisziplinären Einflüsse, die auch für die Kommunikationswissenschaft insgesamt charakteristisch sind, eine breitere Ausrichtung. Die zweite Entwicklung war die kulturelle Wende in der Kommunikationswissenschaft, die eine kritische und kulturorientierte Forschungsrichtung hervorbrachte, die sich dezidiert gegen den Gedanken mechanistischer Medienwirkungen wandte und sich aus kultureller Sicht mit Nutzung und Rezeption beschäftigte (vgl. z. B. Hall, 2007, orig. 1973).

Beispielstudie

Herta Herzog (1941). On borrowed experience. An analysis of listening to daytime sketches. Zeitschrift für Sozialforschung (Studies in Philosophy and Social Science), 9, 65–95.

Verdienste: Herta Herzog arbeitete in einer Gruppe um Paul F. Lazarsfeld an einem Forschungsprogramm zum Radio in den USA, das Anfang des 20. Jahrhunderts seinen Aufschwung als Unterhaltungs- und Bildungsmedium nahm (vgl. Lazarsfeld, 1940). Das Forschungsprogramm beschäftigte sich insbesondere mit dem Radiopublikum – seinen Vorlieben und Gewohnheiten, seinem Umgang mit dem Medium und den Motivationen, Radio zu nutzen, sowie den Effekten, die Radioprogramme auf das Publikum haben. Herzogs Studie war eine der ersten, die sich den Motivationen widmete, die Menschen zur Nutzung populärer Medienprodukte veranlassen (neben der Studie von Lazarsfeld und Herzog zur erfolgreichen Radio-Rateshow Professor Quiz, vgl. Lazarsfeld, 1940, S. 64 ff.). Die Studie von Herzog wird als Vorläuferin der 20 Jahre später entstandenen Uses-and-Gratifications-Forschung gesehen.

Ziele: Die Studie erforscht die Bedeutung von Radio-Seifenopern für regelmäßige Hörerinnen und untersucht, welche Motive zur Nutzung sie haben, und wie sie das Gehörte mit ihrem Alltag verbinden.

Aufbau: 100 Frauen, die mindestens zwei Seifenopern regelmäßig verfolgen, wurden in einem persönlichen Interview befragt. Die Stichprobe wurde nach Alter und Einkommen variiert; die meisten waren Hausfrauen.

Methode: Die ersten 20 Interviews wurden offen geführt und dienten zur Entwicklung eines Fragebogens, mit dem die restlichen 80 Interviews dann durchgeführt wurden. Der Fragebogen deckte die Hörgewohnheiten, beliebte Themen und Sendungen ab, enthielt eine Motivliste für die Nutzung der Seifenopern und verglich die Beliebtheit von Radio im Vergleich zu Kino und Zeitschrift. Zudem wurde auch eine Reihe von Fragen zum Inhalt der Sendungen gestellt, etwa nach Ereignissen, die den Hörerinnen gut gefallen oder nicht gefallen haben, nach der Alltagsnähe und -relevanz. Neben den standardisierten Fragen konnten die Interviewer auch Kommentare der Befragten offen notieren.

Ergebnisse:

 Nur wenige Hörerinnen nutzen die Programme, weil sie nichts anderes zu tun hatten; vielmehr wird eine recht gezielte Nutzung deutlich, bei der die Frauen ihren Tagesablauf so gestalten, dass sie die Programme hören können.

 Die Sendungen werden mit dem eigenen Leben verknüpft und entsprechend der eigenen Erfahrungen und Lebenssituation interpretiert.

 Drei Arten von Gratifikationen, die die Hörerinnen für die Nutzung der Sendungen angeben, werden deutlich: 1. Die Sendungen bieten emotionale Erleichterung, indem sie ihren Hörerinnen eine Gelegenheit geben, Gefühle zu empfinden, die in ihrem Leben sonst keinen Platz haben, und ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen (vgl. »chance to cry«, S. 70). 2. Uminterpretation des eigenen Lebens: Die Sendungen erlauben es, andere Schicksale stellvertretend zu erleben und somit die eigenen Probleme zu vergessen, glückliche (fiktionale) Momente auszukosten und empfundene Unzulänglichkeiten des eigenen Lebens zu kompensieren. 3. Lebenspraktische Hilfe: Die Sendungen bieten ihren Hörerinnen Erklärungen und Ratschläge für alltägliche Vorgänge und Phänomene an und können die Welt weniger bedrohlich erscheinen lassen.

1.2 Wichtige Begriffe

1.2.1 Kommunikation

Medienrezeptionsforschung setzt sich also mit der Verarbeitung und dem Erleben von Medien und medienvermittelten Inhalten auseinander. Die Rezeption ist in einen umfänglicheren Prozess der Kommunikation eingebunden – was aber ist Kommunikation?

Kommunikation ist nur in einem ganz technizistischen Sinne die Übertragung von Information (vgl. Sullivan, 2013, S. 3). Man kann durchaus erwarten, dass ein E-Mailprogramm alle eingespeisten Informationen vom Sender-Server zum Empfänger-Server überträgt. Bei Menschen, die auf der einen Seite Bedeutung in Botschaften packen und auf der anderen Seite Botschaften durch Bedeutung verstehen, kann man nicht von einer Übertragung sprechen: Es ist schließlich nicht gesagt, dass die intendierte Bedeutung auch wirklich beim Empfänger ankommt (in diesem Sinne also übertragen wird). Eine Sichtweise, die die Bedeutungen stärker in den Vordergrund stellt, ist hier angebrachter: Kommunikation wird als »Bedeutungsvermittlung zwischen Lebewesen« (Maletzke, 1963, S. 18, kursiv im Orig.) gesehen. Stöber identifiziert drei Randbedingungen für Kommunikation zwischen Menschen, die die bedeutungsorientierte Sichtweise gut illustrieren (vgl. Stöber, 2008, S. 45 f; ähnlich auch Pürer, 2014, S. 66 f.):

1 Kommunikation ist intentional, das heißt, sie ist ein sinnvolles, mit einem subjektiven Sinn ausgeführtes Handeln – es verfolgt also einen bestimmten Zweck;

2 Kommunikation ist reflexiv, also auf andere Menschen bezogen und ihre Reaktionen antizipierend;

3 Kommunikation ist vermittelt durch abstrakte Symbole, die auf Bedeutungskonventionen beruhen und in einer Sprachgemeinschaft gültigen Regeln folgen.

Die Kommunikationswissenschaft setzt sich – obwohl der Name es nahelegen würde – nicht mit allen Formen der Kommunikation auseinander. Es geht meist um eine medienvermittelte Kommunikation, die die oben genannten Randbedingungen auf charakteristische Weise einschränkt.

1.2.2 Medien

Wir sind so selbstverständlich von Medien umgeben und haben ihre Präsenz derart verinnerlicht, dass wir zu wissen scheinen, was der Begriff bedeutet. Was trivial erscheint, ist natürlich zu hinterfragen und verdient einen genauen und neugierigen Blick. Pürer (vgl. 2014, S. 68 f.) unterscheidet in Anlehnung an Harry Pross zwischen primären, sekundären und tertiären Medien:

 Primäre Medien umfassen die menschliche Sprache sowie nicht-sprachliche Mittel der Kommunikation, die vom Menschen ausgehen, etwa Mimik, Gestik und Körperhaltung. Primäre Medien vermitteln Bedeutung zwischen Menschen, die miteinander in direktem Kontakt stehen und keiner technischen Übermittlung bedürfen.

 Sekundäre Medien konservieren Bedeutung über den persönlichen Kontakt hinaus; sie erfordern eine technische Ausstattung auf Seiten des Kommunikators, nicht aber auf Seiten des Rezipienten – Schrift und Druck sind Beispiele dafür.

 Tertiäre Medien vermitteln Kommunikationsvorgänge, die sowohl beim Kommunikator als auch beim Rezipienten technischer Vermittlung bedürfen: Hierzu zählen elektronische und digitale Massenmedien, aber auch Mittel der Individualkommunikation wie etwa das Telefon oder E-Mail.

Die Kommunikationswissenschaft beschäftigt sich vorwiegend mit den Prozessen, in die tertiäre Medien involviert sind – das schließt aber kommunikative Vermittlung durch Sprache und Schrift natürlich ein. Demnach sind auch in der Rezeptionsforschung vor allem die Prozesse relevant, die rund um das Rezipieren von Kommunikation erfolgen, welche durch tertiäre Medien vermittelt ist.

Damit zusammen hängt der Vermittlungsmodus (vgl. Stöber, 2008, S. 40): Ein One-to-One-Vermittlungsmodus entspricht der typischen Situation in der Face-to-Face-Kommunikation (dem Gespräch von Angesicht zu Angesicht) oder auch dem Telefonat. Der One-to-Many-Modus ist die typische Situation in der Massenkommunikation (unten mehr dazu), in der z. B. professionelle Kommunikatoren einen Inhalt für viele Menschen produzieren. Schließlich ist der Modus Many-to-Many der typische Fall der vernetzten, partizipativen Kommunikation, bei der viele Menschen zu einem Inhalt (z. B. einem Wiki-Eintrag) beitragen, der wiederum einem größeren Personenkreis zugänglich ist.